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Ursula läutet 1900 ein

Nun geht das Jahrhundert zu Ende. Das neue steht an der Tür. Die älteren Menschen ergreifen bedächtig und wissend seine Hand; aber auf seinen Schultern steht die Jugend und schaut erwartungsvoll und hoffnungsfreudig in die Zukunft.

Wohl kommt sich das junge Mädchen vor dem Spiegel nicht mehr als Mittelpunkt vor, und der junge Mann weiß, daß sein Kleid auch ein Arbeitskleid ist. Beide wissen, daß sie winzige Teile eines großen Ganzen sind; aber daß sie doch wichtig und wertvoll sind, denn wie kann ein Ganzes entstehen ohne Teile?

Und können sie nicht doch Mittelpunkt sein? Jeder der Mittelpunkt seiner eigenen kleinen Welt, der Welt seiner Persönlichkeit? Und kann er die nicht ausgestalten zu einer großen Welt des Erlebens und des Wissens?

Was sind dagegen die kleine und große Welt der Wirklichkeit? Wechselnd und vergänglich, wenn sie der Mensch nicht einordnet und festhält in seiner eigenen reichen großen Welt, die ihn zum Herrscher des Lebens macht. –

Das Jahrhundert ist zu Ende. Wieder liegt die kleine Stadt Konstanz im Winterschnee gebettet. Die Ufer liegen weiß im Nebelduft und der See glänzt wie eine Metallplatte im Mondlicht. Heute schaut sich der Mond den Jahrhundertwechsel an. Er tut es gern am See, denn er weiß, daß hier in dieser Nacht kein wildes Getriebe auf den Straßen ist mit krachenden Schüssen und knatterndem Feuerwerk, mit Geschrei und Lachen.

Die Alemannen sind ein ruhiges, besinnliches Volk, und der Abschied vom alten und der Eintritt ins neue Jahr machen sie ernsthaft und nachdenklich und ihre Freude und Hoffnung werden bei behaglichen Trinksprüchen im Familien- und Freundeskreis ausgedrückt, nicht im Lärm der Straße. Wenn die mitternächtliche Stunde schlägt, dann öffnen sich alle Fenster, man ruft ein fröhliches »Prosit Neujahr!« hinaus, und von allen Fenstern tönt der Ruf zurück.

Aber dann – dann lauscht alles dem Glockengeläute. Ursula, die große Glocke des Münsters, läutet. Die mächtigen dunkeln Klänge schwingen über die Stadt, weit hinaus auf den See, heute in der Stunde der Jahrhundertwende doppelt feierlich.

»Dankt! dankt! dankt!« rufen sie – dankt für alles, was euch die Vergangenheit gebracht!

»Gelobt! gelobt! gelobt!« rufen sie – gelobt gut zu sein und euer Bestes zu tun in der Zukunft!

Immer ruft sie nur diese wenigen Worte seit Jahrhunderten. – Aber sind es nicht gute Worte und enthalten sie nicht die einfachste Wahrheit?

Danken, danken seinen Vorfahren für das, was sie für uns aufgebaut, geleistet, uns mit auf den Weg gegeben haben. Für all die ererbten Fähigkeiten, das Leben zu meistern und Schönheit und Freude geben und genießen zu können.

Geloben, geloben, an sich selber zu arbeiten, damit man als Glied der Familie die Tradition weiterführen und veredeln kann – und gut zu sein gegen seine Umwelt, denn nur aus der Güte entspringen die wertvollen bleibenden Lebenstaten.

Drum läute, Glocke Ursula! Läute immer wieder deine zwei wuchtigen Worte ins neue Jahrhundert:

Danket und gelobet!


 

Sieh, hier schließt die Natur den Ring der ewigen Kräfte,
doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an,
daß die Kette sich fort durch alle Zeiten verlänge
und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei.

Goethe.

 

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