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Die Bibelversammlungen waren jetzt schlecht besucht. Die äußeren Ereignisse lenkten den Blick von den Vorgängen in der eigenen Seele ab, und dies galt besonders für die Fremden, die allen Gerüchten ein williges Ohr liehen, wenn sie die Möglichkeit einer baldigen Heimkehr witterten. Die Einheimischen waren beständiger, für sie war die Bibelstunde bereits zur gewohnten Ordnung geworden, die sie unabhängig von Krieg oder Frieden beizubehalten wünschten, aber im Grunde gab es für jeden einen Winkel, in dem er durch die Friedensgerüchte eher gestört als erfreut war.

Fendrich und Samwald waren Einheimische, und sie gehörten zu den Getreuesten. Huguenau behauptete zwar, daß Fendrich bloß käme, weil Frau Esch doch immer wieder Milch im Hause hatte, ja, manchmal behauptete er sogar, daß er selber an seinem Frühstückskaffee verkürzt werde, bloß weil Frau Esch die Milch für den Betbruder abknappen wolle. Und er hielt mit dieser Ansicht durchaus nicht hinterm Berge; Frau Esch lachte dann dazu: »Wer wird denn so eifersüchtig sein, Herr Huguenau«, und Huguenau hatte die Antwort parat: »Passen Sie auf, Mutter Esch, die Betbrüderschaft des Herrn Gemahls, die wird Sie noch arm fressen.« Im übrigen waren Huguenaus Anwürfe ungerecht; Fendrich wäre auch ohne Milchkaffee gekommen. Immerhin, jetzt saßen die beiden, Samwald und Fendrich, wieder in der Küche. Huguenau, der sich zum Ausgehen bereit gemacht hatte, steckte die Nase herein: »Schmeckt's den Herren?« Frau Esch antwortete an ihrerstatt: »Ach, ich habe ja nichts im Hause.« Huguenau schaute den beiden auf den Mund, ob sie nicht kauten, schaute auf den Tisch, und als er keinerlei Speise entdeckte, war er befriedigt. »Na, da kann ich Sie ja ruhig verlassen«, sagte er. »Sie sind ja in bester Gesellschaft, Mutter Esch.« Dennoch blieb er; er hätte gerne gewußt, was Frau Esch mit den beiden redete. Und als alle schwiegen, begann er das Gespräch: »Wo ist denn heute Ihr Freund, Herr Samwald? der mit den Stöcken?« Samwald wies zum Fenster, das im Herbstwind zitterte: »Bei schlechtem Wetter hat er Schmerzen … er spürt's im voraus.« – »Oh, la la«, sagte Huguenau, »Rheumatismus; ja, das ist unangenehm.« Samwald schüttelte den Kopf: »Nein, er spürt im voraus … er weiß sehr viel im voraus …« Huguenau hörte nur halb hin: »Gicht kann es auch sein.« Fendrich schauerte ein wenig: »Ich spür's auch in allen Gliedern … bei uns in der Fabrik gibt's über zwanzig mit der Grippe … die Tochter vom alten Petri ist gestern gestorben … im Lazarett hat's auch schon Tote gegeben, Esch sagt, daß es die Pest ist … Lungenpest.« Huguenau war angewidert: »Der soll sich mit seinem defaitistischen Gerede in acht nehmen … Pest! das wäre ja noch schöner.« Samwald sagte: »Gödicke, dem kann nicht einmal die Pest mehr was anhaben … er ist ein Auferstandener.« Fendrich wußte noch einiges zu dem Thema: »Nach der Bibel müssen jetzt alle Heimsuchungen der Apokalypse kommen … das hat auch der Major prophezeit … Esch sagt es auch.« – »Merde, jetzt habe ich genug«, sagte Huguenau, »ich wünsche weiter recht gute Unterhaltung. Salü.«

Auf der Stiege traf er mit Esch zusammen: »Zwei recht angenehme Kumpane haben Sie da droben sitzen … wenn die ganze Stadt von der Pest reden wird, werden Sie dran schuld sein … Sie machen mit Ihrer Betbrüderschaft noch die ganze Welt verrückt, das ist ja Volksverdummung.« Esch entblößte das Pferdegebiß und winkte wegwerfend mit der Hand, worauf Huguenau in Ärger geriet: »Da gibt's gar nichts zu grinsen, Herr Pastor.« Zu seiner Überraschung wurde Esch sofort wieder ernst: »Sie haben recht, es ist durchaus nicht zum Lachen … die Leute haben recht.« Huguenau wurde es unbehaglich: »Womit haben sie recht? … mit der Pest etwa?« Esch sagte ruhig: »Ja, und es wäre auch besser für Sie, ja, für Sie, mein Verehrtester, wenn Sie endlich erkennen wollten, daß wir uns mitten in der Angst und in der Heimsuchung befinden …« – »Möchte wissen, was mir das nützen sollte«, sagte Huguenau und er begann die Treppe weiter hinunter zu steigen. Esch hatte seinen Schulmeisterton: »Das könnte ich Ihnen freilich sagen, aber Sie wollen es ja nicht wissen … fürchten sich ja, es zu wissen …« Huguenau hatte sich umgedreht. Esch stand zwei Stufen über ihm und sah mächtig aus; es war peinlich, so zu ihm hinaufsehen zu müssen, und Huguenau turnte wieder eine Stufe höher. Er war irgendwo mißtrauisch geworden. Was hatte der Esch schon wieder, was er nicht sagen wollte? was konnte der wissen? Als Esch aber anhob: »Nur wer in der Angst ist, wird der Gnade teilhaftig werden …« da stoppte Huguenau ab: »Halt, das brauche ich wirklich nicht mehr zu hören …« Neuerlich ließ Esch das verhaßte sarkastische Grinsen sehen: »Hab' ich's nicht gesagt? es paßt wohl nicht in Ihre neue Richtung … im übrigen hat es wohl nie zu Ihnen gepaßt.« Und er wollte weitergehen.

Hinter Huguenaus Brillengläsern blitzte es: »Einen Moment, Herr Esch …«

Esch blieb stehen.

»Ja, Herr Esch, das muß ich denn doch sagen … natürlich paßt das Gefasel nicht zu mir … ob Sie nun grinsen oder nicht, es hat nie zu mir gepaßt … ich war immer ein Freigeist und habe nie ein Hehl daraus gemacht … ich habe Sie in Ihrer Betbrüderei nie gestört, lassen Sie also gefälligst auch mich nach meiner Fasson selig werden … meinetwegen können Sie's auch neue Richtung nennen, und ich erlaube Ihnen sogar, mir nachzuschnüffeln, wie Sie's offenbar tun, und im übrigen bin ich kein Volkstribun wie Sie, und ein Volksverdummer bin ich erst recht nicht, ich habe keinen Ehrgeiz, aber wenn ich den Leuten so zuhöre, natürlich nicht Ihren Betbrüdern dort droben, so scheint es mir, daß die Dinge denn doch einen andern Lauf nehmen, als es Ihnen, Herr Pastor, angenehm ist … ich meine, man wird bald was erleben, und ich sehe auch einige Leute am Laternenpfahl … wenn der Herr Major nicht beliebte, auf mich bös zu sein, so würde ich ihn ganz gehorsamst warnen; ich bin ein guter Kerl, … auf Sie ist er zwar auch nicht mehr gut zu sprechen, der wankelmütige alte Narr, aber immerhin stelle ich's Ihnen frei, ihm die Warnung zu übermitteln. Sie sehen, mit mir kann man mit offenen Karten spielen; ich stoße keinen von rückwärts nieder wie andere Leute.«

Und damit machte er nun endgültig kehrt und marschierte pfeifend die Stiege hinab. Hinterher ärgerte er sich allerdings über seine Gutmütigkeit – er hatte doch keinerlei Anlaß zu irgendeinem Schuldgefühl gegenüber den Herren Pasenow und Esch warum und wovor hatte er sie eigentlich gewarnt?

Esch war stehen geblieben. Irgendwie fühlte er's wie einen Stich im Herzen. Dann sagte er sich: »Wer sich opfert, ist anständig.« Und wenn man diesem Burschen auch jede Schlechtigkeit zutrauen konnte, – solange er bramarbasierte, war es gut; Hunde, die bellen, beißen nicht. Und wenn der in den Wirtshäusern das Maul aufreißt, so schadet's noch weniger, am allerwenigsten dem Major. Esch lächelte, er stand robust und fest auf seinen Beinen und dann streckte er die Arme aus wie einer, der vom Schlafe aufwacht oder wie ein Gekreuzigter. Er fühlte sich stark, fest und wohlbestellt, und als wäre das eine Rechnung, in der die Welt glatt aufgeht, wiederholte er: »Wer sich opfert, ist anständig«, und dann stieß er die Tür zur Küche auf.

 


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