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Zerfall der Werte (3)

Die Prävalenz des Baustils innerhalb der Charakteristika einer Epoche ist eine der sonderbarsten Angelegenheiten. Überhaupt diese ganz merkwürdige Vorzugsstellung, die die bildende Kunst innerhalb der Historie erhalten hat! Sie ist gewiß nur ein sehr geringer Ausschnitt aus der Fülle der menschlichen Tätigkeiten, von denen eine Epoche erfüllt ist, sicherlich nicht einmal ein sehr geistiger Ausschnitt und doch überragt sie an Charakterisierungskraft alle anderen geistigen Gebiete, überragt die Dichtung, überragt sogar die Wissenschaft, überragt sogar die Religion. Was durch die Jahrtausende hin dauert, ist das bildende Kunstwerk, es bleibt der Exponent der Epoche und ihres Stils.

Es kann nicht nur an der Haltbarkeit des Materials liegen: aus den letzten Jahrhunderten hat sich beschriebenes Papier die Menge erhalten, und dennoch ist jede gotische Statue »mittelalterlicher« als alle mittelalterliche Literatur. Nein, das wäre eine sehr dürftige Erklärung, – ist eine Erklärung möglich, so muß sie in der Wesenheit des Begriffes »Stil« selber gefunden werden.

Denn Stil ist sicherlich nicht etwas, das sich auf das Bauen oder auf die bildende Kunst beschränkt, Stil ist etwas, das alle Lebensäußerungen einer Epoche in gleicher Weise durchzieht. Widersinnig wäre es, den Künstler als Ausnahmsmenschen anzusprechen, als einen, der eine Art Sonderexistenz innerhalb des Stils führt und ihn produziert, während die anderen ausgeschlossen bleiben.

Nein, wenn es Stil gibt, so sind alle Lebensäußerungen von ihm durchdrungen, dann ist der Stil einer Periode ebensowohl in ihrem Denken vorhanden, als in jeder Handlung, die von den Menschen dieser Periode gesetzt wird. Und bloß aus diesem Faktum heraus, das sein muß, weil es anders nicht sein kann, ist die Erklärung für die verwunderliche Tatsache zu suchen, daß gerade jene Handlungen, welche sich im Räumlichen manifestieren, von so außerordentlicher, im wahren Sinn des Wortes sichtbarer Bedeutung geworden sind.

Vielleicht wäre es müßig, darüber nachzudenken, wenn nicht das Problem dahinterstünde, das allein alles Philosophieren legitimiert: die Angst vor dem Nichts, die Angst vor der Zeit, die zum Tode führt. Und vielleicht ist all die Beunruhigung, die von schlechter Architektur ausgeht und die es dahin bringt, daß ich mich in meiner Wohnung verkrieche, vielleicht ist sie nichts anderes als jene Angst. Denn was immer der Mensch tut, er tut es, um die Zeit zu vernichten, um sie aufzuheben, und diese Aufhebung heißt Raum. Selbst die Musik, die bloß in der Zeit ist und die Zeit erfüllt, wandelt die Zeit zum Räume, und daß alles Denken im Räumlichen vor sich geht, daß der Denkprozeß eine Verquickung unsagbar verwickelter vieldimensionaler logischer Räume darstellt, diese Theorie besitzt allergrößte Wahrscheinlichkeit. Ist dem aber so, dann mag es auch klar sein, daß allen jenen Manifestationen, die sich unmittelbar auf den Raum beziehen, eine Bedeutung und eine Sinnfälligkeit zukommt, wie sie keiner andern menschlichen Tätigkeit je zukommen kann. Und auch die besondere symptomatische Bedeutung des Ornaments wird daran klar. Denn das Ornament, losgelöst aus jeglicher Zweckform, wenn auch aus ihr herausgewachsen, wird zum abstrakten Ausdruck, zur »Formel« des ganzen Raumgedankens, wird zur Formel des Stils selber, und damit zur Formel der ganzen Epoche und ihres Lebens.

Und darin scheint mir jene, fast möchte ich sagen, magische Bedeutung zu liegen, wird es bedeutsam, daß eine Epoche, die völlig dem Sterben und der Hölle verhaftet ist, in einem Stil leben muß, der kein Ornament mehr hervorzubringen vermag.

 


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