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Der Abschied von Heinrich war sonderbar schmerzlos verlaufen. Soweit physische und seelische Belange auseinanderzuhalten sind, war es ein ausschließlich physisches Ereignis gewesen. Als Hanna vom Bahnhof heimkam, fühlte sie sich selber ein wenig wie ein leerstehendes Haus, in dem man die Gardinen heruntergelassen hat. Das war alles. Im übrigen wußte sie mit aller Bestimmtheit, daß Heinrich aus dem Kriege heil zurückkehren werde. Und mit dieser Gewißheit, die Heinrich nicht zum Märtyrer werden ließ, war nicht nur die gefürchtete angstvolle Sentimentalität am Bahnhof glücklich vermieden, sondern es war – weit über die Unannehmlichkeit des Abschieds hinaus – auch der Wunsch, Heinrich möge nie mehr zurückkehren, ins Abstruse und Gefahrlose verschoben worden. Wenn sie zu dem Jungen sagte: »Vati wird bald wieder bei uns sein«, so wußten sie wohl beide, wie sie's meinte.

Das physische Ereignis als welches sie diese sechswöchige Urlaubszeit sohin mit Fug bezeichnen durfte, stellte sich jetzt in ihrem Geiste wie eine Verengung ihres Lebensstromes dar, wie eine Verengung ihres Ichs; es war wie ein Eindämmen ihres Ichs in die Grenzen der Körperlichkeit gewesen, wie ein schäumendes Hindurchpressen eines Flusses durch eine Klamm. Hatte sie, wenn sie es recht bedachte, stets das Gefühl gehabt, als werde ihr Ich nicht durch ihre Haut begrenzt und als könnte es durch die sehr durchlässige Haut bis in die Seidenwäsche dringen, die sie am Leibe trug, und war es fast, als würden sogar ihre Kleider einen Hauch ihres Ichs beherbergen (daher wohl die große Sicherheit in Modedingen), ja war es fast, als lebte dieses Ich weit außerhalb des Leibes, viel eher ihn umgebend als in ihm wohnend, und als würde es nicht mehr in ihrem Kopfe denken, sondern irgendwie außerhalb desselben, sozusagen auf einer höheren Warte, von der aus sie ihre eigene Körperlichkeit, wie sehr wichtig diese auch sein mochte, als eine kleinwinzige Belanglosigkeit betrachten konnte, so war während der sechswöchigen Dauer des physischen Ereignisses, während des stürzenden Durchgangs durch die Klamm, von all der diffusen Weiträumigkeit nur mehr ein glitzernder Dunst übrig geblieben, ein Regenbogenglast über den tosenden Wassern, gewissermaßen das letzte Refugium der Seele. Jetzt aber, da sich die gemächliche Ebene wieder weitete und es gleichsam ein Abnehmen der Fesseln war, da wurde solches Aufatmen und Glätten gleichzeitig zu dem Wunsche, die tosende Enge zu vergessen. Dieses Vergessen ging nun allerdings höchst stückweise vor sich. Alles Persönliche war verhältnismäßig geschwind versunken, das Gehaben Heinrichs, seine Stimme, seine Worte, sein Gang, all dies tauchte sehr bald unter; das Generelle hingegen blieb. Oder um ein unanständiges Gleichnis zu gebrauchen: zuerst verschwand sein Gesicht, dann alles Bewegte an ihm, Hände und Füße, aber der unbewegte und starrende Leib, dieser Torso, der vom Brustkorb bis zu den Schenkelstümpfen reichte, dieses höchst laszive Bild des Mannes, das erhielt sich in der Tiefe ihres Gedächtnisses, ein Götterbild, eingebettet in die Erde oder überspült von den Uferwellen des Tyrrhenischen Meeres. Und je weiter solch stückweises Vergessen fortschritt – und das war das Fürchterliche daran –, je mehr sich dieses Götterbild verkürzte, desto konzentrischer und isolierter wurde seine Anstößigkeit, eine Anstößigkeit, an die das Vergessen immer langsamer und langsamer, mit immer schmäleren Schnitten heranrückte, – ohnmächtig vor der Anstößigkeit. Das ist bloß Gleichnis, und wie jedes Gleichnis vergröbert auch dieses den wahren Sachverhalt, der, stets im Schattenhaften bleibend, ein Durcheinanderfließen von unklaren Vorstellungen ist, ein Fluten halberinnerter Erinnerungen, halbgedachter Gedanken, halbgewollter Wollungen, ein Fluß ohne Ufer mit silbrigem Dunst darüber, silbriger Hauch, der bis in die Wolken und zu den schwarzen Sternen reicht. So war der Torso im Schlamm des Flusses kein Torso, er war ein abgeschliffener Kiesel, er war ein isoliertes Stück Möbel, Hausrat oder Unrat, hineingeworfen in den Strom des Geschehens, ein Klumpen, hineingeworfen in die Uferwellen: Welle rollte um Welle, Tag wob sich um Nacht, und Nacht wob sich um Tag, und was die Tage einander reichten, war unkenntlich, manchmal noch unkenntlicher als die Träume, die einander folgten, und manchmal war da etwas darunter, das an das geheime Wissen von Schulmädchen gemahnte und dennoch irgendwie den geheimen Wunsch erweckte, solchem infantilen Wissen zu entflüchten, in die Welt des Individuellen zu flüchten und das Gesicht Heinrichs wieder der Vergessenheit zu entreißen. Aber das war bloß ein Wunsch, und seine Erfüllung hätte mindestens ebensoviel Möglichkeiten zugelassen als es Ergänzungsmöglichkeiten für einen griechischen Torso gibt, den man in der Erde gefunden hat: d.h. es war ein unerfüllbarer Wunsch.

Für den ersten Blick dürfte es belanglos erscheinen, ob in dem Gedächtnis der Hanna Wendling das Individuelle oder das Generelle die Oberhand behält. Aber in einer Zeit, in der sich das Generelle so allgemein sichtbar zum Dominierenden aufgeschwungen hat, wo der soziale Verband des Humanen, der bloß von Individuum zu Individuum sich spinnt, aufgelöst ist zugunsten von Kollektivbegriffen bisher nie geahnter Einheitlichkeit, wo ein entindividualisierter Zustand voller Grausamkeit eingetreten ist, wie er eigentlich bloß der Kindheit und dem Senium entspricht, da wird auch das Einzelgedächtnis sich solch allgemeiner Regel nicht entziehen, und die Vereinsamung einer höchst unbeträchtlichen Frau, mag dieselbe auch hübsch sein und ihrem Partner eine gute Bettgefährtin, kann nicht mit dem leider erfolgten Entzug sexueller Befriedigung erklärt werden, sondern bildet einen Teil des Ganzen, spiegelt wie jedes Einzelschicksal ein metaphysisches Walten wider, das über die Welt verhängt ist, ein, wenn man will, physisches Ereignis, dessenungeachtet metaphysisch in seiner Tragik: denn diese Tragik heißt Vereinsamung des Ichs.

 


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