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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (9)

Gestern waren sie also wieder bei mir, der Nuchem und die Marie, und wir haben zusammen gesungen. Auf meinen Vorschlag hin sangen wir zuerst das Lied:

»Wir ziehn zum Kampfe froh hinaus
Mit hellem Glaubensmut,
Es schreckt uns nicht des Satans Graus
Und alle seine Wut.
Das Banner weht uns stolz voran,
Zum Siegen stets bereit;
Ist immer vorne auf dem Plan,
Und führt uns in den Streit!
(Chor)
Dir wolln wir treu ergeben sein,
Getreu bis in den Tod,
Dir wolln wir unser Leben weihn,
Der Fahne blau-gelb-rot.«

Wir sangen es nach der Melodie des Andreas-Hofer-Liedes, Marie begleitete auf der Laute, Nuchem summte mit und schlug den Takt mit leisen glatten Händen. Während des Spiels blickten sie manchmal einander an, aber es mag auch sein, daß es mir bloß so erschien, weil ich durch die Reden des Dr. Litwak mißtrauisch geworden war. Auf alle Fälle grölte ich sehr laut, und das hatte verschiedene Beweggründe. Denn einesteils wollte ich damit die Familie beruhigen, die sich zweifelsohne inzwischen vor meiner Türe angesammelt hatte: die Kinder in die erste Reihe sich drängend und vielleicht das Ohr am Holze, der weißbärtige Großvater mit vorgebeugtem Oberleib, die Hand zur Hörmuschel geformt, während die Frauen sich mehr im Hintergrund halten und die eine oder die andere still vor sich hin weint, sie allesamt langsam vorrückend, dennoch nicht wagend, die Türe zu öffnen, – ja, einesteils wollte ich sie beruhigen, andernteils war es mir ein sadistisches Vergnügen, sie da draußen zu wissen, sie zu locken und abzustoßen. Aber indem ich so laut grölte, wollte ich Nuchem und Marie damit auch sagen: geniert euch nicht, meine Kinder, ihr seht, daß ich mit mir und mit meiner Stimme beschäftigt bin, öffne deinen Schlußrock, Nuchem, hebe deine Rockschöße, mach eine Verbeugung vor dem Fräulein, und du, Marie, ziere dich nicht länger, nimm deinen Rock mit zwei Fingern, und tanzt ihr beide, tanzt nach Jerusalem, tanzt in mein Bett, tut, als ob ihr zu Hause wäret. Und so sang ich nicht einmal mehr Maries Text mit, sondern meinen eigenen, den richtigeren: »Zu Mantua in Banden der treue Hofer lag«, weiter wußte ich leider nicht, aber ich modulierte diese Zeile und fand es angemessen und schön.

Nun freilich schloß Marie das Lied mit jenem Schrumm ab, mit dem alle Lieder zur Laute endigen und sie sagte: »Das haben wir brav gemacht, jetzt wollen wir zur Belohnung auch ein Stückchen beten.«

Und schon war sie von ihrem Stuhl gerutscht, hatte die gefalteten Hände zum Gesicht erhoben und begann den 122. Psalm: »Ich freute mich über die, so mir sagten: lasset uns ins Haus des Herrn gehen! Unsere Füße stehen in deinen Toren, Jerusalem. Jerusalem ist gebaut, daß es eine Stadt sei, da man zusammenkommen soll, da die Stämme hinaufgehen, die Stämme des Herrn, wie geboten ist dem Volk Israel, zu danken dem Namen des Herrn.«

Ich konnte sie nicht bremsen, es sei denn, daß ich ihr die Laute am Schädel zerschlagen hätte. So also kniete auch ich nieder, breitete die Arme aus und betete: »Wir wollen Tee kochen den Töchtern und Jünglingen Israels, wir wollen Rum in den Tee hineintun, Kriegsrum, Heldenrum, Ersatzrum, um unsere Einsamkeit zu betäuben, denn übergroß ist unsere Einsamkeit, sei es nun in Zion oder in der heiligen Stadt Berlin.« Doch während ich so sprach und mit den Fäusten an meine Brust schlug, hatte Nuchem sich erhoben: er stand vor mir, hatte mir den Hintern zugekehrt, und mit dem betenden Gesicht zum geöffneten Fenster gewandt, vor dem der zerrissene schmierige Kattunvorhang wie eine verblaßte gelb-rot-blaue Fahne im Nachthauch baumelte, hatte er seinen Oberkörper in wippende Bewegung versetzt. Oh, das war unanständig, das war unanständig von Nuchem, der doch mein Freund war.

Ich sprang zur Türe, riß sie auf, schrie hinaus: »Komm herein, Israel, trink Tee mit uns, sieh die obszönen Bewegungen meines Freundes an und das geöffnete Antlitz meiner Freundin.«

Der Vorraum jedoch, der Vorraum war leer. Wie weggehuscht waren sie, hineingepurzelt in ihre Stuben, die Weiber über die Kinder, und der ächzende Großvater, der sich nicht aufrichten kann, mitten darunter.

»Schön«, sagte ich, schloß die Türe und wandte mich wieder meinem häuslichen Spuk zu, »schön, meine Kinder, nun gebt euch den Zionskuß.«

Die beiden aber standen nun da mit hängenden Armen, getrauten sich nicht, einander anzufassen, nicht zu tanzen, mit blödem Lächeln standen sie da. Und schließlich tranken wir Tee.

 


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