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Zerfall der Werte (9)
Erkenntnistheoretischer Exkurs

Hat diese Zeit noch Wirklichkeit? besitzt sie eine Wertwirklichkeit, in der sich der Sinn ihres Lebens aufbewahren wird? gibt es Wirklichkeit für den Nicht-Sinn eines Nicht-Lebens? – wohin hat sich die Wirklichkeit geflüchtet? in die Wissenschaft? in das Gesetz? in die Pflicht? oder in den Zweifel einer ewig fragenden Logik, deren Plausibilitätspunkt im Unendlichen entschwunden ist? Hegel hat der Geschichte den »Weg zur Befreiung der geistigen Substanz« verheißen, den Weg zur Selbstbefreiung des Geistigen, – es wurde der Weg zur Selbstzerfleischung aller Werte.

Gewiß kommt es nicht darauf an, ob die Hegelsche Geschichtskonstruktion durch den Weltkrieg widerlegt worden ist (das hat bereits die Siebenzahl der Planeten besorgt), denn die in einem vierhundertjährigen Prozeß autonom gewordene Wirklichkeit war unter keinen Umständen mehr geneigt und fähig, sich einem deduktiven System zu beugen. Und wichtiger wäre es, nach den logischen Möglichkeiten dieser anti-deduktiven Wirklichkeit, nach den logischen Ursachen solcher Anti-Deduktion zu fragen, kurzum, nach den »Bedingungen der möglichen Erfahrung«, unter denen diese Geistesentwicklung hatte Zustandekommen müssen, – aber die Verachtung alles Philosophischen, die Müdigkeit am Wort, gehört wohl selber zu dieser Wirklichkeit und zu dieser Entwicklung, und nur mit allem Mißtrauen gegen die Überzeugungskraft von Worten stellt man jene dringlichen methodologischen Fragen: was ist ein historisches Ereignis? was ist die historische Einheit? oder noch weiter gefaßt: was ist ein Ereignis überhaupt? welche Auslese ist erforderlich, damit Einzelfakten sich zur Einheit eines Ereignisses zusammenfügen?

Die Bindung des autonomen Lebens an die Kategorie des Wertes ist so unlösbar und wesenseigentümlich gegeben wie die Bindung des autonomen Bewußtseins an die Kategorie der Wahrheit, – man könnte für Phänomene wie Wert oder Wahrheit andere Namen suchen, aber als Phänomene bleiben sie trotzdem bestehen, so unweigerlich wie das Sum und das Cogito selber, sie beide aus der brückenlosen Autonomie des Ichs bezogen, sie beide sowohl Akt als auch Setzung dieses Ichs; so spaltet sich der Wert in die wertsetzende, im allgemeinsten Sinne weltformende Tat und in das geformte, räumlich sichtbare, weit-sichtbare Wertrealisat, es spaltet sich der Wertbegriff in die komplementären Kategorien: in den ethischen Wert des Tuns und den ästhetischen Wert des Getanen, Avers- und Reversseite der gleichen Medaille, und erst in ihrem Zusammenhalt ergeben sie den allgemeinsten Wertbegriff und den logischen Ort alles Lebens. Und tatsächlich ist es in der Historie immer so gewesen: schon die antike Geschichtsschreibung war ihren Wertbegriffen Untertan, die moralisierende Historie des 18. Jahrhunderts wendet die ihrigen mit aller Bewußtheit an, und in Hegels Konzeption tritt der absolute Wert sowohl im Begriff des »Weltgeistes« als in dem des »Richteramts der Geschichte« aufs deutlichste zutage. Kein Wunder demnach, daß die methodologische Funktion des Wertbegriffs zum Hauptthema der nachhegelschen Geschichtsphilosophie wurde, allerdings mit dem verhängnisvollen Nebenresultat, die Gesamterkenntnis in eine naturwissenschaftlich-wertfreie und in eine geisteswissenschaftlich-wertbezogene zu zerfallen, – wenn man will, eine erste Bankerotterklärung der Philosophie, da hiermit die Identität von Denken und Sein auf das logisch-mathematische Gebiet beschränkt wurde und für den ganzen übrigen Erkenntnisbereich diese idealistische Hauptaufgabe der Philosophie aufgehoben oder in die Vagheit der Intuition verschoben erscheint.

Hegel hat gegen Sendling den (berechtigten) Vorwurf erhoben, daß er das Absolute »wie aus der Pistole geschossen« in die Welt projiziert hätte. Das nämliche gilt aber wohl auch für den Wertbegriff der Hegelschen und nachhegelschen Philosophie. Den Wertbegriff einfach in die Geschichte zu projizieren und alles, was von der Geschichte aufbewahrt wird, kurzerhand als »Wert« zu bezeichnen, ist zur Not für die rein ästhetischen Werte der bildenden Kunst noch zulässig, stimmt aber sonst so weitgehend nicht, daß man im Gegenteil sich gedrängt fühlt, die Geschichte als Konglomerat von Unwerten zu erklären und eine Wertwirklichkeit der Geschichte überhaupt zu leugnen.

Erste These:

die Geschichte besteht aus Werten, weil das Leben bloß unter der Wertkategorie zu erfassen ist, – aber diese Werte können nicht als Absoluta in die Wirklichkeit eingeführt werden, sondern können bloß im Zusammenhang mit einem ethisch handelnden wertsetzenden Wertsubjekt gedacht werden. Hegel hat ein solches Wertsubjekt mit dem absoluten und objektivierten »Weltgeist« in die Wirklichkeit gesetzt, doch seine Konstruktion mußte sich an ihrer allumfassenden Absolutheit ad absurdum führen. (Hier zeigte sich wieder die nicht übersteigbare Unendlichkeitsschranke des deduktiven Denkens.) Es gibt bloß endliche Setzungen. Wo ein konkretes, von vornherein endliches Wertsubjekt vorhanden ist, also eine konkrete Person, ist die Relativierung der Werte, ihre Abhängigkeit vom introduzierten Subjekt völlig durchsichtig, – die Biographie einer Person entsteht durch Aufzeichnung aller Wertinhalte, die ihr selber wichtig gewesen sind. Die Person kann als solche höchst wertlos, ja wertfeindlich sein, ein Räuberhauptmann oder ein Deserteur zum Beispiel, aber als Wertzentrum mit dem ihm zugehörigen Wertkreis ist er trotzdem biographie- und geschichtsreif. Und ebenso verhält es sich mit den fiktiven Wertzentren: die Geschichte eines Staates, eines Klubs, einer Nation, der deutschen Hansa, ja sogar die Geschichte unbelebter Gegenstände, etwa die Architekturgeschichte eines Hauses, wird durch Auslese jener Fakten gebildet, die dem betreffenden Wertzentrum, hätte es einen Wertwillen gehabt, selber wichtig gewesen wären. Ein Ereignis ohne Wertzentrum zerfließt im Nebelhaften, – die Schlacht bei Kunersdorf besteht nicht aus der Liste der daran beteiligten Grenadiere, sondern aus den Wirklichkeitsformungen, die den Plänen des Feldherrn unterlegt werden. Jede geschichtliche Einheit hängt von dem effektiven oder fiktiven Wertzentrum ab; der »Stil« einer Epoche, ja die Epoche selber als historisches Ereignis wäre nicht vorhanden, wenn nicht in ihren Mittelpunkt das einheitschaffende Ausleseprinzip gesetzt werden würde, ein »Geist der Epoche«, dem die wertsetzende und stilbildende Kraft zugemessen wird. Oder, um einen abgebrauchten Ausdruck zu verwenden: Kultur ist ein Wertgebilde, Kultur ist bloß unter einem Stilbegriff zu denken, und um sie überhaupt denken zu können, bedarf es des stil- und wertsetzenden »Kulturgeists« im Zentrum jenes Wertkreises, der die Kultur darstellt.

Bedeutet dies Relativierung aller Werte? Aufgabe jeglicher Hoffnung, daß mit der Einheit von Denken und Sein das Absolute des Logos sich in der Wirklichkeit je manifestiere? Aufgabe der Hoffnung, daß der Weg zur Selbstbefreiung des Geistes und der Humanität jemals auch nur annäherungsweise beschritten werden könne?

Zweite These:

die Geschichtsreife, die Biographiereife der wertsetzenden Tat ist von der Absolutheit des Logos bedingt. Denn das effektive oder fiktive Wertsubjekt kann bloß in der Einsamkeit seines Ichs imaginiert werden, in jener unaufhebbaren brückenlosen und platonischen Einsamkeit, deren Stolz es ist, ausschließlich von den Vorschriften des Logischen abhängig zu sein, und deren Zwang es ist, das Tun unter solch logische Plausibilität zu stellen; dies aber bedeutet, durchaus im Kantschen Sinne, nicht nur die Forderung nach dem »guten Willen«, der das Werk um des Werkes willen schafft, sondern auch die Vorschrift, alle Konsequenzen aus der autonomen Gesetzlichkeit des Ichs zu ziehen, auf daß das Werk, unbeeinflußt von jeglicher Dogmatik, in reiner Originalität dieses Ichs und dieses Gesetzes geschaffen werde. Mit andern Worten: was nicht rein aus seiner Eigengesetzlichkeit entsteht, das verschwindet aus der Geschichte. Aber so sehr diese Eigengesetzlichkeit in der Zeit wirkt, also zeit- und stilbedingt ist, es kann solche Stilbedingtheit immer wieder nur Abschattung des übergeordneten Logos sein, jenes Logos, der heute wirkt und der das Denken ist, sicherlich auch heute nichts anderes als eine irdische Abschattung, dennoch durch jede Abschattung hindurchschimmernd, in seinem unverlierbaren Anspruch auf Überzeitlichkeit allein es ermöglichend, daß ein stilgebundenes Denken in ein anderes Ich zu projizieren ist. Und diese formale Grundeinheitlichkeit wird im engeren Bereich des getanen Werkes und des Allgemein-Ästhetischen, nämlich im Künstlerischen, am deutlichsten in der Unzerstörbarkeit der Kunstformen, stets von neuem und mit voller Klarheit ersichtlich. Hieraus ergibt sich zusammenfassend die

dritte These:

die Welt ist Setzung des intelligiblen Ichs, denn unverloren und unverlierbar bleibt die platonische Idee. Doch die Setzung ist nicht »aus der Pistole geschossen«, es können nur immer wieder Wertsubjekte gesetzt werden, Wertsubjekte, die ihrerseits die Struktur des intelligiblen Ichs widerspiegeln und die ihrerseits ihre eigenen Wertsetzungen, ihre eigenen Weltformungen vornehmen: die Welt ist nicht unmittelbare Setzung des Ichs, sondern dessen mittelbare Setzung, sie ist »Setzung von Setzungen«, »Setzung von Setzungen von Setzungen« usf. in unendlicher Iteration. In dieser »Setzung von Setzungen« erhält die Welt ihre methodologische Organisierung und Hierarchie, sicherlich eine relativistische Organisierung, trotzdem – der Form nach – eine absolute, denn die ethische Forderung, die an die effektiven oder fiktiven Wertsubjekte gestellt wird, bleibt ungemindert bestehen, mit ihr aber auch die immanente Geltung des Logos innerhalb des getanen Werkes: es bleibt die Logik der Dinge bestehen. Und muß auch der logische Fortschritt der Geschichte immer wieder umbrechen, sobald die Unendlichkeitsgrenze ihrer metaphysischen Konstruktion erreicht ist, und muß auch das platonische Weltbild immer wieder einer positivistischen Schau weichen, unbezwingbar bleibt die Wirksamkeit der platonischen Idee, die in jedem Positivismus stets aufs neue die mütterliche Erde berührt, um, getragen vom Pathos der Erfahrung, stets aufs neue das Haupt zu erheben.

Jede begrifflich erfaßte Einheit in der Welt ist »Setzung der Setzung«, jeder Begriff, jedes Ding ist es, und wahrscheinlich reicht diese methodologische Funktion der einheitstiftenden Erkenntnis, die das Ding bloß als autonomes und wertsetzendes Wertsubjekt erfassen kann, bis in die Mathematik hinein, solcherart den Unterschied zwischen mathematisch-naturwissenschaftlicher und empirischer Begriffsbildung aufhebend. Denn nicht nur, daß, methodologisch betrachtet, die »Setzung der Setzung« nichts anderes darstellt als die Introduzierung des ideellen Beobachters in das Beobachtungsfeld, wie dies von den empirischen Wissenschaften, zum Beispiel von der physikalischen Relativitätstheorie, ganz unabhängig von erkenntnistheoretischen Ansichten längst durchgeführt worden ist, es ist auch die mathematische Grundlagenforschung mit den Fragen »Was ist die Zahl?«, »Was ist die Einheit?« zu einem Punkte gelangt, an welchem sie sich zwangsläufig auf den Notausgang der Intuition verwiesen sah: durch das Prinzip der »Setzung der Setzung« aber erfährt die Intuition ihre logische Legitimierung, denn die Einsetzung des Ichs in das hypostasierte Wertsubjekt kann mit Fug als die methodologische Struktur des Intuitionsaktes angesprochen werden!

Daß das Prinzip der »Setzung der Setzung« so lange unbemerkt bleiben konnte, darf vielleicht auf seine Selbstverständlichkeit, ja auf seine Primitivität zurückgeführt werden. Ja, Primitivität! Und es scheint für den Hochmut des Menschen eine unüberwindliche Belastung zu sein, wenn er primitive Haltungen zugeben soll. Denn wird auch durch den Vorgang der »Setzung der Setzung« das Eindringen des intelligiblen Ichs in alle Dinge der Welt gewährleistet, so ist – sieht man von diesem platonischen Hintergrund für einen Augenblick ab – in der »Setzung der Setzung« eine Allbeseelung der Natur, mehr noch, eine Allbeseelung der Welt in ihrer ganzen Totalität vollzogen, eine Allbeseelung, die jedem Ding und jedem noch so abstrakten Begriff ein Wertsubjekt introduziert und die bloß mit einer Allbeseelung der Welt, wie sie im Denken der Primitiven aufscheint, verglichen werden kann: es ist, als gäbe es für die Entwicklung des Logischen eine Art Ontogenese, welche selbst in der höchstentwickelten logischen Struktur alle einstigen und scheinbar abgestorbenen Denkformen, also auch die der direkten Beseelung, die Urform der eingliedrigen Plausibilitätskette, lebendig erhält und die jedem Denkschritt die Form, wenn auch nicht den Inhalt der primitiven Metaphysik aufprägt, – sicherlich eine Beleidigung für den Rationalisten, dennoch Trost für das pantheistische Gefühl.

Und trotzdem ist hier der Trost auch für den rationalen Bereich zu suchen. Ist nämlich die »Setzung der Setzung« in ihrer Gebundenheit an den Logos als die logische Struktur des intuitiven Aktes zu interpretieren, so darf in ihr auch die »Bedingung möglicher Erfahrung« für das sonst unerklärliche Faktum der Verständigung zwischen Mensch und Mensch, zwischen Einsamkeit und Einsamkeit gesehen werden: sie gibt also nicht nur die erkenntnistheoretische Struktur der Übersetzbarkeit aller Sprachen, und seien sie untereinander noch so sehr verschieden, sondern darüber hinaus, weit darüber hinaus, gibt sie in der Einheit des Begriffs den gemeinsamen Nenner aller menschlichen Sprache, gibt sie die Gewähr für die Einheit des Menschen und seiner Menschlichkeit, die noch in der Selbstzerfleischung ihres Daseins Ebenbild Gottes bleibt, – denn, Spiegel seiner selbst, in jedem Begriff und in jeder Einheit, die er setzt, leuchtet dem Menschen der Logos, leuchtet ihm das Wort Gottes als Maß aller Dinge entgegen. Und mag das Ruhende dieser Welt, mag ihr ästhetischer Wert aufgehoben und zur Funktion aufgelöst sein, aufgelöst in den Zweifel an aller Gesetzlichkeit, mehr noch, aufgelöst in die Pflicht zur Frage und zum Zweifel, unangetastet bleibt die Einheit des Begriffes, unangetastet die ethische Forderung, unangetastet bleibt die Rigorosität des ethischen Wertes als reine Funktion, Pflichtwirklichkeit strengster Observanz und als solche immer noch Einheit der Welt, Einheit des Menschen, aufscheinend in allen Dingen, unverloren und unverlierbar über Räume und Zeiten hinweg.

 


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