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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (14)

Erkenntnisse, die mittels Fasten und Kasteiungen zustande kommen, entbehren sicherlich der letzten logischen Schärfe. Ich glaube mit Bestimmtheit sagen zu dürfen, daß sich um jene Zeit eine Änderung meines Erkenntniszustandes vollzog. Allein ich beobachtete diese Wandlung mit äußerstem Mißtrauen, da sie eben mit der dauernden Unterernährung Hand in Hand ging, ja, ich war fast bereit, Dr. Litwaks Ansicht beizutreten und mich für krank zu erklären, und dies um so mehr, als man viel eher von einem luzideren Körpergefühl, denn von einer Verschärfung meiner Welterkenntnis sprechen konnte. Legte ich mir zum Beispiel die alte Frage vor, ob mein Leben noch eine sinnhafte Wirklichkeit besäße, so war es jenes Körpergefühl, das mir Antwort erteilte und mir die Gewißheit schenkte, in einer Art Wirklichkeit zweiter Stufe zu leben, daß eine Art unwirklicher Wirklichkeit, wirklicher Unwirklichkeit angehoben hatte, und sie durchrieselte mich mit sonderbarer Freudigkeit. Es war eine Art Schwebezustand zwischen Noch-nicht-Wissen und Schon-Wissen, es war Sinnbild, das sich nochmals versinnbildlichte, ein Schlafwandeln, das ins Helle führte, Angst, die sich aufhob und sich doch wieder aus sich selbst erneuerte, es war wie ein Schweben über dem Meer des Todes, ein beschwingtes Auf- und Abgleiten über den Wellen, ohne sie zu berühren, so leicht war ich geworden, – es war eine beinahe körperliche Erkenntnis, mit der ich die höhere platonische Wirklichkeit der Welt aufnahm, und alles in mir war voller Sicherheit, daß ich bloß einen geringen Schritt zu tun brauchte, um solch körperliche Erkenntnis in eine rationale zu verwandeln.

In dieser schwebenden Wirklichkeit strömten die Dinge auf mich zu, sie strömten in mich ein, und ich mußte mich nicht um sie bemühen. Was früher wie Passivität ausgesehen hatte, hat jetzt seinen Sinn erhalten. War ich früher zu Hause geblieben, um meinen Gedanken nachzuhängen, philosophische Monologe zu halten und sie von Zeit zu Zeit in skizzenhafter Form zu notieren, so bleibe ich jetzt in meiner Stube wie ein Kranker, der seinem Arzt und seiner Krankheit gehorsam ist. Alles traf zu, wie Dr. Litwak es wollte. Er besucht mich jetzt ständig, und zuweilen rufe ich ihn sogar selber zu mir herein; und wenn er in plötzlicher Änderung seiner Sinnesart mir nun weismachen will, daß ich nicht krank sei, »A bißl anämisch sind Sie und sonst sind Sie meschugge«, so trifft auch dies zu, denn ich fühle mich wie ausgeblutet. Ich will nicht mehr denken, nicht etwa, weil ich unfähig dazu wäre, sondern ich denke nicht mehr, weil ich es verachte. Gewiß bin ich noch nicht so weise geworden, ich maße mir durchaus nicht an, jene letzte Stufe des Wissens erreicht zu haben, daß ich mich über das Wissen stellen dürfte, ach, viel zu tief stehe ich unter dem Wissen, es ist viel eher die Angst, das Schwebende zu verlieren, die sich hinter der Verachtung des Wortes verbirgt. Oder ist es die plötzlich erwachte Überzeugung, daß die Einheit von Denken und Sein nur im bescheidensten Rahmen zu verwirklichen ist? Denken und Sein beides auf ein Minimum reduziert!

Marie besucht mich manchmal, bringt mir einige Lebensmittel, wie ihren übrigen Kranken, und ich lasse es mir gefallen. Neulich traf sie Litwak und Nuchem bei mir an. Ihrer Gewohnheit gemäß grüßte sie mit ihrem freundlichen »Gott segne Sie«, und Litwak verabsäumte auch diesmal nicht »Bis zu hundert« darauf zu antworten. Marie hustete und er machte ein besorgtes Gesicht: »Man hat das nicht notwendig«, sagte er, wobei es offen blieb, ob er die wahrscheinlich vorhandene Lungenkrankheit meinte oder die Ansteckungsgefahr, der er Nuchem ausgesetzt sah. Er trug sich auch an, Marie kostenlos zu untersuchen, und als sie ablehnte, sagte er: »Gehen Sie wenigstens spazieren viel an der frischen Luft … und nehmen sie ihn mit, er ist anämisch.« Nuchem stand daneben und blätterte in meinen Büchern. Im übrigen verschrieb mir Litwak immer wieder neue Mittel, und wenn er mir die Rezepte aushändigte, lachte er: »Nehmen werden Sie's sowieso nicht, aber a Doktor muß verschreiben.« Wir waren zu so etwas wie einem guten Einverständnis gelangt.

Wo war der Punkt unseres Verständnisses? warum mußte ich bei ihnen bleiben, – warum war das Provisorium dieser Judenwohnung für mich ein Dauerndes geworden, das zu verlassen ich mir nicht mehr vorstellen konnte? warum mein Gehorsam gegen diese Juden? alles war provisorisch, die Flüchtlinge waren provisorisch, ja, ihre ganze Existenz war es, und auch die Zeit selber war provisorisch, so provisorisch wie der Krieg, der sich über sein eigenes Ende hinaus verlängerte. Das Provisorische ist zum Definitiven geworden, unausgesetzt hebt es sich selber auf und bleibt weiter bestehen. Es ist hinter uns her und wir richten uns mit ihm ein, in einer Judenwohnung, in einem Hospiz. Aber es hebt uns über das Gewesene, es hält uns in einem glückhaften, fast euphorischen Schwebezustand, in dem alles Zukunft ist.

Schließlich war ich Dr. Litwak gehorsam und ging spazieren, sofern Nuchem oder Marie mich begleiteten.

Es waren sehr schöne Herbsttage und ich saß mit Marie unter Bäumen. Und weil sich alles in einer hellen Aufrichtigkeit abspielte, und weil die Worte ohne Belang waren, fragte ich sie: »Bist du ein gefallenes Mädchen?«

»Ich war es«, antwortete sie.

»Und jetzt bist du keusch?«

»Ja.«

»Du weißt, daß du Nuchem nie erretten wirst?«

»Ich weiß es.«

»Du liebst ihn also?«

Sie lächelte.

Spiegel seiner selbst, Sinnbild des Sinnbilds! zu welcher Grenze vermag das fortgesetzte Gleichnis uns zu führen, wenn nicht zum Tode!

»Höre, Marie, ich will mich umbringen, erschießen oder in den Landwehrkanal springen … aber du mußt mich begleiten, allein tue ich keinen Schritt.« Das klang spaßig, aber es war ernst gemeint. Sie spürte das wohl, denn ohne zu lachen, gewissermaßen sachlich, antwortete sie: »Nein, das werde ich nicht, und auch Sie dürfen sich nicht umbringen.«

»Aber deine Liebe zu Nuchem ist doch hoffnungslos.«

Sie vermochte daraus keine Konsequenzen zu ziehen; sie heftete bloß ihre Augen fragend auf mich, fahndend nach der Möglichkeit eines Einverständnisses. Ihre Augen waren farblos.

Es war kein gutes Spiel, das ich mit ihr spielte, und doch war das Einverständnis auch zwischen uns schon längst hergestellt, denn sie sagte: »Wir sind in der Freude.«

Ich sagte: »Nuchem wird sich nicht umbringen, er darf es nicht, er ist in der Pflicht, wir aber sind in der Freude … wir dürfen es tun.«

Vielleicht beruhigte es sie, daß Nuchem vor jedem Selbstmord bewahrt war, denn nun lächelte sie wieder, ja, sie kreuzte sogar die Beine wie eine Dame, und wie einer solchen war ihr das Besserwissen ins Gesicht geschrieben: »Auch wir sind in der Pflicht.«

Ich konnte ihr die Heilsarmeephrasen nicht übelnehmen, mag sein, weil innerhalb eines Provisoriums jede Phrase schon ihren Sinn verloren hat, mag sein, weil sie schon von vornherein einen neuen Sinn erhält und zutrifft. Mag sein, daß auch die Worte zwischen Vergangenheit und Zukunft schweben können, daß auch sie zwischen Gesetz und Freude schweben, geflüchtet aus der Verachtung, die ihnen gebührt, geflüchtet zu neuem Sinn im Bewegten.

Indes ich wollte von Pflicht nichts hören, da sie mich zur Erkenntnis zurückgerufen hätte; ich wollte von Pflicht nichts hören, ich wollte den Zustand meines eigenen Schwebens aufrechterhalten, und ich fragte: »Du bist glücklich, trotz deiner unglücklichen Liebe?«

»Ja«, sagte sie.

Unwiederbringlich ist die Heimat verloren, uneinbringlich liegt die Ferne vor uns, allein der Schmerz wird immer gelöster, immer heller, vielleicht sogar unsichtbarer, nichts bleibt als ein schmerzlicher Hauch des Einstigen. Und Marie sagte: »Das Übel in der Welt ist groß, doch die Freude ist größer.«

Ich sagte: »Ach, Marie, du hast die Fremdheit kennengelernt und bist trotzdem glücklich … und du weißt, daß der Tod allein, daß dieser letzte Augenblick allein die Fremdheit aufheben wird, und willst trotzdem leben.«

Sie antwortete: »Wer in Christum ist, ist nie einsam … kommen Sie zu uns.«

»Nein«, sagte ich, »ich gehöre in meine Judenwohnung, ich gehe zu Nuchem.«

Aber es machte keinen Eindruck mehr auf sie.

 


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