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Zerfall der Werte (8)

Religionen entstehen aus Sekten und zerfallen wieder in Sekten, kehren zu ihrem Ursprung zurück, ehe sie sich gänzlich auflösen. Am Anfang des Christentums standen die einzelnen Christus- und Mithraskulte, an seinem Ende stehen die grotesken amerikanischen Sekten, steht die Heilsarmee.

 

Der Protestantismus, die erste große Sektenbildung des christlichen Zerfalls. Eine Sekte, keine neue Religion. Denn das wichtigste Merkmal einer neuen Religion fehlte: die neue Theologie, welche eine neue Kosmogonie mit dem neuen Gotteserlebnis zu neuer Weltganzheit amalgamiert. Der Protestantismus aber, undeduktiv und untheologisch seinem Wesen nach, lehnte es ab, aus dem Bereich des autonomen inneren Gotteserlebnisses herauszutreten.

 

Die Kantsche Erneuerung als nachträgliche protestantische Theologie nahm zwar die Aufgabe auf sich, dem neuen positivistisch-wissenschaftlichen Inhalt den religiös-platonischen Gehalt zu verleihen, doch weit war sie davon entfernt, eine theologische Wertgesamtheit nach katholischem Muster anzustreben.

 

Der Schutz gegen einen fortschreitenden Sektenzerfall des Katholizismus wurde durch die Jesuiten der Gegenreformation in einer drakonischen, geradezu militärischen Wertzentralisation organisiert. Es war die Zeit, in der sogar die Reste der alten heidnischen Volksbräuche in den Dienst der Kirche gestellt wurden, in der die Volkskunst ihre katholische Wendung erfuhr, in der die Jesuitenkirche einen noch nie erhörten Pomp entfaltete, eine ekstatische Einheit bezweckend und erzielend, die zwar nicht mehr die symboldurchtränkte Einheit der Gotik war, wohl aber ihr heroisch-romantisches Widerspiel.

 

Der Protestantismus mußte solchen Schutzes gegen den weiteren Sektenzerfall entraten. Sein Verhältnis zu den außerreligiösen Wertgebieten ist nicht das der Einbeziehung, sondern das der Tolerierung. Er verschmäht die außerreligiöse »Hilfe«, denn seine asketische Forderung geht nach radikaler Innerlichkeit des Gotteserlebnisses. Und war auch ihm der ekstatische Wert Urgrund und oberster Sinn des Religiösen, so sollte dieser Wert mit absoluter Strenge rein und ungebrochen und autonom aus dem religiösen Wertgebiet selber gewonnen werden.

 

Das Verhältnis der Strenge ist es, nach welchem der Protestantismus sein Verhältnis zu den außerreligiösen irdischen Wertgebieten regelt und mit welchen er auch selber seinen irdischen und kirchlichen Bestand zu sichern trachtet. Rein und einsinnig auf Gott gerichtet, wird er notwendig auf die einzig vorhandene geistig-irdische Emanation Gottes verwiesen: auf die Heilige Schrift, – und die Bindung an die Schrift erhebt sich zu jener obersten irdischen Pflicht, auf welche die ganze Radikalität, die ganze Strenge der protestantischen Methode übertragen wird.

 

Der protestantischeste Gedanke: der kategorische Imperativ der Pflicht. Der ganze Gegensatz zum Katholizismus: die äußeren Lebenswerte werden nicht in den Glauben einbezogen, werden nicht theologisch kanonisiert, sondern sie werden bloß an Hand der Schrift streng und fast nüchtern überwacht.

 

Hätte der Protestantismus den andern, den katholischen Weg eingeschlagen, um seinerseits zu einem protestantischen Wert-Organon zu gelangen, wie dies z. B. Leibniz vorgeschwebt hatte, er hätte sich vielleicht nicht minder wirksam als der Katholizismus gegen eine weitere Sektenabspaltung geschützt, aber er hätte notgedrungen seine eigene Wesenheit aufgegeben. Er befand und befindet sich in der Situation einer revolutionären Partei, die Gefahr läuft, sich mit dem bekämpften alten Staat identifizieren zu müssen, wenn sie dessen Machtmittel ergriffen hat. Der gegen Leibniz erhobene Vorwurf des Kryptokatholizismus war nicht ganz unberechtigt.

 

Keine Strenge, hinter der nicht Angst stünde. Aber die Angst vor dem Sektenzerfall wäre ein viel zu kleines Motiv, um die protestantische Strenge zu erklären. Und die Flucht in die Buchstabentreue, die Flucht in die Schrift, ist geschwängert von der göttlichen Angst, von jener Angst, die aus der poenitentia Luthers hervorbricht, jener »absoluten« Angst vor der »Grausamkeit« des Absoluten, die Kierkegaard erlebt hat und in der Gott »trauernd thront.«

 

Es ist, als wollte der Protestantismus mit der Bindung an die Schrift den letzten Hauch der Sprache Gottes in einer Welt bewahren, die in der Sprache der Dinge verstummt war, verfallen in die Stummheit und Grausamkeit des Absoluten, – und in göttlicher Angst erkannte der protestantische Mensch, daß es das eigene Ziel ist, vor dem ihm graut. Denn mit der Ausschaltung aller Wertgebiete, mit der radikalen Rückverweisung ins autonome Gotteserlebnis wird eine letzte Abstraktion vorgenommen, deren logische Rigorosität unzweideutig zur Aufhebung jedweden irdisch-religiösen Glaubensinhalts hindrängt, zu einer absoluten Inhaltsentblößung, nichts übrig lassend als die reine Form, die reine, inhaltsentleerte und neutrale Form einer »Religion an sich«, einer »Mystik an sich«.

 

Auffallend die Übereinstimmung mit der religiösen Struktur des Judentums: vielleicht ist hier der Prozeß der Neutralisierung des Gotteserlebnisses, die Entblößung des Mystischen von allem Gefühlsmäßig-Irdischen, die Eliminierung der »äußeren« ekstatischen Hilfen noch weiter vorgeschritten, vielleicht ist hier eine für den irdischen Menschen kaum mehr zu ertragende Annäherung an die Kälte des Absoluten schon erreicht, – doch auch hier besteht als letzter Bindungsrest an das Irdisch-Religiöse die ganze Strenge und Rigorosität des Gesetzes.

 

Diese Übereinstimmung im Prozeß der Verinnerlichung, diese Übereinstimmung der Glaubensformen, deren Auswirkung sogar bis in eine oft behauptete Übereinstimmung gewisser Charakterzüge orthodoxer Juden mit denen calvinistischer Schweizer oder puritanischer Engländer hinabreichen soll, diese Übereinstimmung ließe sich natürlich auch auf eine gewisse Ähnlichkeit der äußeren Situation zurückführen: der Protestantismus als revolutionäre Bewegung, das Judentum als gedrückte Minorität, sie sind beide oppositionell, und es ließe sich sogar sagen, daß selbst ein in die Minorität geratener Katholizismus, wie etwa in Irland, die gleichen Wesenszüge aufweist. Doch ein Katholizismus solchen Schlages hat dann mit dem römischen ebensowenig gemein wie der ursprüngliche protestantische Gedanke mit den römischen Tendenzen innerhalb der High Church. Es ist einfach eine Umkehrung des Vorzeichens eingetreten. Wie immer aber auch derartige empirische Fakten ausgelegt werden, ihr Erklärungswert ist gering, – denn die Fakten wären nicht vorhanden, stünde hinter ihnen nicht das entscheidende Gotteserlebnis.

 

Ist es diese stumme und radikale und ornamentlose Religiosität, ist es diese der Strenge und nur der Strenge unterworfene Unendlichkeit, die den Stil der neuen Epoche ausmacht? liegt in dieser Rigorosität des Göttlichen die Manifestation des in die unendliche Ferne gerückten Plausibilitätspunktes? ist in dieser Alleszermalmung des Inhaltlich-Irdischen die Wurzel der Wertzersplitterung zu sehen? Ja.

 

Der Jude, kraft der abstrakten Strenge seiner Unendlichkeit, der moderne, der »fortgeschrittenste« Mensch kat'exochen: er ist es, der sich mit absoluter Radikalität dem einmal gewählten Wert- und Berufsgebiet hingibt, er ist es, der den »Beruf«, den Erwerbsberuf, in den er zufällig geraten ist, zu einer bisher ungekannten Absolutheit steigert, er ist es, der, ohne Bindung an ein anderes Wertgebiet und in unbedingter Strenge hingegeben an sein Tun, zur höchsten geistigen Leistung sich verklärt, zur viehischesten Verworfenheit im Materiellen sich erniedrigt: im Bösen wie im Guten, doch immer im Extremen bleibend, – es ist, als ob der Strom des absolut Abstrakten, der seit zweitausend Jahren wie ein kaum sichtbares Bächlein des Ghettos neben dem großen Strom des Lebens geflossen ist, nun zum Hauptstrom werden sollte, es ist, als ob die Radikalität des protestantischen Gedankens die ganze Furchtbarkeit der Abstraktion, die zweitausend Jahre lang der Obhut des Unscheinbarsten anheim gegeben und auf ihr Minimum reduziert gewesen war, virulent gemacht hätte, als ob er die absolute Ausdehnungsfähigkeit, die potentiell dem rein Abstrakten und nur diesem innewohnt, explosionsartig entfesselt hätte, auf daß die Zeit zersprengt und der unscheinbare Hüter des Gedankens zur paradigmatischen Inkarnation der zerfallenden Zeit werde.

Scheinbar gibt es für den christlichen Menschen bloß zwei Möglichkeiten: entweder die vorläufig noch vorhandene Geborgenheit im katholischen Allwert, im wahrhaft mütterlichen Schoß der Kirche, oder der Mut, mit einem absoluten Protestantismus das Grauen vor dem abstrakten Gott auf sich zu nehmen, – wo diese Entscheidung nicht getroffen ist, dort lastet die Angst vor dem Kommenden. Und tatsächlich ist es so, daß in allen Ländern der Unentschiedenheit diese Angst unausgesetzt umgeht und latent vorhanden ist, mag sie auch bloß in dem Grauen vor dem Juden zum Ausdruck kommen, vor dem Juden, dessen Geist und dessen Lebensführung als verhaßtes Bild des Kommenden, wenn zwar nicht erkannt, so doch gefühlt wird.

 

In der Idee eines protestantischen Wert-Organons lebt sicherlich die Sehnsucht nach Wiedervereinigung der Gesamtchristlichkeit, nach jener Wiedervereinigung, die auch Leibniz angestrebt hat: daß er, der alle Wertgebiete seiner Zeit umfaßte, dazu gedrängt worden war, wird fast als Notwendigkeit empfunden, ebenso aber daß er, der Jahrhunderte vorweggenommen und die lingua universalis der Logik vorausgesehen hat, in jener letzten Vereinigung auch die Abstraktheit einer religio universalis gedacht haben mußte, deren Kälte zu ertragen, vielleicht bloß er fähig war, er, der tiefste Mystiker des Protestantismus. Doch die protestantische Linie verlangte erst die Alleszermalmung; nicht Leibnizens Philosophie wurde zur protestantischen Theologie, sondern die Kants, und die Wiederentdeckung Leibniz' geschah bezeichnenderweise durch katholische Theologen.

All die vielen Sektenbildungen, die sich in der Folge vom Protestantismus abspalteten und von ihm mit jener scheinbaren Toleranz geduldet wurden, die jeder revolutionären Bewegung eigentümlich ist, sie bewegen sich in der nämlichen Richtung, sind Abklatsch, Verkleinerung, Verflachung des alten Gedankens eines protestantischen Wert-Organons, sind »gegenreformatorisch« eingestellt: von den grotesken amerikanischen Sekten ganz zu schweigen, zeigt z.B. die Heilsarmee nicht nur eine dem Jesuitismus der Gegenreformation gemäße militärische Aufmachung, sondern auch ganz deutlich die Tendenz zur Wertzentralisation, zur Sammlung aller Wertgebiete, zeigt, wie alle Volkskunst bis herab zum Gassenhauer wieder ins Religiöse zurückgeleitet und in das Programm der »ekstatischen Hilfen« gestellt werden soll. Rührendes und unzulängliches Mühen.

 

Rührendes und unzulängliches Mühen, trügerische Hoffnung, den protestantischen Gedanken aus dem Grauen des Absoluten zu retten. Rührender Ruf nach Hilfe, Ruf nach den »Hilfen« einer göttlichen Gemeinschaft, und mag sie auch nur noch als Abklatsch einer großen einstigen Gemeinschaft fühlbar sein. Denn die Stummheit, das Grausame, das Neutrale in seiner ganzen Strenge steht vor der Türe, und der Hilferuf wird immer dringender von allen denen erhoben, die nicht fähig sind, das Kommende auf sich zu nehmen.

 


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