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Die alte Nanett war natürlich nicht immer alt gewesen. Sie war im Jahre 1842, als meine Großeltern von Mannheim nach Konstanz übersiedelten, als kleines vierzehnjähriges Kindermädchen ins Haus gekommen. Und war da geblieben, hatte Freude und Leid mit der Familie geteilt, war mit in die Ehe meiner Eltern gegangen in der Würde einer Haushälterin. Aber als wir Kinder auf die Welt kamen, ging sie in Pension, ohne jedoch die innigste Beziehung mit der Familie zu verlieren. Sie wohnte nahe in der Inselgasse in zwei kleinen Stüble. Dort besuchten wir sie oft, und sie selber kam fast täglich »zu Besuch« mit einem Körbchen in der Hand, das aussah wie ein kleiner geflochtener Koffer. Dieses Körbchen war mein Entzücken mit seinen zwei kleinen Messingschlössern, die ich öffnen durfte, um irgend ein Gutsele, ein Anisbrödle oder eine Trisinetschnitte herauszuholen. Wie schmeckten die Gutsele der alten Nanett so gut! Sie kaufte sie im nahen Zoffinger Kloster, und da hatten sie »ein wenig ein frommes G'schmäckle«, wie mein Vater immer sagte.
Und manchmal brachte sie das echteste Klostergebäck mit, das die Mama nicht gern mochte, weil sie über seinen Namen chokiert war. Aber mein Vater freute sich immer und gab uns das Rätsel auf:
Das Erste betet und singt,
das Zweite kracht und – stinkt,
das Ganze ist ein Gebäck,
das jedermann gut schmeckt
»O Herr Doktor,« sagte Nanett dann immer treuherzig, »die Gutsele heißet halt scho seit viele hundert Jahr ›Nonnefürzle‹« Und das Alter mag den Namen sanktionieren.
Wenn die Eltern verreist waren oder wenn ich krank war, oder wenn Gäste kamen und große Gesellschaft war, dann zog Nanett als begeistert empfangene Herrscherin ins Kinderzimmer und die schönsten Stunden des Geschichtenerzählens begannen. Alles was außerhalb des Kinderzimmers geschah, war versunken – nur etwas nicht, nämlich die guten Sachen, die uns gebracht wurden, wenn drüben im Speisezimmer das souper serviert wurde. Da kam nach jedem Gang unsere Mina oder die engagierte »Serviermathild« mit einem Tablett der köstlichsten Genüsse. Bis nach dem Dessert durfte Nanett bei uns bleiben, und die Eisbombe »Nelusko«, umrahmt von ihren Erzählungen, ist mir in herrlichster Erinnerung.
»O Nanett, erzähl vom Papa und seinen Brüdern!« oder »Nanett, wie war die Geschicht' vom ›garstige Män‹?« Und dann erzählte sie.
»Es war nicht leicht, die vier Buben und das Schwesterle, das halt auch ein halber Bub war, aufzuziehen, sie waren voller Possen und Streiche; aber die Großmutter, meine liebe, verehrte Frau Hofgerichtsrätin, war eine kluge Frau. ›Nanett,‹ hat sie zu mir gesagt, ›wir müssen die Kinder immer beschäftigen, ihnen Freud' machen, dann machen sie uns auch Freud'. Und ihren Ehrgeiz und ihre Phantasie immer ein bißle anstacheln, auch bei ihren Lausbubenstreichen. Nicht verbieten oder schimpfen, nein, ganz heimlich auf Gebiete lenken, wo die Streiche nichts schaden.‹ Da passierte denn auch eine Geschichte, die ein Beweis für der Frau Hofgerichtsrätin ihre Erziehung war. Es war kurz vor den Ferien. Da kam Adolf ganz aufgeregt heim: ›Denk nur, Mutter, was der kleine Frank aus der Rheingass' gemacht hat! Er hat sich auf das Geländer der Rheinbrücke gesetzt und mit den Füßen gebaumelt. Das hat der Polizeidiener gesehen und hat ihn angeschrien: Willscht runter, du Lausbub! Der Frankle tat ganz erschrocken und ließ sich plötzlich in den Rhein fallen. Da hat der Polizeidiener geschrien und war ganz verzweifelt, weil er gemeint hat, er wäre schuld, und die Leut' kamen und guckten erschrocken ins Wasser. Aber schon etwas weiter in der Strömung tauchte der Frankle auf und machte dem Polizeidiener eine lange Nas'! Mutter, das kann ich auch, das tu ich auch einmal!‹ – ›Ich auch, ich auch!‹ riefen die Brüder. Da sagte die Mutter ganz ruhig und ließ sich nicht merken, daß das doch etwas sehr Gefährliches war: ›Ich tät an eurer Stelle doch nichts nachmachen. Ich würde mir etwas anderes ausdenken.‹ Und das taten sie denn auch.
Am Abend des letzten Schultags, da steckten sie die Köpfe zusammen, und die Frau Hofgerichtsrätin sagte zu mir: ›Nanett, die Buben haben was vor, paß ein bißle auf!‹ Und richtig, sie schlichen aus dem Haus, schlichen an die Rheinbrück', machten das Gondele los, das dort als Rettungsgondel hing, und fuhren leise den Rhein hinunter. Ich war hinter ihnen her gelaufen, aber ich konnte sie nimmer erwischen und rannte heim. ›Frau Hofgerichtsrat, die Buben fahren den Rhein hinunter!‹ – ›Dann ist's nicht schlimm, sie können rudern und schwimmen. Sie fahren auf die Reichenau und erwarten uns dort. Es wird nur Strafe kosten für die Gondel.‹ – Aber arg gut hat die Frau Hofgerichtsrat in der Nacht nicht geschlafen, und ich auch nicht. Am Morgen brachte der Briefträger ein großes Schreiben, von den Buben verfaßt, und da stand eine ganze Geschichte, was sie in der Nacht auf dem wilden Wasser alles tun wollten. Aber das Ziel war doch die Reichenau. Ein Reichenauer Bub brachte die Gondel zurück, und die Frau Hofgerichtsrat zahlte die Strafe.
In der Schulzeit hatten die Buben natürlich nicht soviel Zeit für solche Streiche. Jeder mußte nebenher ein Handwerk lernen und Musikstunden nehmen. Euer Vater ging zweimal in der Woche zum Schreiner Konradi in der Schreibergasse, und ich weiß noch gut, wie er zu Weihnachten der Mutter einen schönen Fußschemel schenkte. Die Schwester Frieda stickte den Bezug dazu.
Die Großeltern Honsell
Anno 1848
Flötenspielen war damals die Mode, und so mußte Adolf zum alten Turmwächter am Rheintorturm, der ein großer Flötist war. Aber der war mit seinem Schüler nie zufrieden und beklagte sich oft bei der Frau Hofgerichtsrätin. Wenn sie dann dem Bub Vorstellungen machen wollte, dann sagte der ganz ernsthaft: ›Mutter, ich flöt ja ganz richtig, immer nach den Regeln der Kunst: Mach's A-Loch auf, mach's B-Loch zu, blas' mer vorne nei', blas' mer hinte naus.‹ Da mußte dann die Frau Hofgerichtsrätin so lachen, daß der Bub ohne Strafe davon kam.
Wenn er auch im Flöten schlecht war, so war er desto besser im Theaterspielen, und die Mutter hatte ihre Freude daran. Sie dichtete für die Kinder zu allen Festtagen kleine Stücke und die Kinder selber dachten sich allerhand aus, das sie dann den Eltern vorführten, und ich mußt' immer mitspielen, denn ich war ein nett's Mädle.«
»O Nanett, der Papa hat neulich gesagt, die Nanett war eine Schönheit und ist's heute noch,« rief ich dann immer.
»Je, je,« sagte sie dann ganz verschämt, »wenn's der Papa sagt, muß es wahr sein.«
»Und was haben sie aufgeführt?«
»Meistens haben sie einen Zirkus dargestellt, denn das war etwas ganz Neues damals. Sonst kamen nur so ein paar schwarze Kerle mit einem Kamel, einem Tanzbären und einem Affen durch die Straßen gezogen. Das Kamel stand nur da und schaute mit den großen Augen über alle Leute weg, der Bär tanzte und das Äfflein machte allerhand Kunststücke, und die Männer machten Musik dazu mit einer Trommel und einem Dudelsack. Und manchmal war noch ein Savoyardenbüble mit einer Geige dabei. Es war schon immer ein Ereignis. Aber als der Zirkus kam, da war große Aufregung; denn da waren schöne Pferde und ein Elefant. Und Seiltänzer auf einem Drahtseil und Akrobaten. Die Buben durften jedesmal hingehen, und drum spielten sie daheim am liebsten Zirkus. Mit dem alten hölzernen Schaukelpferd. Da passierte einmal eine arge Geschichte. Bei der Großmutter war eine Freundin zu Besuch, die gar schöne Schmachtlocken hatte. Die waren nicht echt und lagen immer am Morgen auf dem Toilettentisch. Erst zum Mittagessen wurden sie aufgesteckt. An einem Sonntag kam das Fräulein Amélie nicht zum Vorschein, zum Mittagessen. Für den Nachmittag hatten die Buben die Großen feierlich zu einer Zirkusvorstellung im Hof eingeladen. Auch dazu kam das Fräulein nicht; ich mußte ihm im Zimmer das Essen und den Tee servieren. Und warum? Das Schaukelpferd, das bei den Vorstellungen immer als ›Nudelbrettschimmel‹, wie es der Papa im richtigen Zirkus nannte, diente, darauf Frieda als Tänzerin in zwei oder drei gestärkten kurzen Unterröckle herumhupfte, das prangte bei der Vorstellung mit einem wehenden Schwanz und am Hals rollte sich eine braune Mähne – es waren die Schmachtlocken des Fräulein Amélie, die der Jüngste, der Butzel, ausgeführt hatte. Das Fräulein wollte abreisen, aber die Frau Hofgerichtsrätin besorgte in Konstanz beim Friseur Frank ein paar neue Schmachtlocken und stellte den Frieden wieder her. O, die gute Frau Hofgerichtsrätin, sie war die Seele des Hauses, sie hat immer Freude und Behagen verbreitet und sich nie arg aufgeregt. Der Herr Hofgerichtsrat merkte nie was von all den Ereignissen. Wenn er heimkam, war immer alles in schönster Ordnung.
Der gute Herr Hofgerichtsrat hatte in jener Zeit auch nicht viel Muße für die Kinder. Das Jahr 1848 kam und da ging es bewegt zu. Er war viel mehr auf dem Amt und dann ging er aufs »Obere Museum« und las Zeitungen und redete mit den Herren, oder ein paar Herren kamen zu uns ins Haus. ›O die Politik, die Politik!‹ seufzte dann die Frau Hofgerichtsrätin, ›ich gehe hinüber nach Meersburg und besuche meine liebe, kranke Freundin, das ist besser.‹ Und dann fuhr sie über den See mit dem alten Fährmann Einhart, obwohl der Herr Hofgerichtsrat sie immer warnte und recht besorgt war wegen den unruhigen Zeiten. Aber sie ließ sich die Fahrt zu dem kranken Fräulein von Droste nicht nehmen, das auf der Meersburg bei ihren Verwandten wohnte.
Annette von Droste war eine große Dichterin, und wenn die Frau Hofgerichtsrätin heimkam, dann brachte sie immer fein abgeschriebene Gedichte mit und las sie dem Herrn vor. ›Du bist halt meine poetische Luise,‹ sagte dann der Herr Hofgerichtsrat. Aber er hörte auch gern die schönen Verse. Hauptsächlich über ihre Heimat, das westfälische Land, aber auch unseren Bodensee hat sie wunderschön besungen. Sie ist dann aber bald gestorben, und die Frau Hofgerichtsrat sagte später: ›Wie froh bin ich, daß ich sie trotz dem Hecker und den Sensenmännern noch so oft besucht habe.‹«
»Aber Nanett, du wolltest doch grad vom Hecker erzählen.«
»Ja, ja, von Anno 48. Ja, ja – da kamen also die Herren, vor allem der Professor Seiz, der Bürgermeister Hüetlin und der Baron von Hornstein. Da ging's scharf her und ich – ich hab an der Tür gehorcht, denn mich hat's auch gepackt gehabt. Ich hab nicht alles verstanden, aber ich erinnere mich noch gut, wie einer von den Herren gesagt hat: So ginge es nicht weiter. Für die frühere Zeit sei es schön und gut gewesen, wenn die Fürsten so regierten wie bisher. Aber inzwischen sei das Volk aufgewacht und kümmere sich auch um die Politik. Da müßte man ihm auch mehr Rechte und Freiheiten geben und die Verfassung ändern. Ganz einig waren sich die Herren nie und es ging immer arg hitzig zu.
Auch der kleine Adolf war begeistert, und als der Hecker auf dem Stephansplatz seine große Rede hielt, auf dem kleinen Balkönle vom alten Franziskanerkloster, und zur Volkserhebung aufrief, da gingen wir zwei heimlich hin und hörten zu. Aber es war eine solche Drückerei und ein solches Geschrei, daß wir froh waren, als wir wieder daheim waren. Am andern Tag sagte die Frau Hofgerichtsrätin: ›Nanett, Nanett, ich glaube gar, du wärst gern mit dem Hecker marschiert.‹
Und ich muß heut noch sagen, ich war für die Freischärler. Ich war auch für Republik und daß halt das Volk auch was zu sagen hat. Und viele Herren waren auch dafür, die zu uns ins Haus kamen. Der Professor Seiz, der wollte immer unsern Herrn gewinnen, aber der sagte nur: ›Lieber Freund, ich meine, Richter und Ärzte müssen außerhalb der Politik bleiben. Sie sind für alle Menschen da, müssen Recht sprechen und Heilung bringen dem Menschen, nicht dem Parteimann.‹ So war halt der Herr Hofgerichtsrat in all der Unruhe, der Aufregung und den Kämpfen immer der gleiche ruhige Mann.
Da passierte eine lustige G'schicht. Der reiche Bäckermeister Sauter war immer in Todesangst, wenn was los war, und es war viel los mit Versammlungen, Aufzügen und Märschen. Da verkroch er sich hinten in der Backstube. Aber als es einmal ganz still war, da bekam er die größte Angst. Es war eine helle Mondnacht, nichts regte sich. Da schellt es wie wild an der Haustür. Ich renn hinunter und der Herr Hofgerichtsrat streckt den Kopf aus dem Fenster.
›Herr Hofgerichtsrat, Herr Hofgerichtsrat,‹ ruft der Sauter aufgeregt, ›jetzt wird's bös, ich warn' Sie, es ist so bedenklich still.‹ – Da hat der Herr Hofgerichtsrat den Hasenfuß tüchtig ausgelacht.
Und dann gingen wir auf die Reichenau und die Buben vergaßen oft die wilde Zeit. Nur wenn sie wieder etwas gehört hatten, rannten sie den Weg, der aus dem Hof führt, ein wenig hinauf, legten sich auf den Boden, um zu horchen, ob sie Pferdegetrappel oder Marschschritte hörten. ›Das macht man so, wenn der Feind kommt,‹ erklärten sie stolz. Aber es kam keiner. Wir blieben ruhig auf der Insel und ich war auch froh darüber, denn ich wollte nichts mehr wissen von all den Ereignissen.«
»O, nun bitte die Geschichte vom ›garstigen Män‹!«
»Kind, Kind, die war ja schuld, daß ich nichts mehr wissen wollte,« sagte die alte Nanett, und ein ganz trauriger Ausdruck kam in ihr feines, schönes Altfrauengesicht. Und dann erzählte sie, aber auch wir horchten ernsthaft zu; denn es war keine fröhliche Geschichte.
Nanett war ein sehr schönes Mädchen, wie sie ja noch im Alter eine schöne Frau war. Sie war zwanzig Jahre, als die Revolution ausbrach. Im Haus des Großvaters herrschten patriarchalische Zustände, und Nanett nahm teil am geistigen Leben der Familie. So war sie den Freunden und Gästen des Hauses wohlbekannt. In der Zeit, als die bayerischen und preußischen Soldaten in Konstanz waren, ging sie einmal an der oberen Mauer entlang, die mit Posten bestellt war. Da stürzte plötzlich eine Dame – es war die englische Mrs. Lydia Chuzzle, die das Thurnsche Gut gemietet hatte – auf die Nanett zu und rief aufgeregt: »O Nanett, Nanett, die garstige Män will mich nicht durchlassen.« Die garstige Män, ein preußischer Wachtposten, lachte nur, und Nanett beruhigte die empörte Dame.
Obwohl der Wachtposten ja nicht reden durfte, solange er Wache stand, so hatte er doch Augen im Kopf und hatte gesehen, wie schön das junge Mädchen war. Er war nicht umsonst schon oft auf Patrouille gegangen, er suchte und fand Nanett, und so fing die Liebesgeschichte der Nanett an, die einzige, die sie erlebt hat. Er war ein Bauernsohn aus der Odergegend. Er erzählte von seiner Heimat, wo alles so anders war wie hier am See. Und dann redete er auch von Politik und von Ordnung und strammer Disziplin und Gehorsam, alles so ganz anders, als Nanett gewohnt war zu hören, ganz anders als sie selber fühlte. Aber sie liebte den fremden Mann mit ihrer ersten Jungmädchenliebe. Vielleicht hätte sie all die Gegensätze überwunden; aber da kam das schwere, entscheidende Ereignis. Ihr Bruder Christian war mit Hecker gezogen, flüchtete dann ins Thurgau und hielt sich nahe an der Grenze auf. Ihm hatten Freunde berichtet, seine Schwester Nanett hielte es mit den Preußen, sie hätte einen preußischen Schatz. Sie träfen sich immer am späten Abend auf der oberen Mauer.
Christian war ein leidenschaftlicher Bursch, es hielt ihn nichts, keine Gefahr des Entdecktwerdens, der Verhaftung, er fuhr heimlich von Bottighofen mit einer Gondel an die obere Mauer und lauerte den beiden auf. Und richtig, Hand in Hand, ganz ehrbar saßen sie auf einer Bank. Da trat er dazwischen, eine wilde, leidenschaftliche Auseinandersetzung folgte und – der preußische Soldat, der in Uniform war und ein starkes Gefühl seiner Würde und Verantwortung hatte, verhaftete den Sensenmann und Flüchtling und führte ihn auf die Wache. Und Nanett? Als er ernst zu ihr sagte: »Es muß sein, Nanette!«, da sagte auch sie verzweifelt und trotzig zu ihrem Herzen: Es muß sein! Ich muß die Liebe herausreißen oder tief im Herzen verhaften; ich kann nicht mit dem gehen, der meinen Bruder ins Unglück gebracht hat, der so ganz anders denkt wie ich, der ein so starrer, harter Preuß' ist!
Es war ein schwerer, erbitterter Kampf, den Nanett in ihrem jungen Herzen auskämpfen mußte, der alte Kampf zwischen Liebe und Überzeugung, der so oft, so schmerzlich gekämpft wurde und immer noch gekämpft wird.
Die alte Nanett hat überwunden; aber der »garstige Män« blieb ihre einzige Liebe. Wenn später die Rede auf die Preußen kam, sagte sie immer: »Ja, ja, die Preuße! Es sind gescheite, tüchtige Leut'. Aber sie kennen nur die Pflicht und sind starr und hart und ich glaub, sie haben kein weiches Herz.« Und wenn die gute Nanett den Kant gekannt hätte, so hätte sie vielleicht noch gesagt: »Und der Kant ist schuld daran.« –
Zu meiner Kommunion schenkte mir Nanett ein Buch: »Fridolin Schwertberger, Bürgerleben und Familienchronik aus einer kleinen Stadt« von Spindler. Es war ihr Lieblingsbuch. »Das handelt nun einmal von den Bürgersleut', wie sie wirklich sind, und nicht nur von Grafen und Baronen,« sagte sie und gab mir manche Erklärung zu der Geschichte; denn sie hatte die meisten Personen gekannt.
»So war's wirklich in Konstanz,« meinte sie befriedigt, wenn ich ihr von einem Kapitel berichtete. Und die führten mich in die Welt des Handwerks, in den Bund der »Wurstbruderschaft«, der im »Steinbock« am Ende meiner heimatlichen Rheingasse tagte, die schilderten die Straßen und Plätze der Stadt und halfen dazu, mir die Zeit vorzustellen, in der meine Eltern jung waren. Denn zwischen den Gestalten der Chronik des Fridolin Schwertberger liefen sie ja leibhaftig herum und verbrachten ihr Leben.