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»Eins, zwei, drei, vier … Nein, ich irre mich. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … Nein, fünf. Wo ist das sechste? Eins, zwei, drei … Mein Gott, ist das ermüdend! Jetzt sind es nur vier. Ich werde noch verrückt darüber. Kinder! Kinder! Wo sind meine Söhne und Töchter?
Wer von euch jammert dort zwischen der Mauer und der Geranienkiste? Er schreit schon gut, muß ich sagen, der Kleine. Wirklich, ich bilde mir das nicht nur ein, weil er mein Sohn ist. Außerdem schreit er nur zum Vergnügen, denn er kann sich da ganz leicht befreien, wenn er einige Schritte rückwärts macht. Die anderen? … Eins, zwei, drei … Ich falle um vor Schlaf. Die Kinder haben getrunken und dann geschlafen, und jetzt sind sie lebendiger als ein Wurf Ratten. Ich bin schon ganz heiser von all dem Rufen, aber sie gehorchen mir nicht. Bei dem fortwährenden Suchen sehe ich sie schließlich überhaupt nicht mehr, oder ich sehe vor Aufregung etliche doppelt. Gestern habe ich in meiner Verstörtheit ihrer neun gezählt. Dieser Garten ist ein Verhängnis.
Nimm dich in acht, du dort drüben! Man darf niemals unter dem Gitter der Hundehütte durchkriechen. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Wann wirst du endlich einsehen, du Kind der Gosse, du instinktloser Bastard, wessen diese Hündin fähig ist? Sie lauert auf euch hinter den Stäben und würde dich wie eine Maus verschlucken, nur um nachher zu sagen: ›Ach, das war ein Kätzchen? Wie schade! Da habe ich mich geirrt!‹ Sie hat sanfte Augen, wie orangefarbener Samt sehen sie aus, aber merkt es euch: Ihr dürft ihrem Lächeln nicht trauen! … Hingegen erlaube ich euch allen gern, daß ihr eure kindlichen Krallen, die noch biegsam und durchsichtig sind, an den zähen Lenden und der Schnauze der Bulldogge versucht. Obgleich sie häßlich ist – ich schäme mich für sie, wenn ich sie ansehe! – würde sie doch keiner Fliege etwas zu leide tun. Das ist wörtlich zu verstehen, denn die Fliegen spielen um ihr stets offenstehendes Riesenmaul, das immer wieder ins Leere schnappt. Zu ihr könnt ihr ruhig hingehen, könnt euch unter ihren Beinen zusammenrollen, unter ihrem Bauch liegenbleiben, eure Krallen an ihrem Fell wie an einem Teppich schärfen. Wärmt euch nur an ihrem übelriechenden Körper. Sie ist eure Sklavin, ist die schwarze Kinderfrau meiner fürstlichen Babys.
Kinder! Kinder! … Eins, zwei, drei … Ich wünschte wahrhaftig, ich wäre zwei Monate älter oder drei Wochen jünger. Vor zwanzig Tagen hatte ich sie noch alle sechs in meinem Korb, blind und wollig. Sie konnten nur kriechen und sich wohlig winden wie Blutegel, während sie an meinen Zitzen hingen. Ein leichtes Fieber täuschte mich über meine Erschöpfung hinweg. Ich war eine sanfte, blöde Maschine, die unablässig schnurrte und mit borniertem Eifer leckte und stillte, fraß und trank. Wie war das so einfach! Jetzt sind sie fürchterlich. So oft ich sie strafen sollte, bin ich entwaffnet, wenn ich sie nur ansehe. Nichts auf der Welt ist mit ihnen zu vergleichen. Trotz ihrer Jugend sieht man ihnen doch schon die Reinrassigkeit an, erkennt klar, daß sie keiner Mesalliance entsprossen sind. Schon stellen sie den kräftigen Schwanz, fleischig am Ansatz wie der eines jungen Lammes, kerzengerade in die Höhe. Sie schimmern bläulich, haben niedrige Beine und ein kurzes Kreuz, sind munter, wenn sie umherlaufen, und melancholisch, wenn sie sitzen – ganz wie ihr wunderbarer Vater. In vierzehn Tagen werden ihre vorläufig blauen Augensterne goldig zu schimmern beginnen, sich mit feinen Streifen von gelblichem Grün durchziehen. Sie werden einander nicht mehr gleichen, selbst das stumpfe Auge der Menschen wird die breiten Schädel der jungen Kater und die schmaleren Nacken und feineren Backenknochen der Katzen unterscheiden können. Die naiven, kleinen Weibchen werden bereits unausstehlich gegen mich sein, ebenso übrigens auch ich gegen sie … Von ihrem Fell will ich gar nicht reden, ich müßte mich sonst selbst loben. Vier dunklere Streifen sind in den graublauen Flaum ihrer Köpfe gezeichnet und glänzen wie die schimmernden Wellen eines dunklen Samtes je nach der Beleuchtung bald hell, bald matt …
Wo aber sind sie? Wo sind sie? Eins, zwei … Nur zwei! Und die vier anderen? Antwortet doch, ihr zwei kleinen Idioten! Da sitzt das eine und frißt einen Bindfaden! Und das andere will in eine Kiste schlüpfen, die keine Öffnung hat! Natürlich habt ihr nichts gesehen und nichts gehört, häßliche kleine Eulen, die ihr seid mit euren runden Augen!
… Weder in der Küche noch in der Holzkammer! Vielleicht im Keller? Ich laufe, ich stürze hinunter, ich schnüffle … Nichts … Eilig renne ich wieder nach oben, und nun blendet mich das Licht im Garten … Wo sind die beiden, mit denen ich eben gezankt habe? Sind die nun auch verlorengegangen? Meine Kinder! Oh, meine Kinder! Zu Hilfe, ihr Zweifüßler, kommt herbei, ich habe alle meine Kinder verloren! Eben spielten sie noch dort im Dickicht der Spindelbäume. Ich habe sie nicht allein gelassen, habe mich nur eine Minute lang dem Vergnügen hingegeben, eine Lobeshymne auf ihre Schönheit zu singen, eine Lobeshymne in der verliebten, bilderreichen Sprache, die mir infolge meiner persischen Abstammung eigen ist … Gebt sie mir wieder, oh, ihr mächtigen Zweifüßler, die ihr gezuckerte Milch und Sardinenschwänze auszuteilen vermögt! Sucht mit mir, spottet nicht über meinen Jammer, sagt nicht, daß ich mein geliebtes Sextett hundertmal am Tage verliere und wiederfinde! Ich ahne ein Unglück, das schlimmer ist als der Tod. Ihr wißt doch, daß mein Mutter- und mein Katzeninstinkt mich doppelt unfehlbar machen! …
Ei, wo kommst du denn her? … Meiner Treu, das ist mein schwerfälliger Erstling, der rundliche Kerl. Und ihm folgt sein gutmütiger Bruder. Und woher kommt dieses unverschämte kleine Weibstier, das es jetzt schon wagt, mir zu trotzen, das sich schon untersteht, zu fauchen und zu fluchen? … Eins, zwei, drei … Drei, vier fünf … Komm, mein Sechstes, Zartestes und Schwächstes! Du bist auch zärtlicher als die anderen, und ich habe dich mehr geleckt. Du bekommst immer die eine von meinen beiden schwersten Zitzen, die unerschöpfliche, in dem weichen Nest aus blauem Flaum, das meine Hinterbeine dir formen … Vier, fünf, sechs … Genug! genug! Ich will ihrer nicht mehr! Kommt alle in den Korb im feinen Schatten der Akazie. Wir wollen schlafen, oder ihr dürft wieder trinken, damit ich eine Stunde lang Ruhe habe – aber Ruhe habe ich ja nie, denn selbst im Schlaf bleibe ich rettungslos wachsam. Selbst im Traum suche ich euch noch und zähle euch: Eins, zwei, drei, vier …«