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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (4)

Daß die Juden mich beobachteten, erwies sich als richtiges Gefühl. Ich war zwei Tage ein wenig unpäßlich, hatte mein Frühstück kaum berührt und war bloß für eine halbe Stunde ausgegangen. Am Abend des zweiten Tages klopfte es an meine Kammertür, und zu meiner Überraschung trat der kleine Mann ein, den ich stets für einen Arzt gehalten hatte. Und er entpuppte sich auch wirklich als solcher.

»Sie sollen sein krank«, sagte er.

»Nein«, sagte ich, »und wenn, so kümmert's niemanden.«

»Es kostet Ihnen nichts, es ist nicht wegen Geld«, sagte er schüchtern, »man muß helfen.«

»Danke«, sagte ich, »ich bin ganz wohl.«

Er stand vor mir, den Stock hielt er an die Brust gepreßt.

»Fieber?« fragte er bittend.

»Nein, ich bin ganz wohl, ich gehe jetzt aus.«

Ich stand auf und wir gingen gemeinsam aus dem Zimmer.

Im Vorraum wartete einer der jungen Juden, einer mit dem Theaterflaum auf den Wangen.

Der Arzt stellte sich jetzt vor: »Dr. Litwak ist mein Name.«

»Bertrand Müller, Dr. phil.« Ich gab ihm die Hand; der junge Jude streckte mir auch die seine hin. Sie war trocken und kühl, so glatt wie sein Gesicht.

Sie schlossen sich an, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. Ich hatte zwar keinerlei Ziel, ging aber sehr schnell. Die beiden, links und rechts von mir, hielten Schritt und konversierten miteinander auf Jiddisch. Ich ärgerte mich ernstlich: »Ich verstehe nicht ein halbes Wort.«

Sie lachten: »Er sagt, er versteht nix.«

Nach einer Weile: »Wirklich, Sie verstehen kein Jiddisch?«

»Nein.«

Wir kamen auf die Reichenbergerstraße hinaus und ich nahm Kurs auf Rixdorf.

Nun, und da begegneten wir Marie.

Sie lehnte an einem Laternenpfahl. Es war schon recht dunkel, doch man sparte mit Gas. Trotzdem erkannte ich sie sofort.

Im übrigen gaben die Fenster der gegenüberliegenden Wirtschaft ein wenig Licht.

Auch Marie erkannte mich; sie lächelte mir zu. Dann fragte sie: »Sind das Ihre Freunde?«

»Nachbarn«, sagte ich.

Ich schlug vor, die Wirtschaft aufzusuchen, denn Marie schien mir ermattet und eines Imbisses bedürftig. Allein die beiden weigerten sich, die Wirtschaft zu betreten. Vielleicht fürchteten sie, daß sie gezwungen werden sollten, Schweinefleisch zu essen, vielleicht fürchteten sie Verhöhnung oder sonst irgend etwas. Auf alle Fälle hätte man's zum Anlaß nehmen können, sie loszuwerden.

Da ereignete sich etwas Merkwürdiges: Marie schlug sich zur Partei der Juden, sagte, daß sie durchaus keinen Hunger habe, und als könnte es gar nicht anders sein, ging sie mit dem jungen Juden voran, während ich mit Dr. Litwak folgte.

»Wer ist das?« fragte ich den Arzt und wies auf den jungen Juden, dessen graue Schöße vor mir herbaumelten.

»Nuchem Sussin heißt er«, sagte Dr. Litwak.

 


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