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Die Insel Mainau lag in ihrem schönsten Rosenschmuck, um ihre Herrin, die Großherzogin Luise, wie jedes Jahr festlich zu empfangen. Der Himmel wölbte sich strahlend über dem blauen See, auf dem sich von Konstanz her der Dampfer »Kaiser Wilhelm« bewimpelt und bekränzt der Insel näherte. Nicht nur die Schloßherrin, auch der Großherzog, die Prinzen und Prinzessin Victoria, die Kronprinzessin von Schweden, und der alte Kaiser Wilhelm waren an Bord. Der kaiserliche Vater besuchte fast jedes Jahr zwischen den Kuren von Ems und Gastein seine Tochter auf ihrem herrlichen Besitztum im Bodensee.
Die Bevölkerung von Konstanz und der Umgebung nahm immer regen Anteil an diesen Besuchen, waren die badischen Landeskinder doch eng verbunden mit ihrem Herrscherhaus. Ich glaube, es gibt im badischen Land wenig Familien, die kein persönliches Erinnerungsstück in ihrem Heim haben an 's Großherzogs. Es war ein freies Verhältnis, voll Ehrfurcht, aber ohne Devotion! Hieß es doch oft scherzhaft: »'s badische Musterländle ist eine Republik mit 's Großherzogs an der Spitze.«
Wieder kann ich den Geschichtsschreiber Lamprecht zitieren, der über die letzten drei Jahrzehnte das Wort der »glücklichen Zeiten« gesprochen hat und weiter sagt: »Das Volk in der neuen sozialen Schichtung, Unternehmertum und vierter Stand und die gemäß dem Aufkommen dieser neuen Bildungen abgewandelten alten Stände mit ihren Lebensinteressen und ihrem Lebensfortschritt, sind die maßgebenden Kräfte für die innere und auch die äußere Geschichte gewesen. Und sie haben einmal an sich, durch das reine Recht und die bloße Tatsache ihres Daseins und ihrer Tätigkeit, dann aber auch mittelbar durch die nationale Vertretung und ihre Parteien hindurch gewirkt. Über ihnen aber stand eine verständnisvolle Monarchie, die sich stark von der Zeit tragen ließ, ohne doch von ihrem eigenen Recht auch nur einen Deut aufzugeben, ja, die eben durch rechte Führung der Nation einen Einfluß zu erlangen wußte ohnegleichen.«
Das war das Bild des badischen Landes unter dem Herrscherpaar Friedrich und Luise. Die beiden Gestalten gehören der Geschichte an. Ich will hier nur die menschlichen Züge schildern, die ich persönlich beurteilen kann. Der menschlichste Zug der Großherzogin war ihre tiefe Frömmigkeit, aus der der Wunsch entstand, die Ungerechtigkeit des Schicksals zu überbrücken. Nicht durch Gebet, sondern durch Wohltun und Hilfe. Von dieser Seite aus faßte sie die große soziale Frage an, und wenn wir heute diese Frage anders zu lösen suchen, so war sie als Fürstin gebunden an die Anschauungen ihres Standes und auch der Zeit. Aber sie war bahnbrechend mit dem Badischen Frauenverein, der vorbildlich über das ganze Land verzweigt war.
Wohl stand auch hier die eigensüchtige Menschenliebe im Vereinsleben in hoher Blüte, wohl war manches übertrieben; aber der Ruhm, die freiwilligen Frauenkräfte zum Wohl des Landes anzuspannen und zu nutzen, bleibt ihr für alle Zeiten. Sie fühlte sich als Landesmutter, und wie alle Mütter war sie manchmal zu eifrig und ein wenig unbequem. Aber sie hatte die Größe, Fehler einzusehen, was bei Fürsten, denen von Kindheit an selten Fehler zugetraut wurden, nicht oft vorkam.
Sie verlangte einmal von meinem Vater in der Krankenpflege eine Neuerung. Mein Vater sagte: »Königliche Hoheit, das mache ich nicht, das ist unpraktisch.« Da wandte sich die Großherzogin mit den Worten ab: »Dann hole ich mir einen anderen Arzt.« Ein halbes Jahr war der Papa in Ungnade, aber dann rief sie ihn und bekannte freimütig, daß er recht und sie unrecht gehabt habe, und die Freundschaft war wieder hergestellt.
Mein Vater war nämlich im Sommer Arzt auf der Mainau. Erst in den Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts kam der Karlsruher Leibarzt mit an den See. Aber in den Tagen jenes Sommers, als die Fürstlichkeiten zu Besuch waren, da kam der Doktor Honsell nicht als Arzt auf die Mainau, sondern in Begleitung Viktor von Scheffels, um ein Festspiel zu Ehren Kaiser Wilhelms in Szene zu setzen, und die Konstanzer Gesellschaft wirkte mit. Im Geist der Zeit traten lauter allegorische Frauengestalten auf. Vielleicht haben die vielen schönen Frauen, die damals in der Konstanzer Gesellschaft glänzten, dem Dichter Scheffel die Idee dazu gegeben.
Auch ich als kleines Mädele durfte mitwirken und dieses Fest ist eine meiner ersten Kinder-Erinnerungen, wenn auch manches durch spätere Erzählungen ergänzt wurde.
Noch steht der strahlende Sommertag vor mir. In der Bucht neben der Brücke, dem Lande zu, lagen die geschmückten Boote. Teppiche und Blumengewinde schleiften im Wasser und auf Kissen saßen die Göttinnen in fließenden Gewändern. Neben jeder Göttin saßen zwei Kinder, die die Embleme zum besseren Verständnis trugen. Meine Mama war die Göttin der fruchtbaren Erde; ich trug ein Körbchen mit Blumen und ein kleiner Bub, mein Partner, trug Ähren und Früchte. Im gleichen Boot war auch die Göttin der Kunst mit Pinsel, Meißel und Griffel.
Wir Kinder hatten schon vorher Kuchen und Erdbeer-Eis bekommen und waren sehr lustig und natürlich aufgeregt. Als nun unser Boot langsam um die Bucht fuhr, dem Zug der andern folgend, da wurde es meinem kleinen Partner übel, und das ganze Erdbeer-Eis ergoß sich über das weiße Gewand der »Kunst«. Großer Schreck, Empörung, Aufregung. Beinahe wären wir alle ins Wasser gefallen. Aber mit großer Ruhe kam mein Vater als Regisseur herbeigerudert und tauchte einfach die ganze Schleppe des Gewandes in den See.
»So, nun sind Sie ganz echt, holde Göttin der Kunst. Die Griechen haben ja die Gewänder ihrer Göttinnen auch erst ins Wasser getunkt, ehe sie sie meißelten, damit der Faltenwurf recht anschmiegend wurde.« Und die Aufregung war damit vorbei.
An die Aufführungen kann ich mich nicht mehr erinnern. Nachher kam der alte Kaiser auf uns zu, redete lange mit der Mama, beugte sich dann nieder und gab mir einen Kuß auf die Stirn. Ich war sehr stolz. Die andern Küsse, die ich noch bekam, machten keinen so großen Eindruck wie der von dem alten, gütigen Mann, der ein Kaiser war.
Nachdem alles vorbei war, sah ich nur ein Gewoge von Kostümen, eleganten Toiletten, von denen mir das Kleid der Kronprinzessin von Schweden, ein grau Seidenes mit unzähligen hellblauen Schlüpfle von oben bis unten, am besten gefiel; weiter Uniformen und schwarze Fräcke mit vielen Orden. All das bewegte sich langsam zum Schloß hinauf. Für uns Kinder war wieder eine Tafel gedeckt mit Schokolade, Kuchen und Eis. Mein kleiner Partner saß ganz trübselig neben mir, während ich es mir herrlich schmecken ließ. Die Herrschaften kamen an den Tisch und der Kaiser blieb bei uns stehen, beugte sich vor und fragte: »Warum issest du denn nichts, mein Kleiner?«
Da rief ich ganz laut: »O, der kann nit, ich eß seinen Teil, dem war's vorher schon übel, er hat das Kleid …« Da legte sich die Hand meiner Mama auf meinen Mund, und der Satz blieb unvollendet. Es war gut, denn er war wirklich nicht bon ton oder comme il faut!
Alles lächelte – bei Hof lächelt man nur – und der Kaiser sagte: »So, so, das tut mir leid!« Kaiser sagten manchmal so einfache natürliche Worte, und wenn die Hofschranzen und die in Ehrfurcht ersterbenden Untertanen nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt hätten, würden sie sicher mehr davon gesagt haben.
O, dieses übertriebene Getue mit den Fürsten und Großen des Landes! Und auf der andern Seite das rücksichtslose Herunterziehen und Mißachten! Warum wählte man nicht den Mittelweg, der immer der goldene ist?
Warum mit Betonung »Männerstolz vor Königsthronen«? Ein wahrer, stolzer Mann braucht es nicht zu betonen.
Ich bin nicht bibelfest, aber der Satz »Gebt Gott, was Gottes ist, und dem Kaiser, was des Kaisers« hat mir immer gefallen. Und das wurde in unserem Haus geübt.
Da mein Vater sehr viel auf der Mainau war, war es auch für uns nichts Überwältigendes, zu Hof zu gehen und mit den Herrschaften zu verkehren. Wir erstarben nicht in Devotion, wir verehrten und liebten unsere »Großherzogs«.
Die Etikette, die Formen des Hofzeremoniells erschienen uns als schöne, verfeinerte Tradition. Die Herren und Damen mit großen Namen und Titeln waren uns sehr interessant; aber sie beengten uns nicht. Denn durch den Einfluß Papas nahmen wir all das nicht überwichtig.
Welche Einengung, welche Unfreiheit bringt das Überwichtignehmen dieser äußeren Dinge des Lebens! Erst wer sich davon befreit, kann ein freier Mensch werden! Mein Vater war es und wollte uns dazu helfen. Immer schälte er das Menschliche heraus bei den Trägern hoher Würden und auch das Komische. Wir hatten Exzellenzen, Geheimräte, ja eine Eminenz in der Familie, alles ganz traitable Leute ohne Titel, alle auch mit komischen Eigenschaften. So machten mir Titel nie einen Eindruck und haben mir nie Sicherheit und Kritik genommen. Aber trotzdem auch nicht die Achtung und den Respekt vor dem Erreichten, was doch wohl meistens zu den Titeln geführt hatte.
Ein bis zweimal in der Woche war der Papa zum diner auf der Mainau, meist mit dem Großpapa zusammen, der durch seinen Geist und seine glänzende Unterhaltungsgabe, seinen scharfen Witz enfant gâté bei den Herrschaften war. Er war pensioniert, und da stand er immer zur Verfügung. Er fühlte sich ganz jugendlich bei Hofe; denn die Tage bei der Hortense auf Arenenberg lebten wieder auf. Ja, sogar in Wirklichkeit, denn zweimal begleitete er die Herrschaften bei einem Besuch bei der Kaiserin Eugénie, die dort wieder Hof hielt und mit den badischen Herrschaften durch verwandtschaftliche Beziehungen verknüpft war.
Auch meine Eltern waren einige Male von der Reichenau eingeladen. Wir Kinder fuhren dann mit der Gondel nach Mannenbach, schlichen durch den Park hinauf und wenn das diner vorbei war, bekamen wir Früchte und Konfekt zum schnabulieren. Damals sah ich auch einmal noch die Kaiserin, immer noch eine wunderschöne Frau – alle Märchenköniginnen hatten von da an die Züge der Kaiserin Eugénie.
Doch ich wollte noch drei Geschichten von 's Großherzogs erzählen, damit das Kapitel einen guten Abschluß bekommt.
*
Eines Tages war der Papa zum diner befohlen und wollte mit einigen Konstanzer Herren, die auch geladen waren, gemeinsam hinaus auf die Mainau fahren. Als der Wagen vor der Tür stand und der Papa in Frack und Orden eben einsteigen wollte, kam ein Bote aus dem Krankenhaus mit dem Bericht, daß ein Kind mit Diphtherie eingeliefert sei. Da schwang sich der Papa auf sein Dreirad und rief den Herren zu: »Einen schönen Gruß an 's Großherzogs und ich käme später – denn das gute diner laß ich mir nicht entgehen!«
Die Herren fuhren kopfschüttelnd ab und beschlossen, nichts zu sagen. Nach zwei Stunden sauste ein Dreirad in kühnem Bogen in den Schloßhof, und die erstaunten Lakaien erkannten den Doktor Honsell staubbedeckt.
»Schnell eine Bürste!« rief er, und der alte Kammerdiener, der den Papa gut kannte, rannte hilfreich herbei. »Die Herrschaften sind aber schon am zweiten Gang!« sagte er bedenklich.
»Der soll mir grad gut schmecken!« lachte der Doktor und eilte in den Saal.
Große Mißbilligung in den Gesichtern der Hofgesellschaft, kühle Verwunderung in der Miene der Großherzogin, als er hinter ihren Stuhl trat und sich verneigte: »Verzeihung, Königliche Hoheit! Ich hoffe, die Herren haben es mitgeteilt, daß ich zu einer dringenden Operation gerufen wurde.«
Da erwärmten sich die Züge der Fürstin. »Und ist sie gelungen?«
»Gottlob, das Kind ist gerettet!«
»Nun, lieber Doktor, da braucht es keine Entschuldigung. Arztdienst geht vor Hofdienst!« Und mit liebenswürdigem Lächeln wies sie dem Doktor den Stuhl an ihrer Seite an. Alles lächelte wieder, nur die drei Konstanzer Herren hatten rote Köpfe. Der Großherzog nickte dem Doktor zu.
Auf der Heimfahrt balanzierte das Dreirad stolz hinten am Landauer zur Freude der Lakaien und der Buben auf der Rheinbrücke.
*
Einmal war die Mama mit fünf Mädels, drei Kusinen, meiner Schwester und mir zum Tee befohlen. Wir fuhren im Dampfschiff auf die Mainau und die Mama gab uns noch eine Reihe Verhaltungsmaßregeln; denn mit dreizehn und vierzehn Jahren nimmt man es mit der Etikette noch nicht so genau: »Beim Tee benehmt euch bescheiden, eßt nicht zu viel; es macht keinen guten Eindruck, wenn Mädchen so gierig sind.«
Wir wurden von der Hofdame empfangen, die gleich nach der Begrüßung sagte: »Die Großherzogin meinte, die jungen Mädchen würden lieber den Tee allein trinken. Bitte, kommt hier in den kleinen Saal! Die Mama nehme ich gleich mit zur Großherzogin.«
Da standen wir nun vor einem schön gedeckten Tisch. In vier silbernen Körbchen prangten köstliche Törtchen mit Schlagrahm und Früchten. Zwei Lakaien servierten den Tee und verschwanden dann. Die Verhaltungsmaßregeln von vorhin waren vergessen und wir futterten drauf los. Plötzlich sagte meine Kusine, die die Älteste war: »Aber wir sollten doch nicht alles aufessen, das schickt sich nicht.« Und nun suchten wir die vier kleinsten Stückle heraus und legten in jedes der vier Körbchen eines als »Anstandsbröckele«.
Als die Lakaien hereinkamen, verbissen sie das Lachen; aber die Hofdame lachte hell heraus, als sie das Arrangement sah. »Euch hat's aber gut geschmeckt, das wird die Großherzogin freuen. Kommt nun mit!«
Und dann machten wir unseren Hofknicks, und die Mama war mit uns zufrieden. In zwei Hofwagen fuhren wir sehr befriedigt und sehr satt nach Haus.
*
Auch auf der Reichenau im alten Haus durften wir die Herrschaften öfters empfangen. Einmal war vor dem Tee ein Fest im Dorf, und dem Großherzog wurde der Ehrentrunk überreicht, wobei dem Bürgermeister eine kleine Entgleisung passierte. Voll Humor erzählte er sie nachher im Saal der Großherzogin, die gleich zu uns gekommen war.
»Weißt du, Luise, was der Bürgermeister zu mir sagte, als ich den Wein des Ehrentrunkes lobte? ›Königliche Hoheit,‹ sagte er und klopfte mir auf die Schulter, ›'s isch no lang nit vom Beschte!‹ – Ich muß mich bei den Reichenauern im Regieren anstrengen, damit ich das nächste Mal vom ›Beschte‹ bekomme.«
Und er lachte voll Humor, und die Großherzogin stimmte ein. Da sagte mein Vater: »Darf ich auch eine kleine Geschichte erzählen, die neulich passierte, Königliche Hoheit?«
»Aber gewiß, lieber Honsell!«
»Als die Königlichen Hoheiten neulich an der Station Reichenau ausstiegen und ich neben Ihrer Königlichen Hoheit stand, um den Hofwagen auf die Mainau zu erwarten, trat die Frau des Bahnhofsvorstands aus der Tür und machte ihre Verbeugung. Königliche Hoheit grüßten und fragten: ›Nun, was kochen Sie heute?‹ – ›Nix,‹ sagte sie mit ganz rotem Kopf. Königliche Hoheit waren etwas verwundert, sagten aber nichts und wandten sich ab.
Da sagte die Frau leise zu mir: ›O, Herr Medizinalrat, ich hab doch nit sage könne: Saubohne und Speck! zu 're Großherzogin.‹«
»Ja, ja, Luise, du richtest manchmal Verlegenheiten an,« lachte der Großherzog.
»Das tut nichts. Meine Landeskinder wissen doch, wie ich es meine,« sagte die Großherzogin – und sie hatte recht.