Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15

Mit dem Augenblick, in dem der Landwehrmann Ludwig Gödicke die notwendigsten Stücke seiner Seele um sein Ich versammelt hatte, stellte er dieses schmerzliche Verfahren ein. Man könnte nun hiezu einwenden, daß der Mann Gödicke sein Leben lang ein primitiver Mensch gewesen war und daß ihm auch ein weiteres Suchen zu keiner größeren seelischen Reichhaltigkeit hätte verhelfen können, weil ihm eben niemals, auch nicht in den Höhepunkten seines Lebens, eine größere Anzahl von Bestandteilen für sein Ich zur Verfügung gestanden wäre. Weder aber kann bewiesen werden – und dies widerlegt solchen Einwand von vornherein –, daß der Mann Gödicke zu den Primitiven zu rechnen gewesen wäre, noch kann man ihn in seiner neuen Verfassung als Primitiven bezeichnen, und am allerwenigsten darf man sich die Welt und die Seele eines Primitiven gewissermaßen baustoffarm und wie mit der Axt gezimmert vorstellen. Man möge sich bloß überlegen, wie kompliziert die Sprachen der Primitiven gegenüber denen der Kulturvölker konstruiert sind, und man wird die Widersinnigkeit des Einwands begreifen. Es ist also durchaus unentscheidbar, ob der Landwehrmann Gödicke eine engere oder weitere Wahl unter den Bestandstücken seiner Seele getroffen, wie viele er zum Neuaufbau seines Ichs zugelassen und wie viele er ausgeschlossen hat, es kann bloß gesagt werden, daß er mit dem Gefühl herumging, es fehle ihm etwas, das einstens zu ihm gehört hatte, etwas, das er zwar zu seinem neuen Leben nicht unbedingt brauchte, das er aber entbehren und dem er trotzdem den Eintritt verweigern mußte, weil es ihn sonst getötet hätte.

Und daß hier tatsächlich etwas fehlte, war auch leicht an der Sparsamkeit seiner Lebensäußerungen zu konstatieren. Er konnte gehen, wenn auch nur unter Schwierigkeiten, konnte essen, wenn auch ohne Lust, und bloß die Verdauung, wie überhaupt alles, was mit seinem gequetschten Unterleib zusammenhing, bereitete ihm noch arge Mühsal. Vielleicht war auch die Mühsal des Sprechens dazu zu rechnen, denn oft war es ihm, als laste auf seiner Brust der gleiche Druck wie auf seinen Eingeweiden, als sei der Eisenreifen, der seinen Bauch einengte, auch um die Brust gelegt und hindere ihn am Sprechen. Doch solche Unmöglichkeit und Unfähigkeit, das geringste Wörtchen herauszupressen, war sicherlich in eben jener Sparsamkeit begründet, mit der er jetzt sein Ich aufgebaut hatte und die gerade noch den kärglichsten und knappsten Stoffwechsel erlaubte, für die aber jede weitere Ausgabe, und beschränkte sie sich auf den bloßen Atem eines einzigen Wortes, ein unersetzliches Manko bedeutet haben würde.

So ging er, auf zwei Stöcke gestützt, im Garten umher, der braune Vollbart lag abgebogen auf der Brust, braune Augen über tiefen, mit schwärzlichen Haaren bewaldeten Wangengruben schauten ins Leere, er trug den Spitalskittel oder den Uniformmantel, je nachdem die Schwester diese Kleidungsstücke vorbereitete, und er nahm es gewiß nicht zur Kenntnis, daß er sich in einem Lazarett befand oder daß eine Stadt vor ihm lag, deren Namen er nicht wußte. Der Maurer Ludwig Gödicke hatte sozusagen ein Gerüst für das Haus seiner Seele errichtet, und wenn er auf seine zwei Stöcke gestützt umherging, empfand er sich durchaus als ein Gerüst mit mancherlei Stützen und Streben; indes er konnte sich nicht entschließen, oder richtiger, es war ihm unmöglich, Steine und Ziegel für das Haus selber herbeizuschaffen, vielmehr war alles, was er tat, oder genauer ausgedrückt, alles was er dachte – denn er tat ja nichts –, mit dem Gerüstbau als solchem beschäftigt, mit der Ausgestaltung dieses Gerüstes, in dem es vielerlei Leitern und Verbindungen gab, ein Gerüst, das mit jedem Tage verwirrender wurde und auf dessen Festigkeit man bedacht sein mußte: Selbstzweck eines Gerüstes, nichtsdestoweniger ein echter Zweck, da unsichtbar in des Gerüstes Mitte und doch auch in jedem einzelnen der tragenden Teile das Ich des Häuserbauers Ludwig Gödicke hing und vor Schwindel bewahrt werden mußte.

Dr. Flurschütz dachte oft daran, den Mann an eine Geistesheilanstalt abzugeben. Aber Oberstabsarzt Kuhlenbeck meinte, daß der Schock bloß eine Folge der Verschüttung, also nicht organisch bedingt sei, und daß der Patient ihn mit der Zeit schon verwinden werde. Und weil es ein stiller Patient geworden war, dessen Betreuung keinerlei Schwierigkeiten bereitete, kam man überein, den Landwehrmann so lange zu behalten, bis seine körperlichen Gebrechen völlig ausgeheilt sein würden.

 


 << zurück weiter >>