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In Berlin

Der erste Brief, den die Lina Seiz aus der Reichshauptstadt an den Bodensee sandte, trug die Anschrift:

An Fräulein Marie Seiz in Konstanz, Rheingasse.

 

Liebe Marie!

Ihr alle werdet wohl recht ungeduldig auf Nachricht von uns warten. Und mit Recht, denn es sind ja schon acht Tage vergangen, seit wir hier in Berlin, in der neuen Reichshauptstadt sind. Und was haben wir schon alles gesehen und erlebt! Weißt Du, ich habe gedacht, es würde sich in der großen Stadt niemand um uns kümmern. Aber da die Eröffnung des Reichstages ein großes Ereignis ist und wir dazu gehören, so spielen wir schon eine Rolle hier. Du wirst mich für übergeschnappt halten, daß ich »wir« sage und mich einbeziehe in die Wichtigkeit Papas; aber einstweilen war ich immer dabei, und das »wir« ist also am Platz.

Bei der Eröffnung war ich auf der Tribüne neben all den Damen der Minister und Würdenträger und habe alles herrlich gesehen und gehört. Die Feier war am 23. März im Weißen Saal des königlichen Schlosses. Alle deutschen Fürsten waren dabei, auch unser lieber Großherzog, der nachher die badischen Abgeordneten besonders begrüßte. Der Kaiser Wilhelm, der so ehrwürdig aussah, daß man ganz ergriffen war, hielt eine schöne Rede. Ich habe nur den Schlußsatz behalten: »Möge dem deutschen Reichskriege, den wir so ruhmreich geführt, ein nicht minder glorreicher Reichsfriede folgen!«

Eine große Begeisterung herrschte im Saal. Alle Männer schienen ein Herz und eine Seele, trotz der großen Unterschiede ihrer politischen Anschauungen. Und sie waren es auch, denn sie wollten ja alle am Aufbau des neuen Deutschen Reiches mitarbeiten.

Ich ließ mir nun von der Dame, die neben mir saß, die wichtigsten Persönlichkeiten zeigen. Da war zuerst Bismarck, der Kanzler des Reiches. Groß, imponierend, Du kennst ja seine Bilder. Dann Moltke und Roon. Unter den Abgeordneten sah ich Eugen Richter, Windthorst und Bebel. Dann sah ich den Papa mit Lamey und Kiefer, die ja auch badische Abgeordnete sind. Sie standen neben Bennigsen. Das sind nun lauter Führer ihrer Parteien, und Ihr werdet in der »Konstanzer Zeitung« sicher von ihnen lesen. Und dann denkt, daß ich sie alle gesehen und auch gesprochen habe! Ja, gesprochen! Denn bei einem großen parlamentarischen Empfang waren auch die Damen geladen und ich durfte mit Frau Kiefer hin. Das war gestern, nachdem ich schon zwei Reichstagssitzungen mit erlebt hatte, die im preußischen Abgeordnetenhaus am Dönhoffplatz stattfanden. Dort ging es sehr lebhaft zu; es gab schon scharfe Debatten. Da kam es mir ganz merkwürdig vor, daß bei dem Empfang die schärfsten Gegner friedlich und freundschaftlich miteinander verkehrten. Und das hat mir gut gefallen, denn man sieht, jeder hat Achtung vor der Meinung des anderen, und über allen steht das große Ziel: die Arbeit zum Wohl des Vaterlandes. Was ich da schreibe, ist nicht in meinem Gärtle gewachsen. Der junge Marschall ist es, der es sagte, als ich ihn auf dem Empfang traf. Er ist hier bei der Diplomatie. Ich habe mich sehr gefreut, ihn zu treffen.

Nun aber genug von der hohen Politik, das heißt von dem äußeren Rahmen.

 

15. April 1871.

Liebe Marie!

Ich bin nun aus dem Hotel in das Haus von Mamas Freundin übergesiedelt, wie es ja schon in Konstanz geplant war. Ich bin sehr glücklich darüber; denn im Hotel unter den vielen Herren, in all der Unruhe, war es recht ungemütlich. Obwohl die Herren Abgeordneten sehr liebenswürdig gegen das Konstanzer Fräulein waren. Es sind alles eigentlich gesetzte Ehemänner und Familienväter; aber die Politik scheint sie so zu beschwingen, daß sie gern jungen Mädchen den Hof machen. Das meinte gestern abend der Papa, als ich von allen Seiten zum Abschied Blumen und Bonbons bekam.

Jetzt bin ich der Politik entrückt und in den Künstlerkreis Berlins versetzt, der mir noch besser gefällt. »Liebes Kind,« hat Frau Spangenberg gesagt, »nun sollen Sie das geistige und künstlerische Leben Berlins ein wenig kennen lernen in unserem Haus.«

Herr Spangenberg ist Maler, und im Hause verkehren viele Künstler und Schriftsteller Berlins. In der Malerei bin ich ja noch sehr unbewandert, aber in der Literatur kann ich schon einige Kenntnisse aufweisen. Weißt Du, Marie, es war doch gut, daß wir in dem letzten Jahr soviel gelesen haben. Nun lerne ich verschiedene der Dichter hier kennen. Gestern abend waren zu Ehren ihres Freundes, des Malers Henneberg, Fontane und Storm gekommen, ebenso Emanuel Geibel von Lübeck. Henneberg hat mit seinem Bild »Die Jagd nach dem Glück« großen Erfolg gehabt, und das wurde gefeiert. Fontane ist ganz reizend, er hat gar nichts »preußisches«, sondern einen französischen charme, der ja auch seine Bücher so reizvoll macht. Storm hat etwas Nordisch-Verträumtes, wie Frau Spangenberg sagt. Geibel ist sehr zurückhaltend, nur als er aus einem Taschenbuch ein Gedicht vorlas, leuchteten seine Augen. Gottlob waren alle die Bekanntschaften keine Enttäuschung. Papa hatte sie prophezeit. »Es ist meistens eine prekäre Sache, die Dichter, deren Werke uns gefallen, selber zu sehen.« Er wollte deshalb zuerst nicht kommen, aber dann hat er es nicht bereut. Er wurde sehr geehrt – und ich auch. Aber weißt Du, diese Künstler! Sie sind so leicht, so rasch entflammt; aber man hat doch das Gefühl, es geht nicht tief. –

Was Du mir über den Doktor Honsell schreibst, interessiert mich sehr. Er hat also wirklich die Universitätskarriere aufgegeben auf Wunsch des Vaters und kommt nach Konstanz? Ich finde das von dem alten Hofgerichtsrat wirklich zu viel verlangt, und geradezu rührend von dem Sohn. So sind aber die Väter heutzutage! Papa ist genau so. Er hat mir verboten, weitere Singstunden zu nehmen, weil Madame Viardot, die berühmte Sängerin und Lehrerin, die mich in einer Gesellschaft gehört, meinte, ich sei zur Konzertsängerin berufen, es fehle mir nur noch die allerletzte Ausbildung.

»Das fehlte gerade noch, daß du öffentlich auftrittst, das gibt es nicht!« Der Kreis im Hause hier war ganz empört und wetterte auf das engherzige Bürgertum mit den veralteten Anschauungen. Aber manchmal erscheint mir eben dieses Bürgertum doch des Vorzugs wert, unser gutes, patrizierhaftes Bürgertum in Konstanz. Hier weiß man so oft nicht, woher die Leute kommen, wohin sie gehören, alles ist so unbestimmt, so neu. Auch ist soviel »Getus« dabei. Nur in ein paar alten Berliner Familien, da fühlte ich mich wohl und daheim. Aber die meinten, sie würden wohl auch bald in dem Wirbel verschwinden, in dem Berlin sich befindet durch den Zustrom, der von allen Seiten die neue Reichshauptstadt überflutet.

Du siehst, so schön es hier ist, so wenig ich mich zu beklagen habe, daß ich in Berlin unbeachtet geblieben sei, so freue ich mich doch wieder auf mein liebes, altes Konstanz. Ich habe aber viel gelernt, liebe Marie. Du Ruhige, Gefestigte wirst mit mir zufrieden sein, nachdem Du doch so oft mein unruhiges Wesen gescholten hast.

*

Liebste Marie!

Nun geht es wieder südwärts. Gestern abend haben Spangenbergs uns ein kleines Abschiedsfest gegeben und Papa hat eine Rede gehalten, von der alle begeistert waren. Ich war sehr stolz auf ihn. Ich will sie Dir schreiben, denn wenn wir zu Hause erzählen, gibt es soviel anderes, Persönliches, daß ich sie bestimmt vergesse.

Er sagte, er sei in den Reichstag gekommen, um das Deutsche Reich, den Süden und den Norden, politisch und wirtschaftlich einigen zu helfen. Die Dichter hier seien die Berufenen, das deutsche Volk geistig zu vereinen. Und sie seien schon lange am Werk, im Süden wie im Norden. Er sprach nun von der Vergangenheit, vom Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, dann aber von der Gegenwart, von den Verdiensten der lebenden Dichter, die durch ihre Romane die Natur, die Lebensform und Wesensart der Menschen in den deutschen Landen dem Volke nahe bringen und vertraut machen. So im Süden der Münchener Dichterkreis mit Scheffel und Keller und anderen, und hier im Norden die Anwesenden. Es waren nämlich außer den Stammgästen wieder Fontane, Storm, Geibel, Gustav Freytag und Raabe, der sich aus dem Pseudonym Corvinus entpuppt hatte, gekommen.

Dann wurde ein begeistertes Hoch auf die geistige Einigung, auf die deutsche Kunst ausgebracht, nachdem Freytag noch die Maler und Bildhauer gerühmt hatte. Es war ein erhebender Abend. Zum Schluß wurde es sehr lustig, da Papa einige parlamentarische Witze über Bismarck zum Besten gab. Bismarck mit seinen berühmten drei Haaren, von denen ich aber nichts gesehen habe, wird arg hergenommen im »Kladderadatsch« und anderen Witzblättern. Er soll die Sachen aber schmunzelnd lesen unter dem Motto: Viel Feind, viel Ehr.

Das gefällt mir. Papa sagt, das ist die richtige Souveränität: Ironie vertragen, ja, sich selbst zu ironisieren.


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