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76

Es war schon nach neun, als es bei Dr. Kessel klingelte. Kuhlenbeck saß mit seiner Zigarre in der Ecke des Kanapees: »Nanu, Kessel, noch ein Patient?« – »Was denn sonst«, erwiderte Kessel, der sich automatisch erhoben hatte, »was denn … keine Nacht, in der man sich ausschlafen dürfte.« Und müde ging er ins Nebenzimmer, um die Tasche zu holen.

Mittlerweile war das Mädchen heraufgekommen: »Herr Doktor, Herr Doktor, der Herr Major ist unten.« – »Wer?« rief Kessel aus dem Nebenzimmer. »Der Herr Major.« – »Das geht mich an«, sagte Kuhlenbeck. »Sofort«, rief Kessel, und, die schwarze Tasche noch in der Hand, eilte er hinaus, den Gast zu empfangen.

Nun stand der Major in der Türe; er lächelte ein wenig verlegen.

»Es war mir bekannt, daß die Herren beisammen sind … und da Sie, Herr Doktor Kessel, mich so freundlich eingeladen hatten, … ich dachte, daß die Herren vielleicht musizierten.«

»Na, Gottseidank, ich meinte schon, es wäre wieder was vorgefallen«, sagte Kuhlenbeck, »... na, um so besser.«

»Nein, es ist nichts vorgefallen«, sagte der Major.

»Keine Revolte also?« sagte Kuhlenbeck in gewohnter Taktlosigkeit und fügte hinzu: »Wer hat eigentlich den idiotischen Artikel im Boten gebracht? der Esch oder der Hanswurst mit dem französischen Namen?«

Der Major antwortete nicht; er war von den Fragen Kuhlenbecks unangenehm berührt. Er bedauerte, hergekommen zu sein. Kuhlenbeck aber fuhr fort: »Na, besonders gut wird es den Herrschaften im Gefängnis nicht eben gehen … aber von der Front sind sie weg und da hätten sie schon allen Anlaß, sich ruhig zu verhalten. Wissen wohl nicht mehr, was für ein Gnadengeschenk es ist, zu leben, einfach zu leben, und mag's noch so schäbig sein … der Mensch hat ein schlechtes Gedächtnis.«

»Zeitungsleute«, sagte der Major, obwohl es keine richtige Antwort mehr war.

»Ich fürchtete schon, wieder weggerufen zu werden«, sagte Kessel, »Hoffentlich gibt's heute keine Störung mehr.«

Kuhlenbeck redete weiter: »Unerhörter Luxus des Staates, in der jetzigen Zeit Zuchthäuser in Betrieb zu halten … außerdem überflüssig … die ganze Welt ist ein Zuchthaus … wird sich ohnehin nicht mehr lang halten … übrigens hätte die Anstalt schon längst evakuiert werden müssen … was machen wir denn mit den Leuten, wenn wir alle übersiedeln?«

»So weit ist es noch nicht«, sagte der Major, »und mit Gottes Hilfe soll es auch nicht so weit kommen.« Er sagte es, aber er glaubte nicht daran. Erst am Nachmittag hatte er wieder einen Geheimbefehl mit Vorschriften für den Fall einer möglichen Evakuierung der Stadt erhalten. Befehle und Gegenbefehle kreuzten sich, und man wußte nicht, was die nächste Stunde bringen würde. Es war ein Pfuhl.

Kuhlenbeck besah seine großen guten Operateurpranken: »Wenn die Franzosen rüberkommen … seien Sie versichert, wir erwürgen sie mit den bloßen Händen.«

Kessel sagte: »Manchmal halte ich es für ein Glück, daß meine arme Frau diese Zeiten nicht miterlebt.« Er schaute auf die Photographie, die mit einem Immortellenkranz und einem Trauerflor geschmückt über dem Klavier hing.

Auch der Major schaute hinauf: »Ihre Frau Gemahlin war gleichfalls musikalisch?« fragte er schließlich. Neben dem Klavier stand das Cello in einem grauen Leinensack, auf dem eine rote Leier und zwei gekreuzte Flöten eingestickt waren. Warum war er hergekommen? warum war er zu den Ärzten gekommen? fühlte er sich krank? er mochte Ärzte doch nicht leiden, sie sind alle Freigeister und unzuverlässig. Wissen nicht, was Ehre ist. Da saß der Oberstabsarzt mit zurückgelehntem Kopf in der Sofaecke, blies Rauchringeln zur Decke, steckte den Kinnbart in die Luft. Das war alles unanständig. Warum war er hergekommen? aber besser noch hier sein als in dem einsamen Hotelzimmer oder in dem Speisesaal, wo jeden Augenblick dieser Huguenau auftauchen konnte. Kessel hatte noch eine Flasche von dem Bernkasteler kommen lassen, und der Major trank hastig ein Glas. Dann sagte er: »Ich dachte, daß die Herren musizieren würden.«

Kessel lächelte abwesend: »Ja, meine Frau war sehr musikalisch.«

Kuhlenbeck sagte: »Wie wär's, Kessel, wenn Sie doch mal Ihre Baßgeige da hervorholten … es wird uns allen gut tun.«

Der Major spürte, daß Kuhlenbeck ihm damit eine Freundlichkeit erweisen wollte, wenn es vielleicht auch ein wenig zu vertraulich war. Er sagte daher bloß: »Ja, es wäre schön.«

Kessel ging zum Cello, und mit einem Blick zur Photographie hinauf entkleidete er das Instrument. Doch dann stockte er: »Ja, wer soll mich aber begleiten?«

»Sie werden es schon alleine schaffen, Kessel«, sagte Kuhlenbeck, »nur Mut.« Kessel zögerte noch ein wenig: »Ja, was soll ich spielen?« – »Etwas fürs Gemüt«, sagte Kuhlenbeck, und Kessel zog einen Stuhl heran, setzte sich neben das Klavier, als wäre da jemand, ihn zu begleiten; er schlug eine Taste an, fuhr über die Saiten des Bogens und stimmte das Instrument. Dann schloß er die Augen.

Er spielte die Cellosonate e-moll op. 38 von Brahms. Sein mildes Gesicht war seltsam nach innen gekehrt, der graue Schnurrbart über den eingezogenen Lippen war kein Schnurrbart mehr, sondern ein grauer Schatten, die Falten der Wangen hatten sich anders gelagert, es war kein Gesicht mehr, fast unsichtbar war es, vielleicht eine graue Herbstlandschaft in Erwartung des Schnees. Und auch als eine Träne längs der Nase heruntersickerte, war es keine Träne mehr. Nur die Hand war noch Hand, und es war, als hätte der Bogenstrich alles Leben zu ihr hingezogen, gehoben und gesenkt von den Wellen des braunen weichen Stroms der Töne, der immer breiter wurde und ihn, der dort spielte, umfloß, so daß er sehr allein und abgetrennt war. Er spielte. Wahrscheinlich war er bloß ein Dilettant, aber das dürfte für ihn, das dürfte für den Major und wohl auch für Kuhlenbeck gleichgültig gewesen sein: denn die lärmende Stummheit dieser Zeit, ihres Getöses stummer und undurchdringlicher Schall, aufgerichtet zwischen Mensch und Mensch, eine Wand, durch die des Menschen Stimme nicht hinüber, nicht herüber mehr dringt, so daß er erbeben muß, – aufgehoben war die entsetzliche Stummheit der Zeit, es war die Zeit selber aufgehoben und sie hatte sich zum Raum geformt, der sie alle umschloß, da nun Kessels Cello erklang, aufsteigend der Ton, den Raum aufbauend, den Raum erfüllend, sie selber erfüllend.

Als die Musik verklungen war, und Dr. Kessel wieder zu Dr. Kessel wurde, gab sich der Major einen kleinen Ruck, um in einer vorschriftsmäßigen Haltung die Rührung zu verbergen. Und er wartete, daß Kessel nun etwas Tröstliches sagen werde, – jetzt hätte es doch gesagt werden dürfen! Aber Dr. Kessel senkte bloß den Kopf und man sah die schütteren Locken keine steife graue Bürste wie bei Esch –, die dünn die Glatze bedeckten. Fast beschämt räumte er das Instrument weg, sackte es in die Leinwand ein, was einen beinahe unanständigen Eindruck machte, und Kuhlenbeck in seiner Sofaecke äußerte nichts als: »Tja.« Vielleicht schämten sie sich alle drei.

Endlich sagte Kuhlenbeck: »Tja, Ärzte sind eben musikalisch.«

Der Major suchte in seinem Gedächtnis. In seiner Jugend hatte er einen Freund gehabt, war es ein Freund gewesen? der hatte Geige gespielt, aber es war kein Arzt, obwohl er … mag sein, daß er Arzt gewesen war oder hatte werden wollen. Das Gedächtnis setzte aus, das Gedächtnis wurde starr, die Bewegung erstarrte, und der Major sah bloß seine eigene nackte Hand auf dem schwarzen Stoff der Uniformhose. Und wider den eigenen Willen sprachen die Lippen: »Nackt und bloß ausgestellt …«

»Hallo«, sagte Kuhlenbeck.

Der Major wandte sich ihm zu: »Ach nichts … es sind arge Zeiten … Seien Sie bedankt, Herr Doktor Kessel.«

Nun sagte auch Kessel: »Ja, die Musik ist ein Trost in dieser Zeit … es bleibt uns sonst nicht mehr viel.«

Kuhlenbeck schlug auf den Tisch: »Wir wollen hier nicht Trübsal blasen … und wenn die Welt voll Teufel wär', wer lebt, darf nicht verzweifeln … lassen Sie bloß Frieden sein, und wir rappeln uns schon wieder auf!«

Der Major schüttelte den Kopf: »Gegen elenden Verrat ist man machtlos.« Das Bild Eschs stand vor ihm, dieses gelbbraune Gesicht mit dem herausfordernden Lächeln, ja, herausfordernd war das richtige Wort, dieses Gesicht, das dennoch irgendwie um Verzeihung bat, und es hatte den vorwurfsvollen Ausdruck eines gestürzten Pferdes.

»Wir Deutschen sind immer verraten worden«, sagte Kuhlenbeck, »und wir leben trotzdem.« Er hob das Glas: »Es lebe Deutschland!« Auch der Major hob das Glas, und er dachte: »Deutschland«, dachte an eine gute Ordnung und an die Geborgenheit, die Deutschland ihm bisher gewesen war. Er sah Deutschland nicht mehr. Irgendwie machte er Huguenau für das Unglück des Vaterlands verantwortlich, für die Truppendurchmärsche, für die widersprechenden Befehle der Heeresleitung, für die unritterlichen Waffen des Gaskriegs, für die wachsende allgemeine Unordnung. Und schier hätte er gewünscht, daß das Bild Eschs mit dem Huguenaus zu einem einzigen verschwimmen und verfließen möge, erweisend, daß sie beide Stellvertreter des Bösen seien, beides Abenteurer, emporgetaucht aus dem unentwirrbaren Getriebe voller Geschäfte und Gesichter, die man nicht verstand, beide unzuverlässig und verächtlich, schuldtragend, dämonisch schuldtragend am unheilvollen Ausgang des Krieges.

Kessel sagte: »Ich habe abgeschlossen … ich tue meine Pflicht, aber ich habe abgeschlossen.«

Unentwirrbar war das Leben, das Netz des Bösen lag über der Welt, und der stumme gewaltige Lärm hatte wieder angehoben. Wer vom strengen Pfad der evangelischen Pflicht abweicht, ist sündig, und sündig war die Hoffnung gewesen, daß die Gnade schon im Irdischen sich erfülle, verkündet von des Freundes Stimme, die das Schweigen und die Starrheit des Panzers zerbricht und die Einsamkeit erlöst zu süßem Hinströmen. Und der Major sagte: »Wir sind vom Pfade der Pflicht abgewichen und müssen die Strafe ertragen.«

»Nanu, Herr Major«, Kuhlenbeck lachte, »dafür bin ich nicht zu haben, wohl aber dafür, den Pfad nach Hause anzutreten, damit unser müder Kessel endlich ins Bett kommt.« Er war aufgestanden, der Uniformrock hing etwas weitfaltig um seinen massigen Körper. Ein verkleideter Zivilist, mußte der Major denken, – es war nicht des Königs Rock. Major v. Pasenow hatte sich gleichfalls erhoben. Warum war er hierhergekommen, er, der den Rock des Königs trug? Die irdische Pflicht ist Abbild des göttlichen Gebots, und der Dienst an etwas Größerem als man selbst ist, verpflichtet den Menschen zur Unterordnung unter die höhere Idee, verlangt von ihm, daß er auch den letzten schmalen Streifen persönlicher Freiheit aufgebe, wenn es not tut. Freiwilliger Gehorsam, ja, das war die von Gott bestimmte Position, alles andere ist als nichtexistent anzusehen. Der Major zog den Rock glatt, griff an das Band des Eisernen Kreuzes, und mit der vorschriftsmäßigen Haltung, in der er sich verabschiedete, fand er zu jener Klarheit und Geborgenheit zurück, die Pflicht und Uniform dem Menschen verleiht.

Dr. Kessel hatte sie die Treppe hinunterbegleitet. Bei der Haustüre sagte der Major mit einiger Förmlichkeit: »Ich danke Ihnen, Herr Doktor Kessel, für den Kunstgenuß, den Sie uns bereitet haben.« Kessel zögerte ein wenig mit der Antwort und dann sagte er leise: »Ich habe zu danken, Herr Major, … es ist das erstemal seit dem Tode meiner armen Frau, daß ich wieder musiziert habe.« Indes der Major hörte es nicht, sondern gab ihm bloß mit etwas steifer Geste die Hand. Er ging mit Kuhlenbeck durch enge Gassen, sie gingen über den Marktplatz, dünner Herbstregen strich ihnen schräg entgegen, sie trugen beide graue Offiziersmäntel, trugen beide Offiziersmützen, und waren trotzdem nicht Kameraden in des Königs Rock. Dies konstatierte der Major.

 


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