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Junge Helden

Doch es kam etwas dazwischen, um diesen trotzigen Ausspruch des jungen Doktors wahr zu machen. Etwas, was auch den energischsten Bewerber zum Warten und zur Geduld zwang.

In die kleine Welt der Freuden und Leiden trat die große Welt mit Freuden und Leiden von anderen Ausmaßen, von Ausmaßen, mit denen selbst sie nur selten mißt.

Der Krieg kam! Der Krieg von 1870/71 gegen Frankreich.

Was war das eigentlich, das die schönen Sommertage des Jahres 1870 so unruhig machte? Warum gab es kein Sommerfest im schönen Kasinogarten am Rhein wie alle Jahre? Warum kam der Ausflug mit dem Dampfschiff, den das »Obere Museum« jedes Jahr seinen Mitgliedern bot, nicht zustande? Was ging eigentlich die preußische Politik, die Kriegsgefahr die gute, stille Stadt Konstanz an?

So fragten sich die jungen Mädchen in den Kränzchen, im Paramentenverein, wo sie gemeinsam an schönen Altardecken stickten. Sie waren sehr ablehnend gegen den kriegerischen Geist, hatte er doch alle die Leutnants, ihre Tänzer und Verehrer, angesteckt. Sie rasselten lauter mit den Säbeln über das Pflaster, sie wanderten stolzer durch die Straßen der Stadt. Sie hatten auch keine Zeit mehr zu Fensterpromenaden und die Mädchenwelt schien sie nicht mehr viel zu bekümmern.

Krieg war in Sicht! Das war etwas anderes für ihr neues grünes Regiment als die schleswig-holsteinische Kampagne, als der Krieg 1866. Da hatten die beiden Füsilierbataillone nicht viel zu tun gehabt, da hatte man sie ja gar nicht richtig gebraucht. Aber jetzt war es anders!

Warum anders? Ist es nicht das Gleiche in einem kleinen oder großen Krieg? Hat der Mensch nicht nur ein Leben, und gibt er es da nicht gleichermaßen hin aus Pflichtgefühl, abgerungen im harten, inneren Kampf dem natürlichen Lebenswillen, der Lebensfreude, dem Hängen »an der freundlichen Gewohnheit des Daseins«? Unbewußt abgerungen, denn im Rausch der Begeisterung, des Kraftgefühls, das sich auswirken will, ja, in der primitiven Begierde zu kämpfen, schweigen die Gedanken an den Tod.

Und nun war es in den heißen Julitagen in Ems zur Entscheidung gekommen; am 19. Juli wurde in Berlin die Kriegserklärung Frankreichs überreicht.

In Konstanz war schon am 16. Juli das Regiment nach Rastatt in die Leopoldsfeste aufgebrochen. Auch die jungen Männer, die anderen Truppenteilen angehörten, waren abgereist. Der junge Doktor Honsell, der gerade seinen Urlaub auf der Reichenau verleben wollte, eilte nach Freiburg, um – wie schon Anno 66 – seine Dienste als Arzt den Verwundeten zu widmen.

So war Konstanz plötzlich still geworden; denn auch die Sommerreisenden blieben aus, und die Schweizer Nachbarn verhielten sich abwartend.

Aber die Stille in den Heimatstädten zu Kriegszeiten ist eine Täuschung; sie ist ja nur äußerlich. Denn im Innern der Häuser, da ist das Treiben geschäftiger, im Innern der Menschen sind alle Gedanken und Gefühle aufgewühlt, erregt und voll Unruhe und Sorge. Das Leben schaut die Stadt und die Menschen mit anderen, ernsten und drohenden Augen an.

Ist der Krieg nicht wie Janus, der zweigesichtige Gott? Schaut nicht aus dem einen Gesicht ein stolzes Hinauswachsen über sich selber, über den Alltag, eine Hingabe an das große Ganze eines idealen Zieles durch den Einsatz des Lebens? Und starrt nicht aus dem anderen Gesicht der brutale Zerstörungswille, die wilde Lust am Kampf und Dreinschlagen, am rücksichtslosen Vernichten, um selbst zu siegen?

In den Familien der Konstanzer, die scheinbar ruhig dahin lebten, wurden diese widerstrebenden Gedanken besprochen. Da saßen die alten Herren im »Oberen Museum« im Lesezimmer beisammen und verschlangen die Kriegsnachrichten, die jungen Mädchen zupften charpie und warteten auf Feldpostbriefe. Manch eines mit banger Angst um den Geliebten draußen. – Im alten Schreibpult in unserem Familienhaus, da liegen einige Briefe aufbewahrt, und in einer kleinen Briefkassette meiner Mama, da liegt noch einer an ihre cousine, der den berühmten Erkundungsritt des Grafen Zeppelin schildert, der die Konstanzer auf den Sohn ihrer Stadt mit Stolz erfüllte. Der Brief ist von seinem Kameraden, dem Leutnant von Winsloe, der der heimliche Bräutigam der dunkeläugigen Bertha von Bayer war. Wie saßen die Mädchen wohl da zusammen und verschlangen den Bericht des kühnen Patrouillenrittes zur Erforschung der Absichten des Generals Mac Mahon. Der Ritt war erfolgreich; aber Leutnant von Winsloe fiel bald darauf, und damit breitete sich der erste Todesschatten über den Jungmädchenkreis in Konstanz. Die arme cousine Bertha! Sie war ganz gebrochen und ihr Anblick ließ die cousinen und Freundinnen ernster blicken und nachdenken über Liebe und Leid und unerbittliches Schicksal.

Frieda Honsell hatte einen langen Feldpostbrief von Bruder Adolf bekommen und las ihn den Freundinnen vor. Ach, wie stolz war sie, daß ihr Bruder teil nahm an der Arbeit des Heilens, des Erhaltens, und nicht am Zerstörungswerk des Krieges.

»Wie begeistert schreibt er über die Großtat des Henri Dunant,«« rief sie.

»Wer ist denn Henri Dunant?«« fragte Lina Seiz, die trotz ihrer Abweisung an jenem Ballabend doch mit eifrigem, aber heimlichem Interesse alles über den Doktor wissen wollte.

Frieda lachte: »Man merkt, daß du den Krieg mehr mit den Augen deiner Leutnantsverehrer anschaust,« sagte sie etwas anzüglich. »Henri Dunant war der Begründer des Roten Kreuzes, ein großer, edler Schweizer, der der Menschheit durch seine Tat predigt, daß Helfen und Heilen besser ist als Verwunden und Zerstören.«

»O, wie recht, wie wahr!« rief die traurige Bertha. »Ich will mich nicht in meinem Schmerz vergraben, nein, ich will mich freuen, wenn anderer Männer Leben erhalten und gerettet wird. Frieda, ich möchte zum Roten Kreuz! Schreibe deinem Bruder, er soll mir helfen.«

Die Mädchen waren ganz ergriffen über den Entschluß. Wie war Bertha, das verliebte, oberflächliche Mädchen verändert! War das der Schmerz? Tat das der Krieg?

Ja, auch sie waren alle verändert, nachdenklicher, innerlicher, vom Willen beseelt, gut und tüchtig zu sein, der Krieger draußen wert. Die schauten dem Tod täglich ins Auge. Wie anders würden sie dann das Leben werten, das sie sich wie durch Gnade aus dem Kriege retteten?

Und so erfüllten die Mädchen daheim freudiger ihre Pflichten, führten ernste Gespräche, lasen ernste Bücher.

Und dann wurden sie überschüttet von Siegesnachrichten und Siegesjubel. Als der Sieg von Sedan bekannt wurde und das ganze französische Kaiserreich zusammenbrach, als in Paris der Siegeszug des Einmarsches, in Versailles die prunkvolle Kaiserproklamation verkündet wurden, da war, neben der stolzen Freude, nun zum Deutschen Reich zu gehören, in der alten Stadt Konstanz doch auch das Mitgefühl wach mit dem kranken, gestürzten, gefangenen Napoleon, der in Sedan die Zeilen schrieb: » Náyant pas pu mourir au milieu de mes troupes, il ne me reste que de mettre mon epée dans les mains de votre majesté

Mitgefühl mit der schönen, strahlenden Kaiserin, die bei Nacht und Nebel aus den brennenden tuilerien fliehen mußte, um in England den gleichfalls geflüchteten Sohn zu treffen.

Denn in Konstanz gab es noch eine große Anzahl Jugendfreunde des Kaisers aus seiner Arenenberger Zeit, und sie hatten ihm ihre Anhänglichkeit bewahrt. Da war vor allem der alte Herr von Debatis, der sich sogar den Titel »Franzosenfreund« gefallen lassen mußte, was er trotzig und verbissen hinnahm. Wenn er im »Oberen Museum« beim Abendschoppen saß, gab es immer heftige Debatten, was die anderen Herren nicht ungern hatten; denn debattieren gehörte so recht in die Abendstunden jener Zeit. So auch im Winter 1870/71.

»Ich kann nicht verstehen, warum wir in Versailles, dem Ort, der für die Franzosen so wertvoll und bedeutungsvoll war, die Kaiserproklamation, die Einigung Deutschlands, feierten.«

»Nun, wir waren eben die Sieger, wohlverdient nach all den Kämpfen und Verlusten.«

»Auch das war nicht nach meinem Sinn. Daß durch die unglückliche, besiegte Stadt unser Siegesjubel klang – das werden uns die Franzosen nie vergessen!« rief wieder der erregte alte Herr von Debatis.

» O à la guerre comme à la guerre –«

»Ja, ja, wir sind eben noch nicht weiter gekommen.««

»Nicht weiter? Am Ziel sind wir, wir haben das geeinigte Deutsche Reich!«

»Lassen Sie Ihre Kritik beiseite, alter Freund.«

»Und es war doch ein großer Taktfehler. Die Kaiserproklamation hätte in Berlin stattfinden müssen,« murrte der alte Herr.

»Genug, genug, freuen wir uns, daß sie stattgefunden!« So gingen die Reden im »Oberen Museum«.

Aber dann kam die Heimkehr des siegreichen grünen Regiments. Alles war vergessen: Taktfehler, politische Fehlgriffe, selbst die bedächtigsten alten Herren ließen die Kritik daheim und eilten zum Empfang auf die Marktstätte. Dort standen schon die Ehrenjungfrauen in weißen Gewändern, mit Blumenkränzen im Haar.

Es war Ende März und die Sonne schien warm. Die Märsche waren lang gewesen; aber überall, in jedem Dorf stand der Bürgermeister, mit der Amtskette geschmückt, und kredenzte den Führern den besten Wein als Ehrentrunk, und die ganze Bevölkerung sorgte für eine gute Bewirtung der Mannschaft. So waren die heimkehrenden Krieger an die Engener Steige gekommen, und die weite heimatliche Landschaft mit dem strahlenden Bodensee tat sich auf.

Als das Griechenheer einst bei der Heimkehr wieder das Meer sah, rief es begeistert aus: Thalatta! Thalatta! – Die biederen alemannischen Soldaten, die Seehasen, wußten nichts davon, sie riefen auch nichts; aber in seinem Inneren dachte wohl jeder befreit: »Da isch er gottlob wieder, der Bodesee!«

Auf der Marktstätte in Konstanz empfing sie ein mächtiger Triumphbogen, darauf in großen Buchstaben stand:

Ein Volk geübt in Waffen,
geübt in Wissenschaft,
kann Riesengroßes schaffen
mit immer neuer Kraft!

Nun folgte ein Fest dem anderen, zu Ehren der Heimgekehrten. Wie glühten die Mädchen für die jungen Helden. Wie lauschten sie den Schilderungen der Kriegserlebnisse, wie bewunderten sie das Eiserne Kreuz, die Kriegsorden auf der Brust der Sieger.

Bei einem solchen Fest erschien auch der Doktor Honsell im Kasino an der Seite seines Vetters, des Leutnants Ernst von Seyfried, auf dem Frack das Eiserne Kreuz. Seine aufleuchtenden Blicke trafen die schöne Lina Seiz unter der Schar der jungen Mädchen. Aber er hielt sich zurück. Er hatte warten gelernt. Noch schien ihm seine Zeit nicht gekommen. Noch standen die Sieger mit dem Schwert in höherer Gunst bei den begeisterungsfähigen Mädchen, höher wie die schlichten Sieger über Schmerzen und Tod. Ein Taumel hatte nicht nur die Mädchenherzen erfaßt, die ganze kleine Stadt gab sich ihm hin im Frühjahr 1871.

Aber dann stand eine neue ernste Forderung auf und gebot der tatenlosen Freude Einhalt. Sie galt dem Aufbau des neuen Deutschen Reiches! In Berlin wurde der erste deutsche Reichstag einberufen. Auch in Konstanz wurde der Ruf gehört, und der neu gewählte Abgeordnete rüstete sich zur Fahrt nach dem Norden.

Es war der Professor und Kreisschulrat Karl Seiz, mein Großvater, der schon im badischen Landtag als Abgeordneter wirkte. Freiheitlich gesinnt und dem kultivierten Bürgertum angehörend, hatte er für die nationalliberale Partei kandidiert und war gewählt worden. Die nationalliberale Partei war die stärkste im ersten Reichstag, war sie doch weltanschaulich und politisch der Ausdruck jener Zeit.

Aus den etwas uferlosen freiheitlichen Anschauungen, die in den Revolutionszeiten entstanden waren, hatte der große nationale Gedanke einen festen, sicheren Damm aufgeführt, und das Bürgertum hatte sich zum großen Teil in den liberalen und nationalen Grundsätzen zusammengefunden und stand fest und mutig darauf. Das liberale Bürgertum war die führende Schicht. Im Kriege hatte es sich glänzend bewährt. Es hatte die Führung in Wissenschaft und Kunst, es wollte nun auch in der Politik führen und schickte 120 Fraktionsmitglieder in den ersten Reichstag nach Berlin. Mit dem stolzen Programm der Partei:

Unverbrüchliche Treue zu Kaiser und Reich, Fürst und Vaterland! Pflege der errungenen Einheitsgüter der Nation; eine Vertretung nach außen, ein Heerwesen, eine Kriegsflotte, ein Recht, ein Verkehrsgebiet, gleiche Bedingungen für die freie Bewegung und für die freie Arbeit. Unabhängigkeit gegenüber der Regierung, unbefangene sachliche Prüfung ihrer Vorlagen. Entschlossene Abwehr aller reaktionären und aller radikalen Tendenzen.

»Du wirst mich begleiten, Lina,« sagte Papa Seiz kategorisch; »du bist mir zu militärfromm geworden, das muß aufhören!« fügte er grimmig hinzu. »Das ewige Säbelgerassel in der Rheingasse, die Blumensendungen, die billets doux, die Einladungen ins Kasino passen mir nicht. In drei Tagen reisen wir.«

Da gab es keine Widerrede. Mit geteilten Gefühlen rüstete sich Lina zur Reise. Wenn sie, wie ihr Vater, in der Geschichte so bewandert gewesen wäre, hätte sie wohl Caesar zitiert: »Lieber der erste im Dorf, als der zweite in Rom!«

War sie nicht hier die umschwärmte, gefeierte Lina Seiz, hatte sie nicht eigentlich ihr Herz an einen der Kriegshelden verloren? Und was brachte ihr Berlin? Da würde wohl niemand nach der jungen Konstanzerin fragen. Oder doch?


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