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Sind wir eigentlich erzogen worden? Wenn Verbote und Züchtigung dazu gehören, gewiß nicht; denn die beiden Sätze: ce n'est pas bon ton! und ce n'est pas comme il faut! waren die einzigen Maßregeln, die uns zuteil wurden, und nur einmal in meinem Leben habe ich eine Ohrfeige vom Papa bekommen; denn ich war arg trotzig und eigensinnig. Sie hat mir einen unauslöschlichen Eindruck gemacht. Meiner Schwester, die viel sanfter und ruhiger war, ist nie so etwas passiert. Wenn in der Schule die Kinder von »Schlägen«, die sie bekommen hatten, erzählten, so konnte ich mir das gar nicht vorstellen. Vom Großpapa bekamen wir hie und da eine »Kopfnuß«, wenn wir ihm gar zu despektierlich antworteten.
Wenn aber Vorbild und Bereitsein dazu gehören – und ich meine, sie sind die Hauptsache bei der Erziehung –, so sind wir wohl im besten Sinne erzogen worden. – Die Resultate? Sie bleiben dahingestellt! Sie gehören auch nicht mehr in diese Chronik; denn sie gehören dem zwanzigsten Jahrhundert an. –
Vorbild und Bereitsein! Der Eltern und – der Dienstboten. Man soll den Einfluß der Dienstboten nicht gering achten. Wir hatten kein Kinderfräulein, nur einmal gab eine französische Bonne eine Gastrolle. Aber ihr waren die deutschen Leutnants wichtiger wie die deutschen Kinder. Mina und die alte Nanett begleiteten unsere Kindheit, und in der Küche regierte die Marie, an deren Küchentür sämtliche cotillon-Orden Papas hingen, die wir ihr in seinem Namen überreichen durften. Da hing der »Spätzleorden«, der »Dampfnudel-Orden«, der »Bohnen-und-Knöpfle-Orden«. Und sie war stolz darauf. Aber die schönsten Orden bekam sie eigenhändig von dem Papa überreicht für ihre Spezialgerichte. Sie hatte in Paris kochen gelernt, war dann beim Lord Treherne Köchin gewesen und dann zwanzig Jahre bis zu ihrem Tod bei uns.
Der Marie, der Mina und der Nanett möchte ich ein Denkmal setzen. Und wie viele solcher guten, treuen, vorzüglichen Mädchen gab es nicht in all den Familien in jenen Zeiten. Mancher Leser wird sich ihrer dankbar erinnern.
Die drei guten Seelen bedeuteten sozusagen den behaglichen, arbeitsamen Alltag für uns. Mina weckte uns und half beim Anziehen, und sogar das Überziehen der »kratzigen« wollenen Strümpfe im Winter brachte sie ohne großes Widerstreben fertig. Die Marie hatte schon das Frühstück bereit und das »Zehn-Uhr-Brot« gerichtet. Nach der Schule wurden wir zum Händewaschen und Haarbürsten angehalten und am Abend half Mina oder die alte Nanett, die zu Besuch gekommen war, bei den Aufgaben. Beide waren vorzügliche Rechnerinnen. Die Eltern und der Großpapa boten daneben die Feiertagsstunden. Die Mama sang mit uns, sie zeigte uns schöne Bilder von ihren Reisen, wir durften sie hübsch angezogen auf ihren Spaziergängen begleiten und da erzählte sie von ihrer Jugend, von tante Joséphine und Onkel Fritz von Bayer.
Nach Tisch, wenn wir keine Schule hatten, mußte eines von uns mit dem Großpapa spazieren gehen. Das war eine lebendige Geschichtsstunde und alles, was in der alten Stadt Konstanz geschehen, lebte in leichtfaßlicher Form vor uns auf. Die Liebe zur Geschichte wurde vom Großpapa in mich gelegt, und wenn ich auch damals oft lieber herumgetollt wäre, so bin ich ihm später und heute noch dafür dankbar. Aber auch damals hatte ich schon immer einen »Einser« in Geschichte.
Und am Abend war der Papa für uns bereit.
Zum Kopfschütteln der Verwandten und Bekannten durften wir abends immer ein wenig länger aufbleiben und zuhören, was die Erwachsenen redeten. Jeden Abend kam der Großpapa durch den Garten herüber, dann kamen mein Onkel, der junge Gustav Seiz, und eine jüngere Freundin meiner Mama, Pauline Kintzinger. Da wurde nun debattiert, politisiert, philosophiert. Manchmal, wenn die Mama aus einem Kaffeekränzchen oder Damentee gekommen war und einige Neuigkeiten aus der Stadt erzählen wollte, sagte mein Vater nur: »Ach was, Klatsch, 75 Prozent!« Etwas gekränkt schwieg die Mama. Aber so kam nie die primitive Unterhaltung über den lieben Nächsten auf, und so lernte ich damals die tiefgehende Abneigung gegen alles, was Klatsch heißen könnte, ja selbst gegen die Nachmittagstees!
Wir durften sogar mitreden. Besonders die religiösen Gespräche interessierten mich. In Konstanz war seit Wessenberg die religiöse Bewegung nie ganz zur Ruhe gekommen, und der Altkatholizismus spielte eine große Rolle. Großpapa Seiz war übergetreten und hatte den Papa, der als Arzt einen freien, aber doch auf dem alten katholischen Kulturboden fußenden Standpunkt einnahm, auch dazu veranlaßt. Meine Mama war katholisch geblieben, und die Freundin war aus einer evangelischen Familie. So gab es lebhafte Debatten, die aber durch den souveränen Humor meines Vaters nie ausfallend oder zu heftig wurden.
Ich war ein leidenschaftliches Kind und die Poesie, die Inbrunst des katholischen Glaubens, hielten mich gefangen. Ich bin heute noch glücklich, ein katholisches Kind gewesen zu sein. Wie ging ich fromm und erfüllt im weißen Kleid, ein Kränzle im Haar und eine Lilie in der Hand, mit der Prozession vor der Marienstatue. Wie schmückte ich täglich meinen kleinen selbsterrichteten Maienaltar mit Blumen und betete selbsterfundene Gebete, die eigentlich kleine Gedichte waren. Wie gut und heilsam war es, wenn wir alle vier Wochen vor der Beichte nicht nur die Eltern, sondern die Mina, die Marie und die Nanett um Verzeihung bitten mußten! Und wie gesund war das freiwillige Fasten, das Verzichten auf Lieblingsspeisen. Und all die kleinen Opfer, die man sich heimlich auferlegte, die schüchternen Versuche, zu helfen und wohlzutun, wie erfüllte das alles ein Kindergemüt mit frommem Eifer.
Mit zehn Jahren war ich wohl am frömmsten, und wenn dann später die religiösen Konflikte, die Wohl keinem jungen Menschen erspart bleiben, vielleicht schwerer waren als einem laueren Gemüt, so möchte ich jene Jahre nicht missen, die mit meiner Kommunion den Höhepunkt erreichten. Aber dann kamen durch die Schule mit dem Unterricht in Geschichte, Geographie und Naturkunde all die Wissensgebiete einer realeren Welt in den Gedankenkreis meiner zehn Jahre.
Die Schule! Gerne und dankbar denke ich an sie zurück.
Zuerst die Volksschule am Stephansplatz und dann die Töchterschule auf der Marktstätte!