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Es war der nächste Morgen nach dem Empfangsabend bei Ignaz von Wessenberg, der mit der Gründung des Vereins zum Schutze sittlich gefährdeter Mädchen endete. Über Nacht war heller Frost eingetreten. Der Schnee knirschte unter den Füßen der sonntäglichen Kirchgänger, und die Sonne strahlte vom kaltblauen Himmel auf den Münsterplatz und schien über Gerechte und Ungerechte, wie sie es gottlob immer tut. Unter den letzten, die aus dem schönen gotischen Hauptportal des Münsters traten, war Marie Ellenrieder.
Als sie am Hause des Generalvikars, dessen Fensterreihen im Sonnenlicht funkelten, vorbei kam, warf sie einen fast unzufriedenen Blick hinauf. Sie dachte an den gestrigen Abend. Sie war unzufrieden. Nicht mit dem Gastgeber, nein, mit sich selber. Immer und immer wieder ging ihr Temperament mit ihr durch. Wo war ihre Abgeklärtheit, ihre Demut in Gott?
Auch heute war sie nicht innerlich ruhig, und sie wußte, wenn sie nach Hause kam, da saß ihre Freundin Joséphine im Atelier, um über den gestrigen Abend zu medisieren, und da fielen auch allerhand Bemerkungen für sie ab, und – Joséphine würde vielleicht recht haben.
Wie schwer war das wirkliche Leben! In ihrer Kunst, da lebte sie nur in Hingabe an das Göttliche, in ihre Tagebücher legte sie all ihre guten Gedanken, ihre Vorsätze nieder – aber in der Wirklichkeit?
Sie war unter diesen Betrachtungen die Fischmarktstraße hinuntergegangen und stand vor ihrem Haus, einem alten Patrizierhaus am Ende der Straße, das sie gekauft hatte. In gutem Barockstil hatte es ein weites Treppenhaus und große, lichte Räume. In dem größten hatte sie ihr Atelier eingerichtet. Da hingen die Madonnen, die Engel, Skizzen und Bilder aus ihrer Romzeit, und auf einer Staffelei in guter Beleuchtung stand das vollendete Porträt ihrer Freundin Joséphine.
Das lebende Original saß in diesem Augenblick dem Bild gegenüber. Es nahm sich etwas merkwürdig aus in dieser frommen Gesellschaft, das kühle Weltkind.
»Ich habe meine Sonntagsandacht mit deinen Engeln verrichtet und du wirst mich drum nicht schelten,« rief sie Marie entgegen, die draußen beim Ablegen des warmen Mantels und der pelzgefütterten Überschuhe von der alten Magd schon erfahren hatte, daß »das gnädige Fräulein Joséphine« gekommen sei.
»Wie könnte ich dich schelten, Liebe, ich würde ja dann meinen Engeln die Fähigkeit absprechen, Andacht zu erwecken.«
»Aber nun genug der Andacht. Ich bin gekommen, um über den gestrigen Abend zu …«
»Medisieren, zu kritisieren, ich weiß.«
»Was soll dieser bittere Ton, Marie?«
»Nicht bitter, nur bekümmert. Ich mache mir Vorwürfe.«
»Warum, meine fromme Seele?«
»Weil ich heftig wurde, weil ich die Abneigung gegen Heinrich Zschokke, die innere Gegnerschaft gegen unsern Freund Wessenberg nicht überwinden kann, weil mein Temperament …«
»Gottlob hast du noch Temperament,« rief Joséphine lachend, »es ist das Beste in dir und gibt auch deinen Bildern das Beste.«
»O sag das nicht, das klingt so äußerlich.«
»Äußerlich? Was wir Temperament nennen, ist doch nur der sichtbare Ausdruck tief innerlicher Veranlagung – doch genug, wir verlieren uns wieder in Betrachtungen. Was deine Abneigung gegen Zschokke anbelangt, so teile ich sie; er ist ein nüchterner Protestant.«
»Ich begreife Wessenberg nicht!«
»Ich begreife ihn sehr gut. Zschokke mit seiner Politik, seinen schriftstellerischen Arbeiten interessiert Wessenberg und regt ihn an. Wessenberg ist großzügig und tolerant.«
»Tolerant, tolerant? Nein, ich glaube, er neigt zum Protestantismus!« rief Marie wieder ganz erregt.
»Das ist ein großer Irrtum, Marie. Nein, der nüchterne Protestantismus sagt ihm nichts. Dazu ist er zu fest verankert und gebunden in den Traditionen eines alten katholischen Geschlechts, in der katholischen Kulturwelt. Und dann ist er ein Dichter. Er wollte nur seinem deutschen Vaterland eine deutsche Nationalkirche mit deutscher Sprache geben.«
»Aber warum, warum? Ist es nicht das Großartige, das Weltumspannende unserer Kirche, daß überall die gleiche Sprache den Gottesdienst beherrscht? In jeder Kirche ist die Heimat, das habe ich so recht auf meiner Reise empfunden, sie hilft das Heimweh überwinden. Jedes Dorfkind, jeder noch so einfache Mensch versteht soviel vom lateinischen Text der heiligen Messe, daß er die Worte des Heils und des Trostes im Gottesdienst kennt, wo er sie auch hört in der weiten Welt.«
»Das habe ich noch nie so bedacht,« erwiderte Joséphine sinnend.
»Und wenn sie auch nicht alle lateinischen Worte verstehen, so kennen sie den Sinn, und er ist eingehüllt in eine geheimnisvolle Sprache, die nicht zum Alltag gehört und sie deshalb entrückt und erhebt, und der Sinn ist die Hauptsache.«
»Du hast recht, liebes Herz, es ist immer nur der Sinn, auf den es ankommt.«
Und sie stand auf und küßte ihre liebe Freundin.
Nach einer Pause sagte sie dann leicht:
»Nun aber noch etwas ganz anderes. Ich wollte dich einladen zu einer Schlittenfahrt bei dem herrlichen Frostwetter.«
»Wie lieb von dir!«
»Es werden wohl zehn Schlitten sein, alle Bekannten wollen sich anschließen. Auch Wessenberg und Zschokke. Aber du wirst mit mir fahren, und zwar im schönsten Schlitten. Eine goldene Muschel. Und herrliche Felle und Decken und silbernes Schellengeläute, du wirst staunen.«
»Du bist verschwenderisch, Joséphine.«
»Warum sollte ich nicht? Vergnügen und Genuß haben für mich nur Wert, wenn sie auf einer ästhetischen Höhe stehen – und mein Geld ist dazu da.«
»O du eigensüchtige Person! Wo bleibt die Menschenliebe?«
»Im neuen Verein,« lachte Joséphine. » Au revoir, ma chêre!«