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Als man den Maurer und Landwehrmann Ludwig Gödicke aus dem verschütteten Graben herausbuddelte, war sein zum Schreien geöffneter Mund mit Erde angefüllt. Sein Gesicht war blau und schwärzlich, und der Herzschlag war nicht zu finden. Hätten die beiden Sanitätssoldaten, die ihn in die Hände bekamen, nicht über seinen Tod und sein Leben eine Wette abgeschlossen, so wäre er kurzerhand wieder begraben worden. Daß er die Sonne und die besonnte Welt aufs neue sehen sollte, verdankte er jenen 10 Zigaretten, die den Siegespreis der Wette gebildet hatten.

Mit der künstlichen Atmung kamen die beiden zwar nicht ganz zurecht, obwohl sie sich heftig abmühten und schwitzten; aber sie nahmen ihn mit und bewachten ihn gut, beschimpften ihn auch öfters, weil er das Rätsel seines Lebens, das hier das Rätsel seines Todes war, nicht und nicht offenbaren wollte, und sie ließen nicht ab, ihn den Ärzten zuzuschieben. So lag das Objekt ihrer Wette vier Tage lang im Feldlazarett, lag unbeweglich und mit schwarzer Haut. Ob während dieser Zeit ein Gefühl letzten schlummernden kleinen Lebens geglimmt haben mochte, ob dieses winzige Leben unter Schmerz und Alpdruck durch die Ruine des Körpers gejagt worden war, oder ob es ein leises und beglückendes Pochen am Rande eines großen Abgrundes gewesen, das wissen wir nicht und der Landwehrmann Gödicke hätte nicht die Möglichkeit gehabt, darüber Auskunft zu erteilen.

Denn nur stückweise, sozusagen halbzigarettenweise, trat das Leben in seinen Körper, und diese Langsamkeit und diese Vorsicht waren zweckentsprechend und natürlich, denn der zerquetschte Körper verlangte nach äußerster Regungslosigkeit. Viele lange Tage dürfte Ludwig Gödicke sich für das Wickelkind gehalten haben, das er vor vierzig Jahren gewesen war, eingeschnürt von einem unbegreiflichen Zwang und nichts fühlend als diesen Zwang. Und wenn er die Fähigkeit dazu gehabt hätte, er hätte wohl nach der Milchbrust der Mutter gegreint, und tatsächlich kam dann auch bald eine Zeit, in der er zu wimmern anhob. Es begann während des Transportes und war wie das wehe unablässige Wimmern eines Neugeborenen anzuhören; keiner wollte neben ihm liegen und eines Nachts hatte ein Bettnachbar sogar etwas nach ihm geworfen. Es war die Zeit, in der man glaubte, daß er schließlich werde verhungern müssen, da es für die Ärzte keinerlei Möglichkeit gab, ihm Nahrung einzuflößen. Daß er weiterlebte, war unerklärlich, und die Meinung des Oberstabsarztes Kuhlenbeck, es hätte der Körper von all dem unter die Haut gequetschten Blute gelebt, verdiente kaum den Namen einer Meinung, geschweige denn den einer Theorie. Besonders der Unterleib war arg hergenommen. Man machte ihm kühle Packungen, doch ob sie ihm Linderung brachten, das war nicht zu erkennen. Ja, vielleicht litt er gar nicht mehr so arg, denn das Wimmern verstummte allmählich. Bis es nach einigen Tagen verstärkt wieder hervorbrach: es war jetzt – oder man kann sich vorstellen, daß es so war – als würde Ludwig Gödicke die Stücke seiner Seele bloß einzeln zurückerhalten und als würde ihm jedes einzelne auf einer Woge von Qual einhergeschwemmt. Und es mochte wohl so gewesen sein, muß es auch unbestätigt bleiben, daß der Schmerz einer in Atome zerrissenen und zerstäubten Seele, die wieder in die Einheit gezwungen wird, größer ist als jeder andere Schmerz, ärger als die Schmerzen des Gehirns, das von stets erneuten Krampfwellen durchzittert wird, ärger als alle körperlichen Qualen, die den Prozeß begleiten.

So lag der Landwehrmann Gödicke auf luftgeschwellten Kautschukringen in seinem Bette, und während man seinem ausgemergelten Leib, dem anders kaum beizukommen war, nun langsam Nährklismen einlaufen ließ, versammelte sich seine Seele, unverständlich dem Oberstabsarzt Kuhlenbeck, unverständlich dem Oberarzt Flurschütz, unverständlich der Schwester Carla, versammelte sich seine Seele qualvoll um sein Ich.

 


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