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Geschichte des Heilsarmeemädchens in Berlin (10)

Was eigentlich habe ich mit Marie vor? ich lade sie ein, ich lasse sie singen, ich verkupple sie in aller Keuschheit mit Nuchem, dem Talmudisten, dem abtrünnigen Talmudisten, muß man wohl sagen, und ich lasse sie wieder weggehen, wegziehen in die Gefilde ihres grauen Hospizes. Was habe ich mit ihr vor? und warum gibt sie sich zu diesem Spiele her? will sie meine Seele retten, will sie sich gar an die unendliche, an die von Grund aus unmögliche Aufgabe heranmachen, die talmudische Seele des Juden aufzufangen, sie Jesum zuzuführen? Was dachte sich übrigens dieser Nuchem? Da hatte ich zwei Menschen anscheinend völlig in meine Hand bekommen und weiß dennoch nichts von ihnen, weiß nicht, was sie denken und was sie heute abend essen werden: so einsam ist der Mensch, daß niemand und nicht einmal Gott, der ihn doch geschaffen hat, etwas von ihm weiß.

Die Sache beunruhigte mich außerordentlich, um so mehr, als ich mir Marie immer nur als ein Wesen habe vorstellen können, das bis zum Rande mit Liedern und Bibelsprüchen angefüllt ist, und in meiner Beunruhigung machte ich mich auf den Weg ins Hospiz. Ich mußte zweimal hingehen, ehe ich sie antraf. Sie war auf Krankenmission und kam immer erst abends heim. Ich saß also in dem Sprechzimmer, betrachtete die Bibelverse an der Wand, betrachtete das Portrait des Generals Booth und überlegte mir nochmals alle Möglichkeiten. Ich erinnerte mich meines ersten Zusammentreffens mit Marie, ferner der zufälligen Begegnung mit Nuchem, ich vergegenwärtigte mir alles, was seitdem geschehen war, ich prägte mir alles sehr genau ein und nahm auch den augenblicklichen Zustand nicht aus: besah mit großer Aufmerksamkeit das Sprechzimmer, ging in dem Zimmer umher, das schon langsam dunkelte, denn das Wetter hatte sich verdüstert; draußen fielen schwere Tropfen, und die Dunkelheit war beschleunigt. Ich fragte mich, ob auch die beiden alten Männer, die gleich mir in diesem Zimmer saßen, in mein Gedächtnis einzubeziehen wären, und ich tat es, – sicher ist sicher. Sie waren sehr müde, ihre Gedanken waren undurchdringlich, ich war Luft für sie.

Es war schon spät, als Marie endlich kam. Inzwischen waren die beiden alten Männer hinausgeführt worden, und beinahe hatte ich mich geängstigt, daß man mit mir ebenso verfahren würde. In dem schlecht beleuchteten Räume erkannte sie mich nicht sogleich, sie sagte: »Gott segne Sie«, und ich erwiderte: »Das ist ein Gleichnis.« Mich nun erkennend, erwiderte sie ihrerseits: »Das ist kein Gleichnis, Gott möge Sie segnen.« Nun sagte ich meinerseits: »Bei uns Juden ist alles Gleichnis.« Darauf erwiderte sie: »Sie sind kein Jude.« Ich dagegen: »Das Brot und der Wein sind nicht minder Gleichnis; überdies wohne ich mit Juden beisammen.« Sie sagte: »Unser Heim ist stets im Herrn.« So war es richtig, so hatte ich sie mir vorgestellt, auf alles einen heiligen Spruch. Jetzt hatte ich sie wieder in der Hand, und ich erhob meine Stimme: »Ich verbiete Ihnen, meine jüdische Wohnung je wieder zu betreten«, aber das klang hier hohl, ich mußte sie wohl erst wieder bei mir haben, um vernünftig mit ihr reden zu können; ich lachte also auf und sagte: »Spaß, nebbich, Spaß.« Doch mochte ich mich damit auch aus meinen eigenen Worten in die eines Fremden, ja die eines artfremden Volkes retten, mich unter die Fittiche eines mir fremden Gottes begeben, es nützte nichts, ich fand meine Sicherheit nicht zurück. Mag sein, daß ich wirklich vom Warten allzu zermürbt war, alt geworden war wie die beiden alten Männer, die man schließlich aus dem Wartezimmer hinausgeführt hatte, ich war durch das Warten erniedrigt worden, ein Geschöpf statt eines Schöpfers, ein entthronter Gott. Fast demütig mußte ich sagen: »Ich wollte Sie vor Schaden bewahren, Dr. Litwak hat mich auf die Gefahren aufmerksam gemacht.« Das war nun allerdings eine Verdrehung des Tatbestandes, denn jener hatte die Gefahren ja bloß für Nuchem befürchtet. Und solch lächerlichen Halbfreigeist zum Eideshelfer anzurufen! wahrlich, ich hätte mein Selbstbewußtsein nicht ärger schädigen können. Und so einfältig es war, was sie entgegenzusetzen hatte, es war eine Zurechtweisung: »Wer in der Freude ist, ist vor Schaden bewahrt.« Unter dieser Demütigung riß mir die Geduld und ich merkte nicht, daß ich nun eigentlich die Geschäfte des Großvaters und Dr. Litwaks besorgte. »Du sollst dich mit dem jungen Juden nicht weiter einlassen, er hat eine dicke Frau und viele Kinder.« Oh, hätte ich in ihrer Seele lesen können, wissen können, ob ich sie damit verletzt und verwundet hatte, aufgerissen dieses Herz, das in der Freude zu sein vorgibt, – aber nichts war davon zu merken, vielleicht hatte sie mich gar nicht verstanden. Sie sagte bloß: »Ich will zu Ihnen kommen. Wir werden singen.« Ich gab mich geschlagen. »Wir können gleich gehen«, sagte ich mit einem Rest von Hoffnung, daß ich ihren Weg doch noch bestimmen würde. Sie sagte: »Herzlich gern, aber ich muß nochmals zu meinen Kranken.«

So war ich gezwungen, völlig unverrichteterdinge den Heimweg anzutreten. Der Regen fiel nur mehr sacht. Vor mir marschierte ein sehr junges Liebespaar; sie gingen eingehängt und ihre Arme schlenkerten im Takt des Marschierens.

 


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