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Der Mann mit den Fischen

In einem kleinen Kaffeehaus in X… an der X… wartete ein kleiner Mann, bis der Regen zu Ende, und ich, bis mein Auto wieder in Ordnung sei. Von Zeit zu Zeit schob einer von uns den Vorhang beiseite und betrachtete die abfallende Dorfstraße, das Katzenkopfpflaster, das im Regen bläulich schimmerte, ein zartgrünes Gärtchen, auf das der Guß herabprasselte, einen Bach, der Fliederblüten davontrug … Und wir seufzten beide. Schließlich sagte er zu mir:

»Herrliches Wetter für eine Matinee. An so einem Sonntag nehmen die Folies-Bergère in Paris mindestens siebentausend Francs ein.«

Erstaunt betrachtete ich den kleinen Mann und entdeckte, daß er nichts Bäuerliches an sich hatte, auch daß eine abgenützte Reisetasche neben seinem Stuhl stand. Er lächelte mit einem seltsam häßlichen Mund. Ein blau-roter, schlaffer Mund war es. Das ganze lächelnde Gesicht mit den rotgesprenkelten Augäpfeln und den angeschwollenen Lippen sah so aus, als hätte der Mann eben heftig geweint. Er war offenbar glücklich, sprechen zu können, wollte gern seine fettige Stimme hören, seine gewandte, ein wenig heisere Marktschreierstimme:

»Ich warte auf den Halb-sechs-Uhr-Zug, der um sieben in Z… ist. Dorthin will ich nämlich. Übrigens könnte mein Gepäck ruhig naß werden …«

Er warf einen Blick auf seine Reisetasche, neigte sich dann nach der anderen Seite zu einem unsichtbaren Gepäckstück hinab, hob es in die Höhe und stellte es auf den Tisch: ein Glaseimer, in dem drei Goldfische umherschwammen.

»Das sind meine Fische«, erklärte er.

Napoleon hätte nicht mit solchem Nachdruck: »Meine Soldaten!« gesagt. Und mich durchfuhr plötzlich der Gedanke, daß doch eigentlich alle Narren gefährlich sind.

Der kleine Mann schwieg einige Augenblicke, als ob er sich meines Unbehagens freue. Dann hob er wieder an:

» Meine Fische, Madame! Sie gehören mir, sie könnten mir nicht mehr gehören, als sie es tun. Sie kennen mich inwendig ebenso gut wie von außen, sie wissen, wie ich beschaffen bin. Und das hat seinen guten Grund: Ich verschlucke sie nämlich durchschnittlich zweimal am Tage.«

»Was tun Sie mit Ihnen?«

»Ich verschlucke sie, Madame. Aber haben Sie keine Sorge, ich gebe sie wieder von mir! … Ich bin Artist«, fügte er leiser hinzu, im bescheiden nachgiebigen Ton eines großen Mannes, der sein Inkognito lüftet. »Ich verschlucke meine drei Fische und gebe sie lebend wieder von mir, nachdem ich sie eine halbe Stunde im Magen behalten habe. Sie brauchen zwei Liter Wasser. Die verschlucke ich ihretwegen ebenfalls. Ich könnte sie sogar noch länger bei mir behalten, aber da würde das Publikum ungeduldig werden. Außerdem haben Goldfische die Dunkelheit nicht gern. So, wie Sie mich hier sehen, wandere ich mit meinen Fischen von Stadt zu Stadt, und zwar sind es seit drei Jahren immer dieselben, Madame.

Früher bin ich in Varietés aufgetreten. Ich war in Lyon, in Bordeaux, überall. Aber schließlich ist es mir zu dumm geworden, daß die Direktoren durch mich ein Vermögen verdienten – Sie müssen bedenken, eine auf der Welt einzig dastehende Nummer! – Und da habe ich mich selbständig gemacht. Ich komme weit herum, lerne allerlei kennen und lasse mir Zeit. Meine Reisetasche in der einen Hand, meine Fische in der anderen. Wenn ich in einer Stadt ankomme, erkundige ich mich nach dem bestbesuchten Café. Zwei Plakate an den Fensterscheiben, wenn nötig eine Ankündigung durch einen Trommler in den Straßen, und ich trete auf. Ich verschlucke meine zwei Liter Wasser und dann, schwupp! … meine drei Fische, als wären es drei Erdbeeren. Eine halbe Stunde lang unterhalte ich das Publikum mit allerlei Taschenspielerkünsten, kleinen Dummheiten, Kartenkunststücken, und dann zum festgesetzten Zeitpunkt, sind hup! … meine Fische unverändert wieder da! Darauf gehe ich beim Publikum sammeln, und ich versichere Ihnen, daß ich mit Leichtigkeit fünfzehn bis zwanzig Franken einnehme. Was sagen Sie dazu? … Wie jeder andere auch, sind Sie platt vor Staunen, wie?«

»Ich muß gestehen, daß …«

Ohne Worte zu finden, betrachtete ich die drei umherschwimmenden Fische, den blauroten Mund mit den weichen Lippen, dann wieder die Fische und aufs neue den Mund …

»Und nun will ich Ihnen etwas erzählen, was Sie in noch größeres Erstaunen versetzen wird«, fuhr der Artist fort.

»Aber … ich möchte Sie nicht aufhalten … Ihr Zug …«

»Ich habe Zeit, ich habe Zeit! Der Bahnhof ist nur zwei Schritt von hier, und außerdem scheint schon wieder die Sonne. Etwas höchst Erstaunliches will ich Ihnen erzählen: Mein Magen, Sie verstehen, mein Magen, gehört nach meinem Tode der medizinischen Fakultät. Ich habe ihn ihr verkauft! Zum Beweis …«

Er knöpfte seinen Überzieher auf und holte eine grüne Brieftasche hervor, die ein Kleeblatt aus falschen Rubinen zierte.

»Sehen Sie, hier ist das Schriftstück. Schauen Sie sich alles gut an, die Stempel, die Überschrift. Dieses Dokument lasse ich nach meiner Vorführung beim Publikum herumgehen. Für zwei Sous pro Person. Aber bitte, wir hier sind ja Reisegefährten … Es handelt sich bei mir um eine Magentasche«, fuhr der kleine Mann in seinem marktschreierischen Ton fort, »eine Magentasche, deren Vorhandensein durch eine Röntgenaufnahme festgestellt worden ist. Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, erfreue mich einer vortrefflichen Gesundheit und kann alles essen, auch die schwersten Dinge. Unter einer Bedingung: daß ich nämlich nur eine Mahlzeit am Tage einnehme.«

»Ah! Sie nehmen nur eine …«

»Eine einzige! Begreiflicherweise«, flüsterte der Artist mit unausstehlichem Lächeln. »Sie können sich doch denken, wenn ich nicht …«

»Ja, ja!« rief ich, »ich verstehe. Sie brauchen nichts weiter zu sagen! …«

Er lachte, nickte mir freundlichst zu und entfernte sich, in der einen Hand seine Reisetasche, in der anderen den Eimer voll trüben Wassers. Und ich blieb allein in dem kleinen Café sitzen, vor meinem Glas Bier, in dem ich zu meinem Ärger immerfort drei Goldfische umherschwimmen sah …


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