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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (3)

Ich hatte Marie, das Heilsarmeemädchen, für einige Wochen aus den Augen verloren. Berlin glich damals – ja, wem oder was glich es? es waren heiße Tage, der Asphalt war weich, oftmals löcherig, nichts wurde ausgebessert, die Weiber führten das große Wort, hatten obrigkeitliche Funktionen als Schaffnerinnen oder so; die Bäume in den Straßen waren schon im Frühling welk, sahen aus wie Kinder mit Greisengesichtern, und blies der Wind, so wirbelte er Staub und Zeitungsfetzen auf; Berlin war dörflicher geworden, sozusagen natürlicher, aber eben dadurch unnatürlich, es glich sozusagen seiner eigenen Kopie. In der Wohnung, in der ich mich eingemietet hatte, waren zwei oder drei Zimmer von jüdischen Flüchtlingen aus der Lodzer Gegend besetzt, ich konnte eigentlich niemals erkunden, wie viele es waren und wie sie zusammengehörten; es gab alte Männer in Röhrenstiefeln und mit Schläfenlocken, und einmal traf ich auch einen, aus dessen Kaftan weiße Kniestrümpfe und Schnallenschuhe hervorschauten, wie man sie im 18. Jahrhundert getragen hatte; es gab Männer, die den Kaftan bloß durch den längeren Schnitt ihrer Röcke andeuteten, und junge Männer von merkwürdig milchigem Angesicht, mit flockigem blonden Bart, der wie ein Theaterbart aufgeklebt war. Mitunter zeigte sich auch einer in feldgrauer Uniform, und es war, als ob sogar die Uniform noch etwas vom Kaftan an sich hätte. Und manchmal kam ein Mann unbestimmten Alters, städtisch gekleidet, und sein brauner Bart war wie der des Ohm Krüger rahmenförmig ausrasiert und nur in der Schläfengegend ungeschoren belassen. Er trug stets einen Stock mit einer altmodischen Krücke und einen Kneifer an einer schwarzen Schnur. Ich habe ihn sogleich für einen Arzt gehalten. Natürlich gab es auch Frauen und Kinder, Matronen mit falschem Scheitel, Mädchen, die merkwürdig modisch angezogen waren.

Mit der Zeit fing ich ein paar Worte des Jiddisch-Deutsch auf, das sie sprachen. Wirklich verstanden habe ich es natürlich niemals. Aber ihnen schien dies unvorstellbar, denn wenn ich in ihre Nähe geriet, unterbrachen sie das gutturale Geschnatter, das so sonderbar aus dem Munde würdiger Greise kam; sie betrachteten mich mit Scheu. Abends saßen sie meist im unbeleuchteten Zimmer, und wenn ich des Morgens in den Vorraum trat, der stets mit allerlei Kleidungsstücken vollgeräumt war und in dem das Dienstmädchen Schuhe putzte, sah ich öfters einen der älteren Männer am Fenster stehen. Er hatte die Gebetriemen um Stirn und Handgelenk geschnallt, bewegte den Oberkörper im Takte des Schuhputzens und hie und da die Fransen seines Gebetmantels küssend, betete er mit rasenden welken Lippen rasende welke Worte zum Fenster hinaus. Vielleicht weil das Fenster nach Osten ging.

Ich war von dem Getriebe der Juden so gefangen, daß ich viele Stunden des Tages der stillen Beobachtung widmete. Im Vorzimmer hingen zwei Öldrucke, Rokokoszenen darstellend, und ich mußte darüber nachdenken, ob sie wohl diese Bilder und vieles andere zu erkennen und mit den gleichen Augen wie unsereins zu betrachten vermöchten. Und mit diesen Beobachtungen beschäftigt, hatte ich das Heilsarmeemädchen Marie, obgleich ich sie mit alldem irgendwie in Zusammenhang brachte, völlig vergessen.

 


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