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Die alten Familienbilder, die vor mir an den Wänden hängen, zeigen nicht nur die Züge, die Eigenheiten der Gemalten, sie zeigen auch die Zeitströmungen der Kunst und der Lebenseinstellung der verschiedenen Zeiten.
In Samt und Seide, mit goldgestickten Röcken, mit Spitzenjabotts und Spitzen an den Ärmeln, mit zierlichen Degen an der Seite, in tiefer décolletage, mit blitzendem Schmuck, die hochfrisierten Locken gepudert, ein Schönheitspflästerchen am Kinn, so schauen die Herren und Damen des achtzehnten Jahrhunderts aus reichverschnörkelten Rahmen auf uns herunter.
Der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts zeigt die Menschen in der klaren, edlen Tracht des Empire, die dann in das Biedermeier übergeht mit dem klassizistischen Stil der einfachen Linien. Auch aus den Zügen redet die Zeit. Im achtzehnten Jahrhundert spricht würdevolles Selbstbewußtsein, geistige Sicherheit und lächelnde Koketterie aus den Gesichtern. Der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hat ihnen einen ernsten, nachdenklichen und besinnlichen Stempel aufgedrückt.
Ganz anders sind die Bilder aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Da sind es Männer der beruflichen Arbeit und tätige Hausfrauen in dunkeln, würdigen Sonntagskleidern, die aus den schlichten Goldrahmen blicken.
Diese Bilder zeigen besonders deutlich den Wandel der Zeiten. Die Revolutionen haben nachgewirkt und finden ihren Ausdruck in den Lebensformen. Das Patriziat in den Städten ist zum tätigen Bürgertum geworden. Der Rest der bunten, eleganten Kleidung blieb, außer beim Militär, nur noch in den verschiedenen Beamtenuniformen, und der goldbetreßte Schiffhut meines Großvaters ist heute noch ein Raritätenstück.
Eine ganz andere Stimmung überkommt mich beim Betrachten dieser Bilder, meine Erinnerung tritt in eine ganz andere Welt. Die Welt der Feste, der Empfänge in den lichterstrahlenden Sälen, der glänzenden Toiletten und blitzenden Schmucksachen, der geistreichen Gespräche ist versunken. Vor mir steht eine andere Welt des werktätigen Volkes, voll Alltagsarbeit und – die mir am meisten davon erzählt hat, ist eine Frau der Arbeit gewesen, die meine ganze Kinderzeit begleitet und die wie selten jemand Geschichten erzählen konnte.
Nur eine Gestalt ragt noch herüber aus jenen Tagen, die mir immer erschienen sind als eine Kette von Festen ohne Sorgen, ohne Alltag. Diese Gestalt war Onkel Fritz.
Er hieß Friedrich von Bayer und wohnte am Münsterplatz. Er war reich, hatte keinen Beruf und war ein Original.
Wer von den alten Lesern kennt sie nicht, die Originale, die zu ihrer Jugendzeit in ihrer Heimatstadt eine Rolle gespielt haben? Keine kleine Rolle, nicht zum wenigsten in ihrer Kinderphantasie.
O, diese alten Originale, die mir wie Seiltänzer vorkommen, hoch oben in freier Luft und Sonne balanzierend, unbekümmert in ihrer weiten Welt eigener Gedanken, immer nahe am Sturz in die Tiefe – in die Tiefe des Irreseins. Heute sind sie verschwunden oder als Grenzfälle in einer Anstalt. Sie haben auch keine Berechtigung mehr, auch nicht in der kleinen Stadt. Wenn ich denke, daß heute über die Rheinbrücke von Konstanz der »Geigenfelix« wandern würde, gefolgt von einer Schar Kinder, wie der Rattenfänger von Hameln, und seine Volkslieder spielen würde, oder seine eigenen wilden Phantasien, die trotz dem Gekratze der Geige doch irgend einen starken Rhythmus hatten! Oder wenn die »Sandfeve« mit ihrem Sandkärrele über die Marktstätte ziehen würde, in lebhaftem Selbstgespräch, gehänselt von den Straßenkindern! Beide wären schon längst überfahren oder vom Verkehrsschutzmann in Strafe genommen worden. Und gar Onkel Fritz! Er war auch so ein Original einer aussterbenden Gesellschaftsschicht.
Wie hörte ich als Kind voll Spannung vom Onkel Fritz erzählen und beneidete eigentlich meine Mama, daß sie als kleines Mädele so etwas Aufregendes erleben durfte.
Jeden Nachmittag mußte sie mit ihrem Onkel ausfahren. Aber das war keine gewöhnliche Spazierfahrt. In einem hohen eleganten Wagen, mit zwei Rappen à la Deaumont bespannt, die Peitsche mit silbernem Griff in der Hand, das kleine Linele Seiz neben sich, raste Onkel Fritz durch die Straßen, in wildestem Tempo, und – fitzte mit der langen Peitsche nicht nur die Pferde, sondern auch die Passanten und lachte und pfiff dazu. Wie muß das aufregend gewesen sein! Waren nun Leute auf dem Weg, wurde jemand getroffen? Aber die Konstanzer wußten, daß der Herr von Bayer um drei Uhr durch die Plattenstraße, die Paulsstraße zum Schnetztor hinaus ins Tägermoos raste, die blieben wohlweislich zu Haus und guckten vom Fenster aus zu. Nur die Buben sprangen in den Weg und ließen sich sogar treffen, denn es gab Schmerzensgeld. Wenn dann das Gefährt mit den schweißbedeckten Rappen am Münsterplatz hielt, stand schon der Polizeidiener da – das Bezirksamt war ja ganz nahe – und streckte einen oder zwei Strafzettel schmunzelnd hin.
»Zwei Gulden, Herr von Bayer!«
»Schon gut,« lachte dann Onkel Fritz, »kommen Sie herein – aber zuerst in der Küche ein Schnäpsle.« Und so gingen die Gulden hin und die Schnäpsle.
Das war Anfang der fünfziger Jahre. Mir will Onkel Fritz wie ein Symbol erscheinen in jener Zeit, wo das Volk aufstand, wo eine andere Schicht auftrat gegen die Herrenschicht, die bis dahin geherrscht hatte. Noch sitzt sie im hohen Wagen; aber schon muß sie sich der Ordnung fügen und – Strafe zahlen.