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Was konnte nun Konstanz, die kleine Stadt am See, den jungen Menschen bieten, die so weit gereist waren und so viel gesehen und erlebt hatten? War sie nicht ein wenig eng und langweilig?
O nein, denn sie war ja die Heimat, und die Heimat bietet doch immer das Schönste, mag sie auch eng und klein sein. Das Leben auf der Reise ist wie das Wandern durch wunderbare Säle eines Schlosses mit prunkvoller Einrichtung, mit Kunstschätzen, mit herrlichen Blicken aus hohen Fenstern in eine schöne Landschaft. Aber irgendwo in jedem Schloß, sei es Versailles, sei es der Palazzo Pitti, sind ein paar kleine Räume, nah beieinander, eng und heimlich. Dort haben die Besitzer der Schlösser ihr eigentliches intimes Leben geführt – und diese engen heimlichen Räume, die bedeuten die Heimat– das Schönste!
Die Schwestern Seiz waren wieder daheim. Auch die Freunde Honsell und von Marschall hatten ihre Studienreise abgeschlossen. Noch waren sie in den Kaffeekränzchen, in den Abendzirkeln Hauptpersonen und mußten erzählen; aber dann kam überall das eigene Interesse wieder hervor, man kehrte im Gespräch zu den näherliegenden Ereignissen zurück, und auch die Heimgekehrten wurden wieder gefangen genommen vom Alltagsleben, von Alltagssorgen. Sie waren wieder heimisch in den kleinen Räumen, wenn sie auch ab und zu mit hohem Genuß an die weiten Prunkgemächer dachten, die ihrer Erinnerung für immer gehörten. Das Leben in der kleinen Stadt ging weiter und die Jahre 1868 und 1869 erschienen etwas geruhsamer.
Im Winter 1870 wurde das Weihnachtsfest friedlich gefeiert, Brüder und Vettern waren in die Ferien gekommen und der berühmte Dreikönigsball im »Oberen Museum« versprach glänzend zu werden. Er war jedes Jahr der eigentliche Auftakt der Gesellschaftssaison in Konstanz. Alle Geschenke vom Weihnachtstisch wurden dort zum erstenmal vorgeführt. Nach der neuesten Mode geschaffene Balltoiletten, Spitzenfächer und Atlasschuhe, shawls und endlos lange Handschuhe aus feinstem Dänischleder, pompadours und ridicules. All das führte die Konstanzer Damenwelt auf diesem Ball vor Augen. Auch die Herren schmückten sich mit seidenen Taschentüchern, seidenen Socken, und die weiße Krawatte war auch auf dem Weihnachtstisch gelegen neben besonders eleganten Handschuhen.
Es war ein richtiger kalter, klarer Dreikönigstag. Beim Mittagessen hatte es in den meisten Familien den Dreikönigskuchen mit der eingebackenen Bohne gegeben, die unter Neugier und Lachen »herausgegessen« werden mußte und den Finder dann zum König oder zur Königin machte. Die Kinder beteiligten sich natürlich am eifrigsten bei dieser Handlung. Die jungen Mädchen verzichteten, denn wie sollten sie am Abend die taille auf 58 Zentimeter zuschnüren, wenn sie beim Mittagessen von der obligaten Biskuittorte gegessen hatten?
Beim Dunkelwerden begannen die Ballvorbereitungen, und die Friseuse machte die Runde von Haus zu Haus. Die Herren begaben sich dagegen persönlich in den Friseurladen und ließen sich dort verschönern.
Im Laden beim Friseur Frank in der Rheingasse ging es den ganzen Nachmittag lebhaft zu. Als die beiden Letzten erschienen Doktor Adolf Honsell und der Referendar Fieser, sein Freund. Kaum saßen sie, als die Tür aufging und der alte Gärtner Thomas des Hauses Seiz erschien und mit lauter Stimme rief:
»I möcht gern die Lock' von der Fräule Lina!«
»Pscht, pscht,« machte der Friseur und übergab hastig eine längliche Schachtel.
Aber der Doktor Adolf hatte doch alles gehört, denn bei der Nennung dieses Namens hatte er die Ohren gespitzt.
Das »Obere Museum« strahlte hell erleuchtet. Einige Kutschen fuhren vor; aber die meisten Gäste kamen zu Fuß, wohl verwahrt in Mänteln und Überschuhen. Man war nicht mehr so üppig in seinen Lebensformen. Auch die Fräulein Seiz kamen brav zu Fuß von der Rheingasse her; der schöne Landauer der tante Joséphine stand verstaubt in der Remise, Papa Seiz hatte die Pferde als Luxus abgeschafft.
Sie erschienen in Pariser Toiletten, die von der couturière von 1867 geschickt waren und schon auf dem Weihnachtstisch großes Entzücken hervorgerufen hatten. Aber auch alle Freundinnen waren auf das eleganteste gekleidet, und der Anblick von soviel junger Anmut und Schönheit ließ vor allem die militärische Männerwelt zur Attacke vorgehen. Die Offiziere des seit 1867 aus den zwei Füsilierbataillonen zusammengefügten 6. Badischen Infanterieregiments mit den grünen Achselklappen waren fast vollzählig erschienen, wenigstens die ledigen, und die blitzenden Uniformen verdunkelten die wenigen schwarzen Fräcke.
Die schöne Lina Seiz war umschwärmt, und ihr Jungmädchenherz war erfüllt von Stolz und Befriedigung. Besonders als noch unter ihrem cortège die beiden Brüder Zeppelin, Ferdinand und Eberhard, erschienen, die auf Urlaub im Elternhaus auf der »Insel« waren. Die beiderseitigen Eltern waren befreundet durch die Jungmädchenfreundschaft der Mütter, des ehemaligen Fräuleins von Bayer und des Fräuleins Macaire.
Die armen Frackträger waren etwas in den Hintergrund gedrängt, aber Doktor Adolf Honsell, der auch auf Weihnachtsurlaub von Freiburg gekommen war, hatte nicht die Absicht, sich das gefallen zu lassen. Er eroberte eine Mazurka von der schönen Lina Seiz.
Als sie, wartend auf die ersten Takte der Musik, nebeneinander standen, sah der junge Doktor angelegentlich auf die beiden blonden Locken, die graziös auf den weißen, schönen Hals seiner Dame fielen.
»Was schauen Sie mich denn so merkwürdig an?« fragte das junge Mädchen.
»Ich möchte halt wissen, welches nun die echte und welches die falsche Locke ist,« sagte der Doktor verschmitzt.
»Abscheulich!« rief Lina zornig errötend und ließ ihren Tänzer stehen, indem sie sich an einen jungen Leutnant wandte und mit ihm die Mazurka begann.
Ganz verblüfft blieb der Doktor zurück. Er hatte ihr vom alten Thomas erzählen wollen, hatte gedacht, daß sie lachen würde, daß durch das Lachen eine vertraulichere Stimmung aufkommen würde, die er brauchte, um – nun, er würde der schönen Ballkönigin schon noch habhaft werden heute abend.
Und es gelang ihm beim cotillon. Da erzählte er ihr mit soviel Humor die Szene beim Friseur Frank, daß sie lachen mußte und entwaffnet war. Und ihr Lachen, liebenswürdig, ein wenig kühl, voll charme, riß den jungen Mann hin. Hinter seiner ruhigen, humorvollen Art lebte ein starkes Temperament voll Schwung und Energie und eine tiefe Leidenschaft. Und aus diesem Gefühl heraus sprach er von seiner Liebe.
O, wie unklug ist oft die Leidenschaft! Wie konnte sie glauben, das Herz einer gefeierten Ballkönigin zu erobern, die, überschüttet von Huldigungen und Schmeicheleien, in befriedigter Eitelkeit glüht? Wie konnte sie glauben, es mit der Eitelkeit aufnehmen zu können, dieser primitiven Beherrscherin des Ballsaales?
Arme Leidenschaft! Sie unterlag, und die schöne Lina Seiz gab auf dem Ball dem jungen Doktor Honsell einen Korb.
Der cotillon ging zu Ende, und der letzte Tanz wurde getanzt. Schwester Frieda und Freund Fieser waren die Einzigen, die merkten, daß mit dem Bruder und Freund etwas vorgefallen war. Der Freund ahnte ein wenig die Wahrheit, und mit bösen Blicken schaute er auf die Gruppe strahlender Mädchen, umgeben von den betreßten Kavalieren, und hörte ihre lachenden Stimmen.
»O diese Mädel! Da verdrehen sie einem die Köpfe mit ihrem Lachen, mit ihrem graziösen Drehen und Wenden, mit ihrem Augenblitzen, ihren kleinen Händen und zierlichen Füßchen – doch halt!«
Er unterbrach seine Betrachtung und eilte aus dem Saal.
Der Aufbruch begann langsam. Die älteren, würdigen Herrschaften waren schon in den Garderoben, die für Herren und Damen fein säuberlich getrennt waren.
Da gab es in der Damengarderobe manch anderes Bild als im Saal drinnen. Manch dünner, gebleichter Scheitel kam unter der Haube, die abgenommen wurde, zum Vorschein; unter den hochgeschürzten Kleidern kamen manch ungraziöse Formen und kümmerliche Waden zu Gesicht. Und die Umhüllungen und Überschuhe waren oft lange nicht so elegant wie die im Saal vorgeführten Ballkleider. Wie gut war doch die Trennung der Garderoben und die schwache Straßenbeleuchtung der an Ketten über die Straße gezogenen Laternen.
In der Damengarderobe war in dieser Nacht eine gelinde Aufregung. Die jungen Mädchen konnten ihre Überschuhe nicht finden, und die alte Frau Bosch, die Garderobefrau, konnte keine Auskunft geben. Sie tat zwar nur so, denn sie wußte, wo die Schuhe waren; aber ein paar blanke Gulden hatten ihr den Mund verschlossen. Auch war sie keine Spielverderberin.
Aber wo waren die Schuhe, die die zarten, im feinsten Atlas und Brokat steckenden Füßchen schützen sollten?
Sie standen in Reih und Glied, etikettiert mit den Namen der Besitzerinnen, auf der kleinen, leeren Musikempore im Saal, und Referendar Fieser postierte sich wie ein Feldherr davor, während Doktor Honsell untätig, doch nicht uninteressiert im Hintergrund lehnte. Die Türen des Saales waren gegen die Garderoben geöffnet, und als Fieser die Unruhe bemerkte, rief er mit hallender Stimme: »Hierher, meine Damen und Herren! Die schönsten Fußbekleidungen für die schönsten Damen!«
Alles drängte in den Saal, und nun flogen unter Ausrufen der Namen die merkwürdigsten Gebilde von Schuhen von der Empore herunter und glitten stolz über das glatte Parkett. Da kamen alte babouches, Selbendschuhe, »Finken«, warme Pelzstiefel, Gummigaloschen durch die Luft. Lachen und Hallo, aber auch ärgerliches Erröten empfingen sie drunten.
Doktor Adolf hatte eine Weile schweigend zugeschaut. Dann nahm er plötzlich die Pelzstiefel, die, trotzdem sie schon ältlich waren, doch eine gute Herkunft verrieten und den Namen Lina Seiz trugen, und warf sie nun seinerseits mit dem lauten Ruf »Fräulein Lina Seiz!« in den Saal. Es war für ihn eine symbolische Handlung. Auch wenn die Füßchen des geliebten Mädchens in den schwersten Schuhen stecken würden, er wäre bereit, seine Hände darunter zu breiten ein ganzes Leben lang.
Am andern Morgen kam der Doktor Adolf sehr spät zum Frühstück. Seine Schwester Frieda hatte auf ihn gewartet; sie wollte ihm den Kopf zurecht setzen über den Streich mit den Schuhen. Die Freundinnen waren alle empört gewesen und hatten ihr noch ein paar recht spitzige Bemerkungen über ihren Bruder und seinen Freund mit auf den Heimweg gegeben. Und dann, was war am Schluß des Balles mit Adolf los gewesen? Er hatte so anders ausgesehen, und in seinen Augen war ein so merkwürdiges Licht gewesen.
Als er nun ins Eßzimmer trat, sah sie, daß er wohl gar nicht geschlafen hatte.
»Was ist mit Dir, Adolf?« fragte sie besorgt, als er schweigend seinen Kaffee trank.
Er sprang auf. »Sie hat mir einen Korb gegeben,« sagte er, »aber – ich krieg sie doch!«
Die Krinoline