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Seitdem er damals mit Esch durch die abendlichen Felder gewandert war, geschah es öfters, daß der Major nach Erledigung des Dienstes seinen Weg durch die Fischerstraße nahm, ja, daß er, kaum ein paar Gassen weiter, seinen Schritt hemmte, unschlüssig stehenblieb und wieder umkehrte. Man hätte geradezu sagen können, daß er um den »Kurtrierschen Boten« herumstrich. Vielleicht wäre er sogar eingetreten, hätte er nicht ein Zusammentreffen mit Huguenau gefürchtet, ja, selbst auf der Straße wollte er ihm nicht begegnen, selbst daran konnte er nicht ohne Beklommenheit denken. Aber als nun statt Huguenau plötzlich Esch vor ihm auftauchte, da wußte er nicht, ob es nicht diese Begegnung war, die er noch mehr gefürchtet hatte. Denn da stand er, der Stadtkommandant in Uniform, den Degen an der Seite, mit einem Zeitungsmenschen in Zivil, er stand in Uniform auf offener Straße und hatte diesem Mann die Hand gereicht, und anstatt es dabei bewenden zu lassen, war er, alle Haltung vergessend, beinahe glücklich, daß dieser Mann Anstalten machte, ihn zu begleiten. Doch Esch hatte respektvoll den Hut abgenommen, und der Major blickte in ein zerfurchtes ernstes Gesicht, blickte auf die kurzgeschorenen steifen grauen Haare, – und es war wie eine Beruhigung, war wie plötzliche Erinnerung an Bibelstunden in der Heimat und zugleich war es die Brüderlichkeit jenes Nachmittags, die wieder aufkeimte, mit ihr aber auch das Bedürfnis, diesem Manne, der fast ein Freund war, etwas Gutes zu sagen, vielleicht auch nur, damit der Freund eine gute Erinnerung an ihn bewahre; er zögerte noch ein wenig, und dann sagte er: »Kommen Sie.«

In der Folge wiederholten sich diese Spaziergänge. Freilich nicht so oft, als der Major oder gar Esch es sich gewünscht hätten. Denn nicht nur, daß die Zeit immer bewegter wurde, – Truppen wurden einquartiert und zogen wieder ab, Autokolonnen durchrasselten die Straßen, und so manche Nacht mußte der Stadtkommandant seine Ruhe dem Dienste opfern, – Major v. Pasenow konnte es auch nicht über sich bringen, den »Kurtrierschen Boten« nochmals aufzusuchen, und es dauerte immerhin einige Zeit, bis Esch dies erraten hatte. Dann allerdings begann er sich danach einzurichten: unauffällig wartete er in der Nähe der Kommandantur, und wenn es sich eben schickte, brachte er Marguerite mit. »Der kleine Racker will durchaus mitkommen«, sagte er; zwar war es dem Major nicht ganz klar, ob die Zutraulichkeit des Kindes als nett oder als aufdringlich zu werten wäre, aber er nahm es freundlich auf und fuhr Marguerite über die schwarzen Locken. Dann wanderten sie selbdritt über die Felder oder über den Pfad längs der Ufergebüsche, und manchmal war es, als erwachte eine Sehnsucht des Abschiednehmens, ein weiches und lindes Fließen des Herzens, ein atmendes Gewässer des Verhauchens, es war wie die Gewißheit eines Endes, in dem der Anfang sich beschließt. Indes so sanft dies auch war, ein leiser Unmut mischte sich hinein, vielleicht weil Esch an diesem Abschiednehmen nicht teilhatte, vielleicht weil es unzulässig war, daß Esch daran teilnähme, vielleicht aber auch weil Esch weder das eine noch das andere erkennen ließ, sondern in einem enttäuschenden Schweigen verharrte. Das war irgendwie dunkel und hinterhältig, denn noch lebte eine verschwommene Hoffnung, daß alles gut und einfach sich gestalten würde, wenn Esch bloß zu sprechen anhöbe. Ach, es war verwunderlich unauffindbar, was er von Esch eigentlich zu hören erwartete, und trotzdem hätte Esch darum wissen müssen. So gingen sie schweigend, schweigend in die Abendhelle und in die wachsende Enttäuschung, und die Helligkeit über den Feldern war dann eine falsche und müde Helligkeit. Und wenn Esch den Hut abnahm, den Wind durch die kurzen straff gebürsteten Haare streichen ließ, so konnte dies zu einer so unziemlichen Vertraulichkeit werden, daß der Major das kleine Mädchen beinahe bedauerte, weil es in die Gewalt eines solchen Menschen geraten war. Einmal sagte er: »Kleine Sklavin«; doch auch dies verfloß in müder Gleichgültigkeit. Marguerite aber lief voraus und kümmerte sich nicht um die beiden Männer.

Sie waren zur Talhöhe hinaufgestiegen und folgten dem Waldsaum. Das kurze trockene Gras knisterte unter ihren Schuhen. Still war's über dem Tal. Man hörte das Knarren der Wagen auf der Straße unten, die gemähten Felder zeigten ihre braune Erde, und kühl wehte die Luft aus der dunklen Tiefe des Laubes. Die Weingärten lagen grün an den Abhängen, in das Rauschen des Waldes mischte sich schon die silbrig metallische Schärfe des Herbstes, und die Stauden am Waldesrand mit ihren schwarzen und roten Beeren waren bereit, herbstlich zu verdorren. Über den westlichen Hängen senkte sich die Sonne, funkelte feurig in den Fenstern der Häuser im Tal. Jedes der Häuser stand auf einem langen (nach Osten gerichteten) Schattenteppich, man sah auf die schwarz-rot gesprenkelten Dächer des Gefängniskomplexes, sah in die nackten und rohen Höfe, und auch in ihnen lagen düstere, scharfkantige Schatten.

Ein kleiner Feldweg führte den Abhang hinunter, und nahe bei der Strafanstalt mündete er in die Straße. Marguerite, vorauslaufend, war eingebogen, und der Major nahm es als einen Fingerzeig Gottes: »Wir wollen heimkehren«, sagte er müde. Als sie etwa zur halben Talhöhe hinabgelangt waren, blieben der Major und Esch stehen und horchten: ein merkwürdig stoßweises Summen drang zu ihnen herauf, ohne daß man anzugeben vermocht hätte, woher es stammte. Nichts war zu sehen, bloß ein Auto kam aus der Stadt herausgefahren, der Motor brummte wie gewöhnlich und alle Augenblicke gab es ein Hupensignal; eine lange Staubwolke schleppte es hinter sich her. Das unheimliche Geräusch hatte mit dem Auto nichts zu tun. »Ein böses Geräusch«, sagte der Major befremdet. »Eine Maschine«, sagte Esch, obwohl es durchaus nicht nach Maschine klang. Das Auto folgte den Windungen der Straße und gelangte nun unter heftigem Tuten zur Strafanstalt. Esch, mit seinen schärferen Augen konnte feststellen, daß es das Auto der Kommandantur war, und er wurde unruhig, da er es hinter der Anstalt nicht wiederauftauchen sah. Er sagte nichts, aber er beschleunigte den Schritt. Das Geräusch wurde immer härter und akzentuierter, und als sie das Anstaltstor zu Gesicht bekamen, hielt dort das Auto inmitten einer Schar aufgeregter Menschen. »Da ist etwas geschehen«, sagte der Major, und nun hörten sie auch schon aus den vergitterten und mit Holz verschlagenen Gefängnisfenstern einen fürchterlichen Chor, skandiert in Gruppen von drei Worten: »Hunger, Hunger, Hunger, … Hunger, Hunger, Hunger, … Hunger, Hunger, Hunger …« und von Zeit zu Zeit wurde der Chor von einem allgemeinen Viehhofgeheul unterbrochen. Der Chauffeur war ihnen entgegengeeilt: »Melde gehorsamst, Herr Major, eine Revolte … wir haben Herrn Major vergeblich gesucht …«, dann rannte er zurück, den Posten herauszuschellen.

Die Leute machten Platz, um den Major durchzulassen, doch der war stehen geblieben. Die Luft schwang noch immer im dreigeteilten Chor, und nun begann Marguerite im Takt mitzuhüpfen: »Hunger, Hunger, Hunger«, jubelte sie. Der Major blickte auf das Haus mit den fürchterlich undurchdringlichen Fenstern, er blickte auf das hüpfende Kind, dessen Lachen ihm sonderbar erstarrt, sonderbar boshaft erschien, und es überschwemmte ihn das Entsetzen. Unabweisbares Geschick, unabwendbare Prüfung! Der Chauffeur riß noch immer an dem eisernen Glockenstrang und schlug mit dem Seitengewehr gegen das Tor, bis endlich die Guckklappe geöffnet wurde und das Tor sich ächzend und schwerfällig in den Angeln drehte. Der Major hatte sich an einen Baum gelehnt und seine Lippen murmelten: »Es ist das Ende.« Esch machte eine Bewegung, als ob er ihm helfen wollte, – der Major winkte ab: »Es ist das Ende«, wiederholte er, aber er richtete sich auf, griff an die Brust, strich über das Band des Eisernen Kreuzes und dann, die Hand am Degengriff, schritt er rasch auf das Gefängnistor zu.

Der Major war im Tor verschwunden. Esch setzte sich auf die kleine Hügelböschung neben der Straße. Immer noch war die Luft von den synkopierten Rufen durchschnitten. Ein einzelner Schuß ertönte, gefolgt von neuerlichem allgemeinen Geheul. Dann noch letzte Rufe wie die letzten Tropfen eines zugedrehten Wasserhahns. Dann war es still. Esch schaute auf das Tor, das sich hinter dem Major geschlossen hatte. – »Es ist das Ende«, sagte nun auch er und wartete. Doch das Ende brach nicht herein, kein Erdbeben kam und kein Engel, und das Tor ward nicht aufgetan. Das Kind hockte neben ihm, und er hätte es gerne in den Arm genommen. Wie eine Kulisse ragten die Gefängnismauern in den hellen Abendhimmel, wie Zähne mit Lücken dazwischen, und Esch fühlte sich fern von sich, fern von dem Geschehnis, dem er jetzt beiwohnte, fern von allem; er scheute sich, seine Lage zu verändern, und er wußte nicht mehr, wie er hierher geraten war. Neben dem Tor hing eine Tafel, die man nicht mehr entziffern konnte; natürlich waren es die Besuchszeiten, die darauf verzeichnet standen, aber das waren bloße Worte. Denn selbst die Demagogen und die Mörder und die Mißgeburten, die man eingekerkert hatte, werden aus dem Gefängnis heraustreten zu neuer und lichterer Gemeinschaft in einem gelobten Lande. Nun hörte er das Kind sagen: »Da ist Onkel Huguenau« und er sah Huguenau im Geschwindschritt vorbeimarschieren, sah ihn und wunderte sich nicht, so lautlos war dies alles, lautlos der Schritt Huguenaus, lautlos die Bewegungen der Leute vor dem Gefängnistor, lautlos dies alles wie die Bewegungen der Artisten und Seiltänzer, wenn die Musik erschweigt, so lautlos wie der helle Abendhimmel in seinem Erblassen. Uneinbringlich lag die Ferne vor dem Träumenden, dennoch nicht Träumenden, vor dem Verwaisten, niemals Heimfindenden, und er war wie ein Mensch, dessen Sehnsucht sich gewandelt hat, ohne daß er davon wußte, wie einer, der seine Schmerzen bloß betäubt hat und ihrer nicht vergessen kann. Die ersten Sterne wurden sichtbar, und es war Esch, als säße er tage- und jahrelang an dieser Stelle, umgeben von geisterhafter und wattierter Ruhe. Dann wurden die Bewegungen der Menschen immer geringer, schattenhafter, erstarben völlig, und es wurde eine lautlose wartende schwarze Masse vor dem Tore. Und schließlich fühlte Esch nur mehr das feuchte Gras an der Innenfläche seiner Hände.

Das Kind war verschwunden; vielleicht war es mit Huguenau gelaufen; Esch hatte darauf nicht acht, er starrte auf das Tor. Endlich kam der Major. Er ging rasch, in einer ungewohnten Geradlinigkeit, fast schien es, als würde er ein wenig hinken und suchte es zu verbergen. Er ging geradewegs auf das Auto zu. Esch war aufgesprungen. Der Major stand jetzt in dem Wagen, hochaufgerichtet stand er dort und sah über ihn hinweg, blickte über die Menge, die sich stumm um das Gefährt geschart hatte, sah auf die weiße Straße vor sich und zur Stadt hinüber, in der bereits die Lichter aus den Fenstern blinkten. In der Nähe leuchtete ein rotes Licht auf; Esch wußte schon wo. Mag sein, daß auch der Major es bemerkt hatte, denn er schaute jetzt auf Esch herunter und sagte, indem er ihm ernst die Hand reichte: »Na, ist ja egal.« Esch sagte nichts; er drängte sich rasch durch die Menge und schlug den Weg über die Felder ein. Hätte er sich aber umgewandt und wäre es nicht so dunkel gewesen, so hätte er sehen können, daß der Major stehengeblieben war und ihm, dem in der Nacht Verschwindenden, nachblickte.

Nach einiger Zeit hörte er den Motor anspringen und sah, wie die beiden Lichter des Wagens den Windungen der Straße folgten.

 


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