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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (6)

Zu meiner eigenen Verwunderung hatte ich wieder begonnen, mich mit meinen geschichtsphilosophischen Arbeiten über den Wertzerfall zu beschäftigen. Obwohl ich kaum aus dem Hause ging, brachte ich die Arbeit nur langsam vorwärts. Nuchem Sussin kam manchmal zu mir herein, setzte sich auf die grauen Schöße seines Gehrocks. Niemals knöpfte er ihn auf; es war wohl eine Art Scham, die ihn daran hinderte. Ich fragte mich oft, wie diese Leute zu Dr. Litwak Vertrauen haben konnten, der mit seinem kurzen Sakko allen ihren Anschauungen Hohn sprach. Bis ich mir zurechtlegte, daß der Spazierstock, den Dr. Litwak vor sich hertrug, eine Art Ersatz für den Mangel an längeren Bekleidungsstücken darzustellen hätte. Aber natürlich ist das bloß eine Vermutung.

Es war lange nicht herauszukriegen, was Sussin eigentlich wollte. Wenn er Platz nahm, versäumte er niemals »Sie erlauben zur Güte« zu sagen, und nach einer Pause ratlosen Schweigens kam dann irgendein juristisches Problem: ob die Regierung befugt sei, Speisen und Fette, die man bereits im Haus oder auf dem Teller habe, zu beschlagnahmen, ob der Unterhaltsbeitrag, den die Frauen der Soldaten erhalten, mit einer Todesfallversicherung verbunden werden könnte … man wußte eigentlich nicht, wo er damit hinauswollte, es war, als schalte er auf gut Glück irgendwelche Drähte zusammen, und man hatte doch das Gefühl, als ergäben sich daraus echte Probleme oder als breite sich in seinem Innern eine juristische Landschaft aus, die durch solche künstlichen und verzwickten Fernrohre zu erspähen man aufgefordert wurde.

Auch wenn er ein Buch in die Hand und vor die schwachsichtigen Augen nahm, war es, als läse er ganz andere Dinge heraus. Er hatte einen maßlosen Respekt vor Büchern, aber er konnte über irgendeine Zeile bei Kant unbändig lachen, und er war verwundert, wenn ich nicht mit einstimmte. So war es für ihn ein außerordentlich guter Witz, als er bei Hegel den Satz fand: Das Prinzip der Zauberei ist, daß zwischen dem Mittel und dem Erfolg der Zusammenhang nicht erkannt wird. Sicherlich verachtete er mich, weil ich die Dinge und ihre Komik nicht so durchschaute wie er, und sonderbarerweise neigte ich dazu, ihm eine richtigere, wenn auch kompliziertere Einsicht zuzugestehen. Allerdings waren dies die einzigen Anlässe, bei denen ich ihn habe lachen sehen.

Und dann hatte er ein gewisses Verhältnis zur Musik. In meinem Zimmer hing eine Laute mit vielen Bändern. Ich glaube, daß sie dem Sohn der Wirtin gehört hatte; der Sohn war in Gefangenschaft oder vermißt. Jedesmal forderte Sussin mich auf: »Spielen Sie«, und wollte mir nicht glauben, daß ich es nicht könne. Hielt mich für zu schamhaft. Aber endlich gelangte er auf diesem Wege zu seinem eigentlichen Thema: »Haben Sie schon gehört spielen die Leute … die in Uniform? … sehr schön.«

Er meinte die Heilsarmee und lächelte verstohlen, weil ich es erriet. »Ich geh' mir anhören heute abend. Kommen Sie mit?«

 


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