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Wer liebt nicht seine Heimatstadt? Wer sieht sie nicht verklärt im Schimmer der Erinnerung?
Konstanz ist die Stadt meiner Kindheit. Was wissen die alten Straßen und Gassen, die Rheinbrücke und der Stadtgarten alles von mir! Aber ich fürchte mich nicht vor ihnen; denn sie wissen ja nur von meiner fröhlichen Jugend und wenn ich sie heute durchwandere, so werfen sie mir die Erinnerungen wie bunte, lustige Kinderbälle entgegen. Ich fange sie auf und spiele mit ihnen und halte sie in diesen Blättern fest.
Ich bin in dem alten großen Haus geboren, das seinerzeit Tante Joséphine Hoffmann von Leuchtenstern dem Großpapa vererbt hatte, in dem auch meine Mama geboren wurde und wo sich seit 1828 das Leben der Familie abgespielt hat. Es ist nicht unwichtig für die Entwicklung einer Familie, ob sie ein seßhaftes Geschlecht ist oder nicht. Auch die Familie meines Vaters war seßhaft, denn das Haus auf der Reichenau war schon 1780 im Besitz des Christian Honsell und 1806 gab Matthias ihm sein stattliches Aussehen von heute.
Was für ein sicheres Gefühl, auf festem, heimatlichem Grund zu stehen, gibt solch ein Familienbesitz den Gliedern. Und wie schön ist es, zu denken: da wo du jetzt dein Leben lebst, haben deine Urgroßmutter, deine Großmutter und Mutter ihr Leben gelebt. Läßt es einem nicht die redende Verheißung des Lebens erkennen; aber auch die schweigende Mahnung des Todes? Und ist das nicht gut so? Ist es nicht gut zu wissen, daß man ein Glied einer Kette ist, das man so stark und fest machen muß, daß es hält und trägt?
Papa Honsell
Großpapa Seitz
Onkel Max Honsell
Graf Ferdinand Zeppelin
Und reden nicht die Steine? Reden nicht die alten Möbel und schauen nicht die Bilder lebhaft und aufmunternd auf uns herab?
Und die Uhren! Man sollte einmal eine Geschichte der Uhr schreiben, dieses Wunderwerkes alter Technik – und daß es das ist, haben wir ja fast vergessen! –, das die Zeit einfängt und uns anzeigt, daß wir sie nützen und erfüllen sollen.
Mich beschleicht immer ein halb unheimliches, halb ehrfürchtiges Gefühl, wenn ich, von einer Reise zurückgekommen, durch das Haus gehe und die Uhren in Gang setze und richtig stelle, wenn ich das Haus damit wieder lebendig mache und eigenmächtig in die Zeit eingreife.
Aber dann nicke ich den Uhren zu und sage: »Ihr sollt mir gute und freundliche Stunden schlagen; aber ihr sollt auch mit mir zufrieden sein, ich will meine Zeit nützen!«
So sind sie meine besten Freunde, die alten Uhren. Da ist die eine zierliche Standuhr mit den schwarzen Säulchen, die mein Großvater 1822 aus Paris mitgebracht hat. Sie steht auf dem gleichen Platz heute noch wie damals. Da ist die alte große Standuhr in der Ecke, die einmal eine Zeitlang von ihrem angestammten Platz im Eßzimmer auf den Hausgang verbannt war. Sie schlägt ein wenig heiser, und ich dachte mir immer, daß sie sich wohl auf dem Hausgang erkältet hatte.
Dann die wunderschöne, goldverzierte Empire-Uhr, die Königin Hortense der tante Joséphine vererbt hatte und die im Konstanzer Haus vom Großpapa Seiz stand. Und die englische gotische Uhr im viktorianischen Geschmack, das Hochzeitsgeschenk der Gräfin Butler 1872 für die Mama!
Alle tickten und ticken miteinander um die Wette, schlugen und schlagen die Stunden hell und melodisch; nur die alte Kuckucksuhr ruft ein wenig laut, sie ist halt ein Naturkind. Die Familie hatte immer eine Uhrenliebhaberei, obwohl sie sich unter all ihren Zeitmessern oft recht zeitlos und unbekümmert um Pünktlichkeit bewegte. Die Uhren besorgten das ja.
Wenn man unter alten Möbeln aufwächst, lernt man schon früh die Achtung vor den Dingen, ohne dazu erzogen zu werden. Man weiß ihre Geschichte, man liebt sie und – man kann sie nicht ersetzen. Man kann sie nicht kaufen. Geld und Geldeswert sind da unwesentlich, ja machtlos. Dieses Wissen ist es nicht zum wenigsten, das die Einstellung zum Geld beeinflußt, wenigstens mich beeinflußt hat. Eine Einstellung, die nur in einer kleinen Stadt möglich ist, gebunden durch einen behäbigen Wohlstand, und die die ganze Gesellschaftsschicht des neunzehnten Jahrhunderts teilte.
Man lebte behaglich, man konnte die Genüsse der Kunst, die die Stadt bot, sich leisten, man machte eine Reise, – und von Geld war kaum die Rede. Es war kein Gesprächsthema, wieviel der oder jener besaß oder verdiente; man fragte nach seiner Bildung, nach seinen kulturellen und gesellschaftlichen Vorzügen. Musik und Literatur gaben die Stoffe zur causerie, politische und soziale Fragen wurden durch freiwillige tätige Mitwirkung zu lösen versucht, man hatte neben dem Beruf Zeit dazu.
Es war, wie wenn die Uhren damals langsamer tickten und das Geld nicht klapperte und klirrte und fortrollte. Die kleinen Goldstücklein lagen ruhig im Sekretär und wanderten still von Hand zu Hand.
Glückliche Zeiten! Glückliche Jugend in Konstanz!
Meine Jugend kommt mir vor wie eine Sonnenblume. Sie stand in einem großen, blühenden Garten, und sie wandte sich immer der Sonne zu. Die goldenen Blätter umschlossen noch die Kernscheibe. Eines nach dem andern fiel ab und flatterte durch den blühenden Garten. Nun reiften die Kerne. Auch sie fielen und fallen heraus – mögen es keine tauben und unfruchtbaren sein, die in den Garten des Lebens fallen!