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Hundert Jahre in einer kleinen Stadt – in einer kleinen Welt –, das klingt ein wenig eng und uninteressant.
Und doch – wenn auch in den ersten dreißig Jahren des neunzehnten Jahrhunderts aus dem holprigen Straßenpflaster der kleinen Stadt das Gras wuchs und die Einwohner nicht weit über die Stadtmauern hinauskamen, so kam doch die »große Welt« zu ihnen, und es vollzog sich die gleiche geistige Entwicklung jener Zeit auch in ihrer »kleinen Welt«. Etwas langsamer, etwas später, aber man hatte Zeit – Zeit zu warten und Zeit aufzunehmen und zu verarbeiten.
In den letzten dreißig Jahren des Jahrhunderts wuchs kein Gras mehr zwischen den Pflastersteinen der kleinen Stadt. Da rasselten die Säbel der Offiziere und trabten die Nagelschuhe der Soldaten durch die Straßen. Die kleine Stadt genoß die Folgen des gewonnenen Krieges von 1870/71 und half fröhlich mit am Aufbau des Deutschen Reiches und nahm die geistigen Werte, die das Jahrhundert geschaffen, freudig auf und blühte in sorgloser Geselligkeit.
Weil es wohl in allen kleinen deutschen Städten so aussah und so zuging im Laufe des Jahrhunderts, habe ich gewagt, das Leben in meiner Heimatstadt Konstanz zu schildern.
Wie gut ist es, daß es noch alte Familienhäuser gibt mit den Bildern des Geschlechtes an den Wänden, mit Schreibpulten voll alter Briefe, Tagebüchern und Aufzeichnungen, und daß es immer Menschen gab, die Freude am Erzählen hatten! So konnte eine wahre Chronik entstehen.
Die Frauen, um die sich die Geschehnisse des Jahrhunderts abspielen, wollen nicht Hauptpersonen sein, sie halten nur den roten Faden in Händen, der die Geschehnisse zusammenbindet.
Mancher Leser wird in seiner Familie Trägerinnen solcher roten Fäden finden. Möge ihn die kleine Konstanzer Chronik anregen, sie zu binden und weiter zu spinnen.
Und die jungen Menschen von heute?
Sie haben keine Erinnerungen an das vergangene Jahrhundert; sie können keine Fäden weiter spinnen. Aber sie können sich ein wenig Zeit nehmen und die Vergangenheit besinnlich betrachten. Sie mögen auch kritisieren und sagen, daß besonders die beiden letzten Jahrzehnte recht tatenlos und etwas zu beschaulich verlebt wurden. Aber sie mögen bedenken, daß vielleicht gerade die Beschaulichkeit, das scheinbar untätige Aufnehmen und Verarbeiten aller Errungenschaften des Jahrhunderts, aller gerade in diesen Jahren auftretenden neuen und schweren Probleme eine gesunde und fruchtbare Grundlage bildeten für die Auswirkung im zwanzigsten Jahrhundert, mit der die jungen Menschen sich heute auseinandersetzen.
Die Verfasserin.