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Huguenau war im Eilmarschtempo von der Strafanstalt heimgekehrt; Marguerite war hinterdrein gelaufen. In der Druckerei ließ er die Maschine abstoppen: »Noch eine wichtige Einrückung, Lindner«, und dann verfügte er sich auf sein Zimmer zur schriftstellerischen Arbeit. Als er damit fertig war, sagte er »Salü« und spuckte in die Richtung der Eschschen Wohnräume. »Salü«, sagte er nochmals, als er bei der Küchentüre vorbeiging, und dann übergab er Lindner das Elaborat: »Unter Stadtereignisse in Petitdruck«, befahl er. Und am nächsten Tag war im »Kurtrierschen Boten« unter Stadtereignissen in Petit zu lesen:

 

Zwischenfall in unserem Gefangenenhaus

Gestern abend kam es in unserem Gefangenenhaus zu einigen unerquicklichen Szenen. Einige Insassen glaubten Grund zur Klage zu haben, daß die Kost nicht die gewohnte Güte aufweise und wurde dies von einigen vaterlandslosen Elementen zum Anlaß genommen, um die Verwaltung in lärmender Weise zu beschimpfen. Über Veranlassung des Eingreifens des sofort herbeigeholten Stadtkommandanten Herrn Major von Pasenow, resp. seiner Ruhe und Besonnenheit, resp. Mannhaftigkeit wurde der Zwischenfall sofort beigelegt. Die Gerüchte, daß es sich um einen Ausbruchsversuch von angeblich hier eingekerkerten und ihrer gerechten Aburteilung entgegensehenden Deserteuren handelte, sind, wie wir aus bester Quelle erfahren, vollkommen haltlos, da keine solchen eingekerkert sind. Verletzt wurde niemand.

 

Es war wieder eine jener luziden Eingebungen gewesen, und vor Freude hatte Huguenau beinahe gar nicht geschlafen. Immer wieder hatte er sich vorgezählt:

erstens wird sich der Major wegen der Deserteure ärgern, aber auch die Geschichte von der schlechten Kost kann einem Stadtkommandanten nicht eben behagen; und wenn einer es verdient, daß er sich ärgert, so ist's der Major;

zweitens wird der Major den Esch verantwortlich machen, besonders wegen des Hinweises auf die Wohlinformiertheit; kein Mensch wird es dem Herrn Redakteur glauben, daß er nichts davon gewußt hat, – mit den Spaziergängen der beiden Herren ist's jetzt wohl zu Ende;

drittens, wenn man sich ausmalte, wie der magere Herr Pastor mit dem Pferdegesicht jetzt wüten wird, das schmeckte beglückend und süß auf der Zunge;

viertens, und so schön legal war es vor sich gegangen, – er war der Herausgeber und durfte schreiben, was er wollte, und für die lobenden Worte müßte der Major ihm eigentlich noch danken;

fünftens und sechstens, das ließe sich so fortsetzen, es war mit einem Wort eine ausgezeichnet wohlgelungene Sache, es war mit einem Wort ein Coup, – und überdies wird der Major jetzt Hochachtung vor ihm bekommen: die Berichte eines Huguenau haben doch Hand und Fuß, auch wenn man sie verschmäht;

ja fünftens und sechstens und siebentens, man konnte so fortfahren, es steckte noch viel mehr darin, freilich irgendwo auch etwas Unangenehmes, an das man lieber nicht denken mochte. –

Am Morgen in der Druckerei las Huguenau den Artikel und war wieder sehr zufrieden. Er blickte zum Fenster hinaus und zur Redaktion hinüber und zog seine ironische Grimasse. Aber er ging nicht hinauf. Nicht daß er sich etwa vor dem Pastor dort droben gefürchtet hätte. Wenn man bloß sein gutes Recht ausübt, braucht man sich nicht zu fürchten. Und man muß sein gutes Recht ausüben, wenn man verfolgt wird. Und wenn darüber alles zugrunde ginge, muß man sein gutes Recht ausüben! Man will bloß in Frieden und in ungestörter Ordnung leben, man will bloß den Platz haben, der einem gebührt. Und Huguenau ging zum Friseur, wo er nochmals den »Kurtrierschen Boten« studierte.

Allerdings, das Mittagessen blieb ein Problem. Es war unangenehm, mit Esch, der sich doch irgendwie, wenn auch unberechtigterweise als der Betrogene fühlen wird, an einem Tisch zu sitzen. Man kennt diese strafenden Blicke von Pfaffen; da kann einem das Essen nicht anschlagen. So ein Pfaff ist selber ein Kommunist, der alles sozialisieren will, und tut dann so, als ob der andere die Weltordnung umschmeißen will, nur weil man sich nicht alles gefallen läßt.

Huguenau geht spazieren und denkt darüber nach. Indes es fällt ihm nichts Rechtes ein. Es ist wie in der Schule: man mag so erfindungsreich sein wie man will, und dann weiß man doch nichts Besseres, als sich krank melden. Also kehrt er um, damit er noch vor Esch zu Hause sei, und steigt zu Mutter Esch hinauf (denn so pflegte er sie seit neuerer Zeit zu nennen). Und mit jeder Stufe wird seine Leidensmiene echter. Vielleicht fühlt er sich wirklich nicht ganz wohl und es wäre am richtigsten, überhaupt nichts zu essen. Aber schließlich war die Pension bezahlt, und er brauchte diesem Esch nichts zu schenken.

»Frau Esch, ich bin krank.«

Frau Esch sieht auf und ist von Huguenaus Jammermiene gerührt.

»Frau Esch, ich werde nichts essen.«

»Aber, aber, Herr Huguenau … eine Suppe, ich mache Ihnen ein gutes Süppchen … das hat noch niemandem geschadet.«

Huguenau denkt nach. Dann sagt er traurig: »Eine Bouillon?«

Frau Esch ist bestürzt: »Ja, aber … ich habe doch kein Suppenfleisch im Hause.«

Huguenau wird noch trauriger: »Ja, ja, kein Fleisch … ich glaube, ich habe Fieber … fühlen Sie mal, Mutter Esch, wie heiß ich bin …«

Frau Esch kommt näher und legt zögernd einen Finger auf Huguenaus Hand.

Huguenau sagt: »Eine Omelette wird vielleicht das Richtige sein.«

»Soll ich Ihnen nicht lieber einen Tee machen?«

Huguenau witterte Ersparnisse: »Ach, eine Omelette wird schon gehen … Sie haben doch Eier im Haus … vielleicht von drei Eiern.«

Hierauf verläßt er schleppenden Schrittes die Küche.

Teils weil es sich für einen Kranken so schickt, teils weil er den versäumten Schlaf der heutigen Nacht einzubringen hat, legt er sich aufs Kanapee. Aber mit dem Schlaf ist es übel bestellt, die Erregung über den gelungenen journalistischen Coup zittert noch immer nach. Vielleicht hätte man sich zu Bett legen sollen. Dahinduselnd blickt er auf den Spiegel oberhalb des Waschtisches, blickt auf das Fenster, horcht auf die Geräusche des Hauses. Es sind die gewohnten Küchengeräusche: er hört Fleischklopfen, – also hat sie ihn doch betakelt, die dicke Eschin, damit der Kerl das ganze Fleisch kriegt. Natürlich wird sie sich darauf ausreden, daß sie aus Schweinefleisch keine Bouillon kochen kann, aber so ein zartes leichtgebratenes Schweinefleisch schadet auch einem Kranken nichts. Da hört er kurzes scharfes Hacken auf einem Brett und agnosziert es als Schneiden des Gemüses, – ja, er hat seiner Mutter immer angstvoll zugeschaut, wenn sie mit raschen hackenden Schnitten Petersilie oder Sellerie zerkleinerte, immer in Angst, daß sie ihre Fingerspitzen mittreffen werde. Küchenmesser sind scharf. Er ist froh, daß das Hackgeräusch jetzt endet und die Mutter den unverwundeten Finger am Küchenhandtuch abwischt. Wenn man bloß schlafen könnte; besser wär's doch, sich ins Bett zu legen, die Eschin sollte daneben sitzen und stricken oder ihm Kompressen machen. Er fühlt seine Hand an; sie ist wirklich sehr heiß. Man muß an etwas Angenehmes denken. Zum Beispiel an Weiber. An nackte Weiber. Die Treppe knarrt, jemand kommt heraufgestiegen; merkwürdig, der Vater pflegte sonst nicht so zeitig dran zu sein. Na ja, ist auch nur der Postbote. Mutter Esch spricht mit ihm. Früher war stets der Bäcker ins Haus gekommen, jetzt sieht man ihn nie. Das ist Unsinn; unmöglich zu schlafen, wenn man Hunger hat.

Huguenau blinzelt wieder zum Fenster hin, bemerkt draußen die Kette der Colmarer Berge; der Burgvogt der Hochkönigsburg ist ein Major, der Kaiser selber hat ihn dazu eingesetzt. Haïssez les Prussiens et les ennemis de la sainte religion. Jemand lacht in Huguenaus Ohr; er hört alsasserditsch reden. Ein Kochtopf geht über; es zischt auf dem Herd. Jetzt flüstert ihm jemand Hunger, Hunger, Hunger ins Ohr. Das ist zu blöd. Warum darf er nicht mit den anderen essen! immer hat man ihn schlechter und ungerechter behandelt. Ob man wohl auf seinen Platz jetzt den Major setzen wird? Die Treppe knarrt schon wieder, – Huguenau schrickt zusammen, es ist des Vaters Schritt. Ach Gott, es ist bloß der Esch, der Herr Pastor.

Schwein, der Esch, geschieht ihm recht, wenn er sich ärgert. Wie du mir, so ich dir. Küchenmesser sind scharf; und spitzig sind sie auch. Jetzt ist er glücklich Protestant geworden, dann wird er ein Jud werden, wird sich beschneiden lassen; das muß man seiner Frau erzählen. Fingerspitze, Messerspitze. Am besten ist es, gleich aufstehen und hinübergehen, ihn fragen, ob er ein Jud werden wird. Zu blöd, sich vor ihm zu fürchten; ich bin bloß zu faul. Aber mein Essen soll sie mir bringen, und das gleich … bevor der Pastor sein Futter bekommt. Huguenau horcht gespannt hinüber, ob sie schon zu Tisch gehen. Kein Wunder, daß man selber immer mehr abnimmt, wenn der Esch einem alles wegfrißt. Aber so ist er. Ein Pfaff muß einen Bauch haben. Hochstapelei sein Pastorenrock. Der Scharfrichter hat auch einen schwarzen Anzug. Ein Scharfrichter muß viel essen, der braucht Kräfte. Man weiß nie, ob sie einen schon zur Exekution holen oder bloß das Essen bringen. Von nun an wird in den Gasthof gegangen und am Tische des Majors Fleisch gefressen. Heute abend schon. Wenn's mit der Omelette noch lange dauert, gibt's aber einen Krach. Zu einer Omelette braucht man fünf Minuten!

Frau Esch tritt leise ins Zimmer, stellt den Teller mit dem Eiergericht auf einen Stuhl und rückt diesen neben das Kanapee.

»Soll ich Ihnen nicht doch einen Tee kochen, Herr Huguenau, einen Kräutertee?«

Huguenau schaut auf. Sein Ärger ist beinahe verflogen, das Mitgefühl tut wohl.

»Ich habe Fieber, Frau Esch.«

Sie sollte ihm einmal über die Stirne streichen, das Fieber zu prüfen; er ärgert sich, daß sie's nicht tut.

»Ich werde mich ins Bett legen, Mutter Esch.«

Frau Esch jedoch steht unbeweglich vor ihm und beharrt darauf, ihm Tee einzuflößen: ein ausgezeichneter Tee sei es, nicht nur ein uraltes, sondern auch ein berühmtes Medikament, der Kräutersammler, der das Geheimnis von Vater und Urgroßvater geerbt hat, sei ein schwerreicher Mann geworden, ein Haus in Köln besitze er, die Leute aus der ganzen Gegend pilgern zu ihm. Sie hatte selten so viel in einem Atem gesprochen.

Huguenau ist trotzdem nicht dafür: »Ein Kirsch, Frau Esch, würde mir gut tun.«

Sie zog ein angeekeltes Gesicht: Schnaps? nein! auch ihren Mann, dessen Gesundheit nicht eben die festeste sei, habe sie dafür gewonnen, den Tee einzunehmen.

»So? Esch trinkt den Tee?«

»Ja«, sagte Frau Esch.

»Na, in Gottes Namen, machen Sie auch mir den Tee«, und mit einem Seufzer setzte Huguenau sich auf und verzehrte seine Omelette.

 


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