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Lola

Jeden Abend hörte ich von meiner Garderobe aus auf den Eisenstufen, die zur Bühne führten, das Ticktack schwerer Krücken. Doch war im Programm keine Nummer zu finden, von der man hätte vermuten können, es träte darin ein Krüppel auf … Ich öffnete meine Tür und sah ein kleines Pony mit geschickten unbeschlagenen Hufen die Treppe ersteigen. Ihm folgte, hart auftretend, ein weißer Esel, dann eine gefleckte dänische Dogge mit großen, weichen Pfoten, schließlich ein gelblichweißer Pudel und etliche Foxterriers.

Eines der Tiere wurde von der rundlichen Wienerin, die den »Miniaturzirkus« leitete, stets selbst die Treppe hinaufgeführt: Der kleine Bär, der sich jeden Abend widerspenstig und verzweifelt zeigte, sich an die Stufen der eisernen Treppe klammerte und leise stöhnte wie ein Kind, das in die Ecke gestellt werden soll. Dann kamen zwei Affen, mit bunten Seidenfalbeln und Pailletten herausgeputzt; sie stanken wie ein schlecht gehaltener Hühnerstall. Alle stiegen unter erstickten Seufzern, verhaltenem Brummen und leisen Flüchen hinauf zur täglichen Arbeit.

Oben, wo sie gefesselt und fügsam, den Augenblick des Auftretens erwarteten, wollte ich sie nicht mehr sehen. Der Anblick ihrer Resignation war mir unerträglich geworden. Ich wußte zur Genüge, daß das Pony, von Sprungzügeln gehemmt, immer wieder vergebens den Kopf zurückzuwerfen versuchte und abwechselnd bald das eine, bald das andere Vorderbein vorschnellte. Ich wußte, daß einer der Affen, melancholisch und schwach, sein Köpfchen mit kindlicher Bewegung auf die Schulter des Gefährten legte und dabei die Augen schloß; daß die dumme dänische Dogge finster und starr vor sich hinblickte, der alte Pudel in seniler Freundlichkeit mit dem Schwanz wedelte, und der Bär, ach, der kleine Bär, den Kopf in beide Pfoten nahm und leise jammerte und weinte, weil ein ganz dünner Riemen, um seine Schnauze geschnürt, ihm fast die Lippe zerschnitt.

Am liebsten hätte ich die bejammernswerte Gruppe vergessen, die da, mit weißem Leder, Schellen und Bändern herausgeputzt, wartete, vergessen die keuchenden Kehlen, die rauhen Atemzüge der hungrigen Tiere. Ich wollte den Schmerz, den ich nicht lindern konnte, nicht mehr sehen, nicht mehr beklagen. Ich blieb unten – mit Lola.

Lola kam nicht gleich zu mir. Sie wartete, bis der dumpfe Lärm des Aufstiegs verstummte, bis das weiße Hasenhinterteil des letzten Foxterriers um die Biegung der Wendeltreppe verschwunden war. Dann stieß sie mit der Spitze ihrer geschickten Schnauze meine angelehnte Tür auf.

Sie war so schneeweiß, daß meine schmutzige Garderobe heller wurde, wenn sie hereinkam. Ein langgestreckter Windhundkörper, Nacken, Gelenke, Schenkel und Schweif mit gewellten silbrigen Haaren bedeckt, die wie gesponnenes Glas glänzten. Sie kam herein und blickte mich mit ihren vom Braun ins Orange spielenden Augensternen an. Die seltene Farbe ihrer Augen allein hätte genügt, mich zu rühren. Ihre trockene, rosige Zunge hing ein wenig heraus, und sie röchelte leise vor Durst … »Gib mir zu trinken … Gib mir zu trinken, obgleich es verboten ist … Meine Gefährten da oben haben auch Durst, man darf vor der Arbeit nicht trinken … Du aber, du gibst mir zu trinken, nicht wahr?« …

Sie leckte lauwarmes Wasser aus der blechernen Waschschüssel, die ich zuvor ausgespült hatte. Sie leckte es mit einer Vornehmheit, die, wie alle ihre Bewegungen, affektiert schien, und ich schämte mich vor ihr wegen des abgesprungenen Emails der Schüssel, des eingebeulten Waschkruges und der fettig-schmutzigen Wand, an die zu streifen sie vermied …

Während sie trank, betrachtete ich ihre flügelförmigen kleinen Ohren, ihre Pfoten, hart wie die eines Hirsches, ihre mageren Lenden und ihre schönen Krallen, die ebenso weiß waren wie ihr Fell …

Nachdem sie sich satt getrunken hatte, wandte sie ihre keusche, spitze Schnauze von der Schüssel ab, mir zu, und ließ ihren Blick eine kleine Weile auf mir ruhen. Ich konnte nichts anderes aus ihren Augen lesen als eine leise Besorgnis, eine Art schüchterner Bitte … Dann stieg sie allein die Treppe zur Bühne hinauf. Ihre Arbeit dort beschränkte sich übrigens auf eine ehrenvolle Figurantentätigkeit, auf einige Barrieresprünge, die sie elegant und mit verhaltener, lässiger Kraft ausführte. Das Rampenlicht ließ das Gold ihrer Augen heller schimmern, auf jedes Peitschenknallen antwortete sie mit einer nervösen Grimasse, einem drohenden Lächeln, das ihr rosiges Zahnfleisch und ihre prächtigen Zähne enthüllte.

Während nahezu eines ganzen Monats verlangte sie nichts weiter von mir als das fade laue Wasser aus der Emailschüssel. Jeden Abend sagte ich ohne Worte zu ihr: »Nimm. Ich würde dir gerne alles geben, was dir zukommt. Denn du hast mich erkannt, du hast von mir zu trinken verlangt, du, die du mit niemandem sprichst, nicht einmal mit der Wienerin, deren Patschhand dir energisch ein blaues Band um den Schlangenhals windet …«

Am neunundzwanzigsten Tag küßte ich die Hündin bekümmert auf die seidige, flache Stirn. Und am dreißigsten Tag … kaufte ich sie.

»Schön, aber nicht gelehrig«, vertraute mir die Dame aus Wien an. Sie zwitscherte Lola zum Abschied österreichisch-ungarische Zärtlichkeiten zu. Die Hündin stand ernst neben mir und blickte ein wenig schielend vor sich hin. Dann ergriff ich die herabhängende Leine und ging mit ihr fort. Die langen, spindeldünnen Beine mit den weißen Krallen paßten ihren Schritt dem meinen an.

Eigentlich folgte sie mir nicht, sondern begleitete mich, und ich nahm der gefangenen Prinzessin die Kette ab, damit sie sie nicht belaste. Ob wohl das Lösegeld, das ich bezahlt hatte, genügen konnte, sie mir zu eigen zu machen?

An jenem Tag fraß Lola nichts und weigerte sich, frisches Wasser aus dem weißen Napf zu trinken, den ich zu diesem Zweck gekauft hatte. Der alten Emailwaschschüssel aber wendete sie sehnsüchtig den geschmeidigen Hals und die fiebrige feine Schnauze zu. Daraus trank sie. Dann richtete sie den Blick ihrer edlen Augen, die goldig leuchteten wie funkelnder Likör, auf mich:

»Ich bin keine gefangene Prinzessin, sondern eine Hündin, eine richtige Hündin mit einem Hündinnenherzen. Was kann ich für meine Schönheit, die allzu auffällig ist und dich bestochen hat? Hast du mich nur ihretwegen gekauft? Nur wegen meines silbrigen Kleides, meiner geschwungenen Rippen, die sich bei jedem Atemzug bewegen, meiner kielförmigen Brust, meiner harten Knochen, die man unter meinem leichten, spärlichen Fleisch deutlich sehen kann? Mein Gang entzückt dich, ebenso der anmutige Sprung, mit dem ich über einen unsichtbaren Torbogen hinwegzusetzen und ihn gleichzeitig zu krönen scheine. Du nennst mich Prinzessin, Luftgebilde, schöne Schlange, Märchenpferd … Und nun stehst du bestürzt vor mir! … Ich bin nur eine Hündin mit einem Hündinnenherzen, stolz, krank vor Sehnsucht nach Zärtlichkeit und bebend vor Angst, ich könnte mich dir zu schnell ergeben. Ich zittere, weil du mich mit einem bißchen lauwarmen Wasser, das deine Hand allabendlich in die Emailwaschschüssel goß, für immer bezwungen hast …«


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