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Motto:

Ich wandle auf weiter Flur
ursprünglicher Natur.
Ein holder Born, in welchem ich bade,
ist Überlieferung, ist Gnade!

Goethe.

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Willst du dich am Ganzen erquicken,
so mußt du das Ganze im Kleinsten erblicken.

Goethe.

 

 

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Konstanz um 1825
Alter Stich

Ursula läutet das Jahr 1800 ein

In der Silvesternacht des Jahres des Heils 1800 läuteten die Glocken des Konstanzer Münsters das neue Jahrhundert ein.

Es waren helle, jauchzende, dunkle und ernste Töne, die weit über die Stadt, den See und die verschneiten Ufer klangen. Über allen schwebten voll und mächtig die Klänge der Glocke Ursula. Ursula, die Glocke, die schon lange alles Geschehen der alten Stadt Konstanz begleitet hatte, Ursula, die sich heut wichtiger denn je vorkam. Hatte nicht der Dichter Schiller ihre Schwester in Schaffhausen besungen und hatten nicht die Menschen durch dieses Lied wieder bessere Ohren für Glockenklänge bekommen? Nicht nur die Frommen, die sie zur Kirche riefen. Nein, die Menschen überhaupt begriffen wieder, daß ohne Glockengeläute der Tag öd und still wäre, daß es sie ja begleitete bei all ihrem Tun.

Am Morgen weckten die Glockenklänge gute, frohe und ernste Gedanken für des Tages Arbeit. Um elf Uhr mahnten sie die Frauen, das Mittagsmahl zu bereiten, um zwölf Uhr riefen sie an den gedeckten Tisch, und das Abendläuten gebot Ruhe und Frieden nach des Tages Mühen. Das waren die begleitenden Klänge im Alltag. Aber dann: halfen sie nicht die Feste jubelnder zu gestalten, und klangen sie nicht tröstend und beruhigend in die trauernden Herzen?

Doch wie oft wird der Glocken Läuten übertönt vom Lärm des staubigen Marktgedränges, vom Geschrei und Lachen der Menge? Und doch – wie oft klingt es leise mit in einem Herzenswinkel der Menschenbrust. Und was wäre ein Sonntag ohne Glockengeläute? Hier am See, der so schön und klar die Klänge herüber und hinüber trägt, Bindeglieder zwischen den Menschenherzen, die wie lichte Spruchbänder vom blauen See in den blauen Himmel flattern und Glaube, Sehnsucht, Glück und Schmerz hinauf tragen und für jeden dorthin bringen, wo er seine Bestätigung sucht.

Die alte, kluge, mütterliche Glocke Ursula weiß das alles.

Und so läutete sie in der Silvesternacht des Jahres 1800 besonders stark und doch gütig. Sie wird die Geschehnisse des neuen Jahrhunderts weiter begleiten mit ihren Klängen.

Warum haben so viele Glocken weibliche Namen?

Vielleicht weil sie sagen wollen, daß die Frau die beste Künderin des Lebens ist?

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Blick von der Engener Steige.
Alter Stich


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