Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Da hängen sie, die alten Bilder, an den Wänden des Alten Hauses. Ölbilder, Pastelle, Miniaturen, Daguerreotypien und Photographien aus neuerer Zeit. Die Ölbilder fesseln am meisten, denn durch die Auffassung des Künstlers liegt viel Geheimnisvolles, ja Rätselhaftes in den Gesichtern, und man will eindringen in das wirkliche Leben der Gemalten. Kennt man dann ihre Lebensgeschichte, so gewöhnt man sich an die Bilder. Das Interesse erlahmt, und die Gegenwart nimmt einen gefangen.
Doch – da sitzt man einmal allein im Ohrenstuhl am Ofen. Draußen ist's kalt, der Wind jagt die Wolken am Himmel dahin, hie und da bricht die Sonne durch, und – da gleitet ein Strahl durchs Fenster und trifft ein Bild, glänzt auf einem Gesicht, und wie Leben zuckt es drüber hin. Die Augen leuchten, der Mund scheint zu lächeln oder ernste Worte sprechen zu wollen. Und da wird es lebendig in dem toten Bild. Die Gestalt fängt wieder zu leben an, die Vergangenheit steht auf! Wie reich sind die Geschichten der alten Bilder, denn die Menschen, die sie erlebten, gehörten zusammen, sie kamen und gingen, aber sie hielten und halten ein Band in Händen, eine Kette verbindet sie, die Kette der Familiengeschichte.
Von all unseren Familienbildern wußte ich schon früh die Geschichten, nur von einem kleinen Pastellbild konnte ich nicht viel erfahren. »Die beste Freundin der Urgroßmutter« hieß es. »Eva von Bodman, Stiftsdame zu Augsburg, geb. 1780, gest. 1810« stand auf der Rückseite in der mir bekannten Schrift der Urgroßmutter. Es war ein Frauenkopf in zarten Pastellfarben. Er hob sich kühn und anmutig zugleich auf dem schlanken Hals. Kühl blickten dunkle Augen, nur um den Mund lag leidenschaftlich bewegtes Leben. Nicht schön war dieser Frauenkopf, aber fesselnd und eigenartig, reizvoller als manches zierliche Gesichtchen, das uns aus jener Zeit oft anschaut.
Neunundzwanzig Jahre hatte sie gelebt, und ich wußte nichts von ihr. Und doch erfuhr ich einmal ihre Geschichte, und zwar aus einer Potpourrivase!! –
Die alte Potpourrivase war zerbrochen. Sie hatte, seit ich denken konnte, auf dem runden Tischchen mit der perlenbesetzten Platte gestanden. Unter dem kleinen Pastellbild.
Schon als Kind war mir verboten, den Deckel der Vase aufzuheben. »Es sind Rosenblätter drin. Das war früher so Mode. Aus dem Deckel strömte dann der Duft der verwelkenden Blätter, der ja besonders stark ist. Drum roch es und riecht es noch in den alten Zimmern so gut,« wurde mir erklärt.
Einmal aber öffnete ich doch den Deckel, ich wollte die Blätter einer stark duftenden Centifolie, der altmodischen Rosenart, wie mein Großvater sagte, in die Vase stecken, um das Gesagte auszuprobieren. Aber nur wenige Blätter gingen in den schmalen Hals der Vase, sie mußte bis oben gefüllt sein. Rasch schloß ich den Deckel und nie mehr habe ich ihn die langen Jahre wieder geöffnet.
Nun lag die Vase zerbrochen am Boden. Vertrocknete Rosenblätter lagen zwischen den Scherben, aber im Hals steckte eine fest zusammengedrehte Rolle vergilbten Papiers. Traurig nahm ich alles auf. Wer hatte wohl die Rosen gepflückt und hier aufbewahrt, und wer hatte die Rolle in die Vase gesteckt?
Unwillkürlich schaute ich nach dem Pastellbild über dem Perlentischchen. Sollte ich endlich etwas erfahren von der reizvollen Frau, die mich immer interessiert hatte?
Neugierig, aber doch mit leiser Scheu rollte ich die vergilbten Blätter auseinander und las – und las die ganze Nacht. Es war ein Tagebuch, ein Sommertagebuch, und das Leben vor hundert Jahren im Alten Haus, das aber damals noch kein altes Haus war, wachte vor mir auf, und die reizvolle Frau trat aus ihrem Rahmen und all die andern, die Ururgroßeltern, die Urgroßeltern, die Urgroßonkels, die so feierlich und prächtig in ihren Goldrahmen an den Wänden des Saales hingen, stiegen auch herunter und setzten sich auf die Möbel, die sie damals auf den Platz gestellt hatten, auf dem sie heute noch stehen. Und draußen vor den Fenstern rauschten die Bäume und die Wellen plätscherten ans Ufer – wie damals.