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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (13)

Hat diese Zeit, hat dieses zerfallende Leben noch Wirklichkeit? Meine Passivität wächst von Tag zu Tag, nicht weil ich mich an einer Wirklichkeit zerreibe, die stärker wäre als ich, sondern weil ich allenthalben ins Unwirkliche stoße. Ich bin mir durchaus bewußt, daß bloß im Aktiven der Sinn und das Ethos meines Lebens zu suchen ist, aber ich ahne, daß diese Zeit für die einzig wahre Aktivität, für die kontemplative Aktivität des Philosophierens keine Zeit mehr hat. Ich versuche zu philosophieren, – doch wo ist die Würde der Erkenntnis geblieben? ist sie nicht längst erstorben, ist die Philosophie angesichts des Zerfalls ihres Objektes nicht selber zu bloßen Worten zerfallen? Diese Welt ohne Sein, Welt ohne Ruhen, diese Welt, die ihr Gleichgewicht nur in der steigenden Geschwindigkeit noch finden und erhalten kann, ihr Rasen ist zur Schein-Aktivität des Menschen geworden, ins Nichts ihn zu schleudern, – oh, gibt es eine tiefere Resignation als die einer Zeit, die nicht mehr zu philosophieren vermag! Selbst das Philosophieren ist zu einem ästhetischen Spiel geworden, einem Spiel, das es nicht mehr gibt, es ist in den Leerlauf des Bösen geraten, ein Geschäft für Bürger, die sich des Abends langweilen! nichts bleibt uns mehr als die Zahl, nichts bleibt uns mehr als das Gesetz!

Oft scheint es mir, als wäre der Zustand, der mich beherrscht und der mich in dieser Judenwohnung festhält, nicht mehr Resignation zu nennen, als sei er vielmehr eine Weisheit, die sich mit der allumschließenden Fremdheit abzufinden gelernt hat. Denn selbst Nuchem und Marie sind mir fremd, sie, denen meine letzte Hoffnung gegolten hat, die Hoffnung, daß sie meine Geschöpfe seien, die unerfüllbare süße Hoffnung, daß ich ihr Schicksal in die Hand genommen hätte, es zu bestimmen. Nuchem und Marie, sie sind nicht meine Geschöpfe und waren es niemals. Trügerische Hoffnung, die Welt formen zu dürfen!

Besitzt die Welt Eigenexistenz? Nein. Besitzen Nuchem und Marie eine Eigenexistenz? sicherlich nicht, denn kein Wesen führt ein Eigenleben. Aber die Instanzen, welche die Geschicke bestimmen, liegen weit außerhalb meiner Macht- und Denksphäre. Ich selbst kann bloß mein eigenes Gesetz erfüllen, mein eigenes, mir vorgeschriebenes Geschäft versehen, ich bin nicht imstande, darüber hinauszudringen, und mag meine Liebe zu den Geschöpfen Nuchem und Marie auch nicht erlöschen, mag ich auch nicht ablassen im Kampf um ihre Seelen und ihr Geschick, es bleiben die Instanzen, von denen sie abhängen, für mich unerreichbar, sie bleiben vor mir verborgen, so verborgen wie der weißbärtige Großvater, dem ich manchmal wohl im Vorzimmer begegne, der aber seine eigentliche Gestalt erst in der mir ewig verschlossenen Stube annimmt und der bloß durch seinen Delegaten Litwak mit mir verkehrt, sie bleiben mir so verborgen wie der weißbärtige General Booth, dessen Bild im Sprechzimmer des Hospizes hängt. Und wenn ich mir's richtig überlege, so ist es gar kein Kampf, weder gegen den Großvater, noch gegen den Heilsarmeegeneral, vielmehr bemühe ich mich, es ihnen beiden recht zu machen, und ihnen gilt auch mein Werben um Nuchem und Marie, ja, manchmal glaube ich, daß es mir ausschließlich darauf ankommt, mit meinem Tun die Liebe jener Greise zu erringen, auf daß sie mich segnen und ich nicht einsam sterbe. Denn die Wirklichkeit ist bei denen, die das Gesetz gegeben haben.

Ist dies Resignation? ist es Abkehr von allem Ästhetischen? wo stand ich einst? mein Leben verdämmert hinter mir, und ich weiß nicht, ob ich gelebt habe oder ob es mir erzählt worden ist, so sehr ist es in den fernen Meeren versunken. Trugen Schiffe mich dorthin zu den Gestaden des fernen Ostens und des fernen Westens? war ich ein Baumwollpflücker in den Plantagen Amerikas, war ich der weiße Jäger in indischen Elefantendschungeln? alles ist möglich, nichts ist unwahrscheinlich, nicht einmal ein Schloß im Park wäre unwahrscheinlich, Höhe und Tiefe, alles ist möglich, denn nichts ist geblieben in dieser Dynamik, die um ihrer selbst willen da ist, scheinbar in Arbeit, scheinbar in Ruhe und Klarheit: nichts ist geblieben, hinausgeschleudert mein Ich, hinausgeschleudert ins Nichts, unerfüllbar die Sehnsucht, unerreichbar das gelobte Land, unsichtbar die immer größere, niemals erreichbare Helligkeit, und die Gemeinschaft, welche wir suchen, ist eine Gemeinschaft ohne Kraft, doch voll des bösen Willens. Vergebliches Hoffen, oftmals grundloser Hochmut, – es blieb die Welt ein fremder Feind, weniger noch als ein Feind, ein Fremdes, dessen Oberfläche ich wohl abtasten konnte, in das einzudringen mir doch niemals gelang, ein Fremdes, in das ich niemals eindringen werde, fremd in stets zunehmender Fremdheit, blind in stets zunehmender Blindheit, vergehend und zerfallend im Erinnern an die Nacht der Heimat, und schließlich nur mehr ein zerfallender Hauch des Einstigen. Ich bin viele Wege gegangen, um den Einen zu finden, in dem alle anderen münden, indes sie führten immer weiter auseinander, und selbst Gott war nicht von mir bestimmt, sondern von den Vätern.

Ich sagte zu Nuchem: »Ihr seid ein mißtrauisches Volk, ein böses Volk, selbst Gott kontrolliert ihr stets aufs neue in seinem eigenen Buch.«

Er antwortete: »Das Gesetz bleibt bestehen. Gott ist erst, wenn man alles aus dem Gesetz herausgelesen hat.«

Ich sagte zu Marie: »Ihr seid ein braves, aber gedankenloses Volk! Ihr glaubt, daß ihr bloß gut sein braucht und Musik zu schlagen, und daß ihr damit Gott herbeilockt.«

Sie antwortete: »Die Freude an Gott ist Gott, seine Gnade ist unerschöpflich.«

Ich sagte zu mir: »Du bist ein Trottel, du bist ein Platoniker, du glaubst, die Welt erfassend, sie dir gestalten zu können und dich selbst zu Gott zu erlösen. Merkst du nicht, daß du daran verblutest!«

Ich antwortete mir: »Ja, ich verblute.«

 


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