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Die bekannten Rappen im Silbergeschirr vor dem seidenausgeschlagenen Landauer der tante Joséphine stampften ungeduldig, während Baptiste, der Kutscher, seiner Würde bewußt, wie eine Statue auf dem Bock verharrte.
Nur seine Augen gingen aufmerksam hin und her von dem schönen braunen Barockportal mit den blankgeputzten Messingbeschlägen bis zur Ecke des einstmaligen bischöflichen Palais. Seine Herrin wollte eine Ausfahrt nach der Lorettokapelle machen und erwartete noch zwei Gäste. Der eine, ein junger Mann, der schon längere Zeit im Hause ein- und ausging, war eben eingetreten. Nun sollte noch die Malerin Fräulein Marie Ellenrieder, die am alten Fischmarkt wohnte, kommen. Da bog sie um die Ecke, Baptiste konnte hoffen, daß die Fahrt endlich losgehen würde.
Es war ein wundervoller Sommertag. – In duftigen Toiletten mit blumengeschmückten Hütchen und kleinen seidenen Sonnenschirmen mit verstellbaren Elfenbeinstöckchen, den ridicule am Arm, feine Filéthandschuhe an den Händen, stiegen die Damen ein unter den Hilfeleistungen des jungen Mannes. Im Wagen verschwand er zwar fast unter allen Volants und Plissés; aber er fühlte sich trotzdem als Hauptperson, denn er zeigte nun seit Wochen den Damen die Stadt, er erklärte ihnen ihre alte Geschichte, ihre Kunst. Er war nicht umsonst der jüngste Professor am Lyzeum. Er kam aus dem badischen Unterland, war beweglichen Geistes, scharf und witzig, und tante Joséphine hatte ihn, den jungen Professor Carl Seiz, zu ihrem bevorzugten Hausgast erkoren. Sie nahm ihn in Beschlag. Sie beanspruchte seine Kavaliersdienste, auch seinen Rat und sein Urteil. Er fühlte sich sehr geschmeichelt, so ausgezeichnet zu werden von einer Persönlichkeit, die in Konstanz eine Rolle spielte, – und da war ja auch noch die junge Nichte, die feine, stille Johanna von Bayer.
Wohl kam er selten dazu, sich mit ihr allein zu unterhalten, und am Wortgefecht mit tante Joséphine beteiligte sie sich kaum. Er fühlte oft, wie die Debatten, die fast freigeistigen Reden ihr zartes Gemüt verletzten. Dann hatte er den Wunsch, sie zu trösten, ihr zu sagen, daß alles nur zur Hälfte ernst zu nehmen sei, daß er nur, wie die tante Joséphine, das geistreiche Spiel des Wortgefechtes liebte, daß er wohl die Tante verehrte, daß aber sein Herz für sie, die sanfte Johanna schlage in heißen Schlägen.
Wenn sie ihn oft bei seinen Behauptungen erschrocken anschaute, dann traf sie sein Blick, und der sagte etwas ganz anderes. Verstand sie, was er sagte?
Der Wagen mit den vier Insassen hatte die Rheinbrücke passiert und rollte langsam am Zumsteinschen Gut vorbei, das Anno 1817 die Königin Hortense für kurze Zeit bewohnt hatte, dem Lorettowald zu. Die Fahrstraße führte durch das Eichhorn, während ein schattiger Fußweg sich am Seeufer hinschlängelte zum bekannten ländlichen Wirtshaus »zum Käntle«. Dort wurden die Konstanzer mit guten Seefischen und unverfälschtem Seewein zu jeder Jahreszeit gastlich empfangen. Daneben bot sich der Genuß einer herrlichen Aussicht auf den See und das bei klarem Wetter stolz aufragende Säntismassiv.
Heute lag alles in Dunst und blendendem Sonnenglast, so daß die Damen im Wagen ihre Sonnenschirmchen nach Westen geknickt hatten, ängstlich besorgt um ihren Teint. Sie atmeten auf, als sie der kühle Wald empfing mit dem Schatten hoher Buchen. Der Wald bedeckte die ganze Landzunge, das Horn genannt, die die Konstanzer Bucht vom Überlinger See trennt. Er erstreckte sich bis zum Hügel, auf dem die Lorettokapelle stand. Das war das Ziel der Fahrt.
Die Aussicht bezauberte die Damen, und der Professor Seiz erklärte die Gegend: das stolz ragende Meersburg mit der Stauferburg und dem bischöflichen Schloß; das fröhliche Überlingen mit dem deutlich sichtbaren Kern der alten Reichsstadt und die Insel Mainau mit dem Deutschritterschloß.
Tante Joséphine schaute aufmerksam um sich und hörte interessiert zu. Es kam ihr dabei wieder zum Bewußtsein, wie in alten Zeiten der See ein einheitliches Landesgebiet war. In Arbon war ja auch eine Stauferburg, und die Bischöfe von Konstanz hatten auch auf der jetzigen Schweizer Seite des Sees ihre Besitzungen.
»Grenzen, was sind Grenzen? Willkürliche Striche, die von Männern aus Staatsinteresse durch das Land gezogen werden. Mit der Feder oder dem Schwert in der Hand. Ich denke an den Wiener Kongreß und die Schlachten Napoleons. Oft ohne zu bedenken, daß sie uralte Einheiten des Volkes trennen, wie gerade hier am See,« rief sie.
»O beschwere doch nicht den herrlichen Anblick der Natur mit solchen Betrachtungen,« bat Marie Ellenrieder, »gerade hier nicht,« und sie schaute mit ihren klaren Künstleraugen dankbar beglückt in die sommerlich prangende Landschaft. Dann nahm sie Johanna an der Hand und trat in die kleine Kapelle, um zu beten.
Da knieten die beiden, und als nun auch Carl Seiz mit tante Joséphine eintrat, fiel die Sonne auf das klare Profil Johannas, und ein Gefühl der Andacht wollte den jungen Mann erfassen, obwohl er sich eigentlich immer als ein kühler, aufgeklärter Professor vorkam.
Tante Joséphine ließ ihm aber keine Zeit, diesem Gefühl nachzugeben. Sie wandte sich an Carl Seiz mit den Worten:
»Nun, Professor, geben Sie mir wieder eine geschichtliche Erklärung, wie immer auf unseren Fahrten. Diesmal wird es wohl etwas Kriegerisches geben, denn ich sehe da ein Bild hängen, das wohl von Kämpfen handelt. Wollen Sie mir eine Erklärung geben, was dieses Bild besagt?«
Die beiden Betenden erhoben sich und traten vor die Kapelle. In die weiche Stimmung eines Mariengebetes paßte keine Schilderung von Krieg und Kampf. Bedauernd schaute ihnen der junge Mann nach, dann wandte er sich an die Fragerin.
»Von Kämpfen, ja, und vom Wandel der Zeiten,« sagte der Professor. »Wir sprachen neulich nach dem Besuch der Brandstätte des Hus auf dem alten Bühl von der Zeit des großen Konzils, das von 1414 bis 1418 in den Mauern von Konstanz tagte, dann von der Reformation, die ja schon im sechzehnten Jahrhundert auch in Konstanz zu spüren war.«
»Sie wissen, daß auch Konstanz durch die Glaubenskämpfe der Reformation gelitten hat, schon vor dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Karl V. …«
»In dessen Reich die Sonne nicht unterging, ich weiß,« unterbrach ihn tante Joséphine – sie war stolz auf ihre Kenntnisse.
»Gewiß, so war es, und er hätte eigentlich zufrieden sein und großzügig einige Teile des Landes im Schatten liegen lassen können – um bei dem Bild zu bleiben. Aber das tat er nicht. Konstanz lockte ihn, die freie Reichsstadt, die sich auch der neuen Glaubensbewegung zugewandt hatte. Unter dem Vorwand, sie dafür zu strafen, ließ er sie von spanischen Söldnern überfallen. Aber die Konstanzer Bürger wehrten sich, besonders soll die Metzgerzunft ihre handfesten Gesellen vorgeschickt haben. Die Spanier mußten mit blutigen Köpfen abziehen.«
»Wie doch immer die religiöse Bewegung mit politischen Zielen verknüpft wird. Wie wenige haben nur aus ideal-religiösen Gründen gekämpft. Ich glaube fast, auch Gustav Adolf wollte eigentlich ebensosehr seine Macht und Herrschaft in Deutschland errichten wie den Protestanten helfen. Die verschiedenen geistigen Bewegungen sollten sich nur auf geistigem Kampfgebiet messen,« sagte tante Joséphine sinnend.
»Das möchte ich nur für einen kleinen Kreis gelten lassen. Die Massen überschreiten wohl immer die Grenze zum Fanatismus und dann ist der blutige Kampf unausbleiblich.«
»Die Geschichte gibt Ihnen recht,« erwiderte tante Joséphine, »vor allem in den nördlichen Ländern, wo die Menschen alles, besonders die Religion, viel ernster, viel gründlicher nehmen. Wieviel leichter und versöhnlicher wird die Religion im Süden aufgefaßt …«
»Wohl doch nicht im ganzen Süden, denken Sie an Spanien und die Inquisition,« unterbrach der junge Professor.
»Spanien nehme ich aus – aber ist da die führende Schicht nicht eingewandert und nicht von spanischem Blut? Ich denke an Italien, das ich kenne. Dort hat ja auch die Reformation keine Rolle gespielt und keinen Fuß gefaßt.«
»Und Savonarola?«
»Das war eine Einzelerscheinung, ich meine den Katholizismus im ganzen. In Italien hat er eine etwas andere Färbung wie bei uns im Norden. Mit all seinen Heiligen. Und doch ist gerade die Heiligenverehrung seine Tiefe und Schönheit. Sind die Heiligen nicht die Bindeglieder zu Gott, zeigen sie nicht den Menschen einen Weg zur Göttlichkeit? Ist der Gedanke nicht schön, daß sich jeder Mensch durch sein Denken und Handeln zum Heiligen erheben kann? Gibt dieser Glaube nicht eine Note des reinen Idealismus in das sehr realistische Leben eines Volkes?«
»So habe ich die Heiligenverehrung noch nie aufgefaßt,« sagte Carl Seiz aufrichtig.
»Sie waren ja auch noch nie in Italien. Erst dort kommt einem zum Bewußtsein, wie verschieden gerade der Katholizismus ausgelegt und betätigt wird. Und auch wie tolerant. Sehen Sie, ich bin sicher, wenn Wessenberg ein Südländer wäre und für ein südliches Land eine Nationalkirche gefordert hätte, die Kurie hätte zugestimmt, weil ein südliches Land doch der großen Kirche treu geblieben wäre. Und Toleranz ist doch auf dem religiösen Gebiet die erste Forderung. Trotz allen Lehren, allen Dogmen hat jeder Mensch, nicht nur jedes Volk, seine eigenste Auffassung der Religion. Sehen Sie die beiden dort an,« unterbrach sie sich und deutete auf Marie Ellenrieder und Johanna, »wie gestaltet sich der Glaube der guten Marie zu Wirklichkeiten in ihrer Kunst! Wie lebt sie innig und verbunden mit der heiligen Jungfrau und ihren Engeln. Und Johannas reines Wesen ist erfüllt von gläubiger Hingabe. Und ich, die ich mit den Jahren skeptisch geworden bin, kann doch nicht sein ohne Grübeln und Forschen nach dem Göttlichen – das beweist schließlich auch diese Unterhaltung, nicht wahr?« schloß sie ihre langen Ausführungen.
»Aber,« fuhr sie fort, »wir sind ganz abgeschweift – ich sehe immer noch das dunkle Bild in der Kapelle hier, welche Kämpfe schildert es denn?«
»Kämpfe, die eben den Wandel der Zeiten, den ich vorhin erwähnte, beweisen. Der Kampf gegen die Spanier war gekämpft im Geist des neuen Glaubens. Der Kampf im Dreißigjährigen Krieg, fast hundert Jahre später gegen die Schweden, geschah nach Rückkehr der Stadt zum alten Glauben. Aber auch diesmal blieben die tapferen Konstanzer siegreich. Alle Stürme der Schweden unter General Horn wurden abgeschlagen, die Stadt blieb verschont. Zum Dank für die Rettung wurde die Kapelle 1637 erbaut. Das alte Bild schildert die Belagerung durch die Schweden.«
»Ich danke Ihnen für die Erklärung. Sie haben recht, nie wird der Wandel der Zeiten einem klarer als wenn man lebendige Geschichte treibt, wie wir hier in Konstanz.«
Der Professor antwortete nicht. Er hatte sich, als tante Joséphine auf die beiden Damen hinwies, ihnen zugewandt. Sie saßen unter einer alten Linde vor der Kapelle.
Eben schloß Marie Ellenrieder ihr Gespräch mit den Worten: »Und deshalb heißt die Kapelle die Lorettokapelle.«
Tante Joséphine war gleichfalls dazugetreten.
»Aha, hier wird auch eine Erklärung abgegeben, aber wie mir scheint, recht frommer Art, wie es meinen lieben frommen Seelen geziemt,« und sie strich Johanna über den dunkeln Scheitel mit etwas spöttischem Gesichtsausdruck.
»Ich wollte wissen, warum die Kapelle Lorettokapelle heißt, es klingt so italienisch.«
»Und ist es wohl auch, nicht wahr, Marie?«
»Ja, Joséphine, und wenn du unfromme Seele es wissen willst, so erzähle ich es noch einmal.«
Joséphine nickte und der Professor beeilte sich zu sagen: »Auch ich bitte darum!«
»In Italien gibt es einen Hügel, der heißt Loretto. Dorthin trugen, so berichtet die Legende, Engel das Haus der Jungfrau Maria aus dem Heiligen Land. Der Papst baute einen herrlichen Dom um das kleine Haus, und Loretto wurde ein großer, berühmter Wallfahrtsort mit einem wundertätigen Bild der Gottesmutter. Viele tausend Pilger fanden Trost und Lebensmut bei der Madonna von Loretto. Und viele Gläubige nannten danach irgend einen Hügel ihrer Heimat Loretto und bauten eine Kapelle darauf, der Madonna von Loretto geweiht. Ist das nicht schön, daß dieses Heiligtum weit über die Alpen in alle Lande seinen Namen und seine Kraft ausstrahlt« – sie schaute mit leuchtenden Augen um sich in die herrliche Landschaft, die in der Abendsonne wie mit Gold überschüttet zu Füßen lag – »bis hierher an den geliebten Bodensee?«
»Du hast recht, liebe Marie,« antwortete Joséphine ganz ernst, »jedes Ausstrahlen von Gnade, von Heil und Trost ist schön, von woher es auch kommen mag.«