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»Eine Ratte! eine Ratte!« riefen die Katzen, sträubten das Fell und sprangen in die Luft wie geschwinde, fürchterliche Vögel.
Es war aber keine Ratte. Es war nur ein brasilianisches Eichhornweibchen, ein kleines Eichhörnchen, das ihnen sogleich die scharfen Krallen zeigte und zwei Vorderzähne, die Glas hätten zerbeißen können.
»Es ist offenbar keine Ratte«, sagte die Katzenmutter. »Ich muß einmal nachdenken.«
»Ich muß auch nachdenken«, meinte die Katzentochter gehorsam. Sie glich ihrer Mutter genau und hatte die Mäusefallen nicht erfunden.
Indessen trank das Eichhörnchen die Milch, die ihm zur Begrüßung hingestellt worden war. Es hielt dabei den Rand der Tasse mit beiden Händen umfaßt. Dann wischte es sich das Schnäuzchen am Samt des Lehnstuhls ab, kämmte sich mit zehn Fingern wie ein romantischer Dichter, kratzte sich am Ohr, legte den Schwanz in der Form eines Fragezeichens auf den Rücken und knackte sich Haselnüsse auf.
Nun kam auch die Hündin herbei. Angewidert beschnüffelte sie das neue Tier, doch das Eichhörnchen hustete ihr unwillig ins Gesicht, räusperte sich wie ein strenger Professor, und die Hündin, die sich keine bestimmten Verhaltungsmaßregeln zurechtgelegt hatte, zog wieder ab. Der Neuling blieb mit uns allein und begann sich ganz wie ein richtiges wildes Tier zu benehmen. Kommt ein solches nämlich plötzlich mit einem wohlwollenden Zweifüßler in Berührung, so bringt es etwa folgendes zum Ausdruck: »Du bist nicht mein Feind? Also bist du mein Freund. Ich schenke dir mein ganzes Vertrauen.« Demgemäß sprang es mir auf die Schulter und gab mir seine größte Haselnuß in Verwahrung, das heißt, es verbarg sie, umwickelt mit einer Strähne meiner zerrauften Haare, zwischen meinem Hals und dem Kragen meiner Bluse.
Am folgenden Tag löste ich die Kette, die das Eichhörnchen fesselte. Eine Kette, oh! diesem irrlichtelierenden Geist, diesem fliegenden Flämmchen! Eine Kette diesem Verbannten, der in einem Käfig über das Meer gekommen war und bei mir eine neue Heimat finden wollte! Es fühlte, wie die Fessel zerbrach, ohne daß es noch daran zu glauben gewagt hätte. Einen Augenblick lang blieb es wie ein Känguruh sitzen, zitternd, die beiden Vorderpfoten gegen die Brust gedrückt, als ob es übermäßig bewegt sei. Dann versuchte es ungläubig einen beinahe ungeschickten kleinen Sprung … Ein zweiter, längerer, ließ es, leicht wie ein Distelfläumchen, auf der Bank des offenen Fensters landen … Es machte noch einen dritten Sprung. Der war weit sicherer als die ersten zwei und führte es zurück auf meine Schulter. Es kam herbeigeflogen, zog den geheimnisvollen Bogen durch die Luft, die ideelle Brücke, die den Abgrund zwischen der Seele der Tiere und der unseren überspannt.
Eben ist es hier vor mir. Eine Minute zuvor war es anderswo, und wo wird es in der folgenden sein? Ich kenne es erst seit so wenigen Tagen, daß ich mich des Morgens weder seiner Gestalt noch seiner Farben genau erinnere. Daher setzt es mich bei jedem Erwachen wieder in Erstaunen. Ein dunkler Streifen zieht sich längs seines Rückens hin. Die Flanken, die mit kurzen weichen Haaren bedeckt sind, schimmern grünlich bronzefarben, wodurch das brennend rote Bäuchlein und der gut dazu abgetönte, buschige Schwanz um so stärker zur Geltung kommen. Die gelblich roten Schwanzhaare sind fein und ein wenig plattgedrückt, so daß man sich beim ersten Anblick Ricottes fragt: »Warum hat es sich denn eine Straußfeder ans Hinterteil gesteckt?«
Es hat Augen … sagen wir Eichhörnchenaugen, dann weiß man schon, daß sie schön sind, fein geschlitzt und lebhaft. Runde Mauseohren, am Rande durch eine Verdickung, eine kleine überwendliche Naht könnte man meinen, sauber ausgefertigt. Dazu vier Affenhändchen: welch ein Überfluß, wo doch eine einzige genügen würde, um die raffiniertesten Verheerungen anzurichten!
Da überquert es den Tisch. Es springt auf den Hinterpfoten, denn mit den vorderen drückt es sorgfältig ein riesiges Stück Watte an sich, das es gestohlen hat. Ricotte leistet sich fast jeden Tag ein neues Mobiliar. Ein Bindfadenknäuel wird durch seine Bemühungen wieder zu Hanffasern, die Telephonschnur zu Seidenfäden. Ricotte haust inmitten eines großen Wollballs: Da schläft es, wäscht sich, knackt sich Mandeln auf, von dort aus begleitet es die Ereignisse des Tages mit einem tadelnden »hö hö« …
Mit leeren Pfoten kommt es herbei und setzt sich, um mir Gesellschaft zu leisten. Doch wenn es mich ansieht, muß ich lachen. Darauf antwortet es mit Eichhörnchen-Fröhlichkeit, das heißt, mit einer elektrischen Kapriole, die es so schnell schlägt, daß man hinterher zweifelt, ob man auch recht gesehen habe …
Gestern machte ihm die volle Zuckerdose großen Kummer. Es wollte ihm nämlich nicht gelingen, für jedes einzelne Stück Zucker ein Versteck im Zimmer zu finden. Heute ist es wieder beruhigt: es hat sämtliche gestohlenen Zuckerstückchen, eins nach dem andern, wieder an ihren Platz zurückgebracht und hält nun neben der Zuckerdose Wache. Ich finde Mandeln in meinen Schuhen, und zwischen meinen Hemden liegen, gleich Riechsäckchen, kleine Biskuitstücke. In meiner Puderdose werden Kerzenstümpfchen verwahrt, und … halt, was kracht denn da unter dem Teppich? Chlorsaures Kali. Ricotte will wohl gurgeln. Und wir dürfen uns nicht wundern, wenn wir nachts von Einbrechern überrascht werden: Ricotte hat alle Riegellöcher mit Nüssen verstopft.