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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (11)

Ich ziehe mich von den Juden möglichst zurück, aber nach wie vor bin ich gezwungen, sie weiter zu beobachten. So muß ich mich über die Vertrauensstellung, die der Halbfreigeist Simson Litwak bei ihnen einnimmt, stets aufs neue wundern. Es ist offenkundig, daß dieser Litwak ein Dummkopf ist, den man hatte studieren lassen, bloß weil er zu einer richtigen Beschäftigung nicht taugte, – man braucht nur sein glattes nacktes Gesicht, das aus seinem Umhängebart nun auch schon über fünfzig Jahre in die Welt hineinschaut, mit den zerfurchten, zerdachten Gesichtern der Judengreise zu vergleichen! – und trotzdem scheint er bei ihnen als eine Art Orakel zu gelten, das sie bei jeder Gelegenheit heranholen. Vielleicht ist's ein Rest des Glaubens an den Lallenden, der das Sprachrohr Gottes sein soll, denn Respekt vor der Wissenschaft kann's nicht sein; sie sind sich allzu sehr bewußt, die bessere Wissenschaft zu besitzen. Es ist kaum anzunehmen, daß ich mich täusche. Dr. Litwak freilich sucht diesen Sachverhalt zu bemänteln, aber es gelingt ihm schlecht. Die Geschichte mit seiner Aufgeklärtheit ist nämlich bloßer Schwindel; seine Ehrfurcht vor dem Wissen der Judengreise ist übergroß, und wenn er trotz der schlechten Behandlung, die ich ihm angedeihen lasse, mich doch immer wieder freundschaftlich begrüßt, so verdanke ich dies zweifellos meiner Weigerung, die talmudische Weltanschauung der Judengreise als »Vorurteil« zu bezeichnen. Offenbar hat er daraus noch überdies die Hoffnung abgeleitet, daß ich Nuchem auf dem rechten Weg erhalten werde; und so läßt er sich's gefallen, daß ich ihn und seine Vertraulichkeit immer und immer wieder abweise.

Heute traf ich ihn auf der Treppe, ich stieg hinauf, er kam herunter. Wäre es umgekehrt gewesen, ich hätte einfach vorbeilaufen können; einem Abwärtsstürmenden kann man nicht so leicht den Weg vertreten. Aber ich kletterte zu langsam hinauf, Großstadtschwüle und Unterernährung. Neckisch hielt er den Spazierstock quer. Er wollte mich wohl drüber springen lassen wie einen Pudel (ich ertappe mich dabei, daß ich in der letzten Zeit leicht, allzu leicht beleidigt bin; auch das mag wohl von der Unterernährung herrühren). Ich hob den Stock mit zwei Fingern, um mir Passage zu schaffen. Ach, war mir das vertrauliche Grinsen zuwider. Er nickte mir zu. »Was sagen Sie jetzt? die Leut' sind ganz unglücklich.« »Ja, heiß ist's.«

»Wenn's wegen der Hitz wär'!«

»Ja, und die Österreicher sind in den Sieben Gemeinden stecken geblieben.«

»Spaß mit die Sieben Gemeinden … nu, was sagen Sie wirklich dazu? er sagt, Freud' muß sein im Herzen.«

Mein Zustand bringt es mit sich, daß ich auf die dümmsten Debatten eingehe: »Das klingt immerhin nach Davidpsalmen … haben Sie was dagegen?«

»Dagegen? dagegen … ich sag' bloß, der alte Großvater hat recht, die alten Leut' haben immer recht.«

»Vorurteile, Simson, Vorurteile.«

»Mich werden Sie nicht hecheln!«

»Also, was sagt der Herr Großpapa?«

»Passen Sie auf! er sagt, a Jud hat sich nicht zu freuen im Herzen, sondern da …« Er tippt sich mit der Hand auf die Stirn.

»So, mit dem Kopf?«

»Ja, mit'm Kopp.«

»Und was tut ihr mit dem Herzen, wenn ihr mit'm Kopp euch freut?«

»Mit dem Herz haben wir zu dienen … uwchol lewowcho uwchol nawschecho uwchol meaudecho, das heißt auf deutsch, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzem Vermögen.«

»Das sagt auch der Großvater?«

»Das sagt nicht nur der Großvater, so ist's.«

Ich versuchte, ihn mitleidig anzuschauen, aber es wollte nicht recht gelingen: »Und Sie nennen sich aufgeklärt, Herr Dr. Simson Litwak?«

»Natürlich bin ich ein aufgeklärter Mensch … so wie Sie sind ein aufgeklärter Mensch … natürlich … aber wollen Sie deshalb das Gesetz umstoßen?« Er lachte.

»Gott segne Sie, Dr. Litwak«, sagte ich und stieg weiter.

Er antwortete: »Bis zu hundert«, er lachte noch immer, »aber umstoßen das Gesetz kann keiner, Sie nicht, ich nicht, der Nuchem nicht …«

Ich stieg die Proletariertreppe hinauf. Warum blieb ich hier? in dem Hospiz wäre ich besser aufgehoben. Bibelsprüche statt Öldrucken an den Wänden. Beispielsweise gesagt.

 


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