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Von außen besehen wäre das Leben Hanna Wendlings als das eines Müßiggangs in geordneten Verhältnissen zu bezeichnen gewesen. Und sonderbarerweise auch von innen her besehen. Sie selber hätte es wahrscheinlich auch nicht anders bezeichnet. Es war ein Leben, das zwischen dem Aufstehen am Morgen und dem Niederlegen am Abend wie ein schlaffer Seidenfaden hing, schlaff und sich kräuselnd vor Spannungslosigkeit. Das Leben in seiner Vielfalt von Dimensionen, es verlor in diesem besonderen Fall eine Dimension nach der andern, ja, es füllte kaum mehr die drei Dimensionen des Raumes aus: man konnte mit Fug sagen, daß die Träume Hanna Wendlings plastischer und bluterfüllter waren als ihre Wachheit. Aber so sehr dies auch die eigene Meinung Hanna Wendlings sein mochte, diese Meinung traf doch den Kern der Sache nicht, denn sie beleuchtete bloß die makroskopischen Verhältnisse ihres Jung-Frauendaseins, während sie von den mikroskopischen, auf die allein es ankommt, kaum etwas ahnte: kein Mensch weiß etwas von der mikroskopischen Struktur seiner Seele, und sicherlich soll er auch nicht darum wissen. Hier war es nun so, daß unter der sichtbaren Schlaffheit der Lebensführung eine konstante Gespanntheit der Einzelelemente lag. Wollte man bloß ein genügend kleines Stück aus dem scheinbar weichen Faden herausschneiden, so würde man in ihm eine ungeheure Torsion entdecken, einen Krampf der Moleküle sozusagen. Was sich davon nach außen hin manifestierte, wäre am landläufigsten mit dem Wort Nervosität zu umreißen, soferne man darunter den aufreibenden Guerillakrieg versteht, den das Ich in jedem kürzesten Augenblick gegen jene winzigsten Partien des Empirischen zu führen hat, mit denen seine Oberfläche in Berührung gerät. Doch wenn dies für Hanna auch weitgehend zutraf, so lag die eigentümliche Spannung ihres Wesens dennoch nicht in der nervösen Unduldsamkeit gegenüber den Zufälligkeiten des Lebens, mochten sich diese Zufälligkeiten nun in dem Staub auf ihren Lackschuhen oder dem Druck der Ringe an ihren Fingern oder auch nur in einer nicht gar gekochten Kartoffel bemerkbar machen, nein, daran lag es nicht, denn dies alles war sogar von einer schillernden Kleinbewegtheit, war wie das Flimmern leichtbewegten Wasserspiegels in der Sonne, und sie hätte es nicht missen mögen, es bewahrte irgendwie vor Langeweile, nein, daran lag es nicht, wohl aber in der Diskrepanz zwischen dieser so vielfach schattierten Oberfläche und dem unerschütterlichen und unbewegten Meeresgrund ihrer Seele, der so tief unter alldem sich breitete, daß man ihn nicht erblicken konnte, niemals erblicken wird: es war die Diskrepanz zwischen der sichtbaren Oberfläche und einer unsichtbaren, die nichts mehr begrenzt, es war jene Diskrepanz, in deren Unendlichkeit sich das gespannteste Spiel der Seele abspielt, es war die Unermeßlichkeit zwischen einer Avers- und Reversseite der Dämmerung, eine Spannung ohne Gleichgewicht, man könnte wohl sagen, eine fluktuierende Spannung, da auf der einen Seite das Leben steht, auf der andern aber die Ewigkeit, die der Meeresgrund der Seele und des Lebens ist.

Es war ein Leben, weitgehend aller Substanz entleert, und vielleicht aus diesem Grunde ein belangloses Leben. Daß es das der insignifikanten Gattin eines insignifikanten Provinzrechtsanwalts war, fällt dabei nicht sehr in die Waagschale. Denn mit der Signifikanz der Menschenschicksale ist es überhaupt nicht sonderlich weit her. Und wenn auch das ethische Gewicht einer Nichtstuerin inmitten einer Zeit voller Kriegsgreuel als sehr gering einzuschätzen ist, so darf doch nicht vergessen werden, daß von all jenen, die freiwillig oder gezwungen die heldische Pflichterfüllung des Krieges auf sich genommen hatten, fast ein jeder sein ethisches Schicksal gerne mit dem unethischen einer Nichtstuerin vertauscht hätte. Und vielleicht, wenn auch nur vielleicht, ist die Lähmung, welcher Hanna Wendling mit dem fortschreitenden und zunehmenden Krieg verfiel, nichts anderes als der Ausdruck eines höchst ethischen Entsetzens über das Grauen, dem die Menschheit sich anheimgegeben sah. Und vielleicht war dieses Entsetzen in ihr bereits so groß gewachsen, daß Hanna Wendling selber nichts mehr davon wissen durfte.

 


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