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Wenn ich meine Familienmitglieder aus den letzten dreißig Jahren des neunzehnten Jahrhunderts beschreibe, auch einige Freunde des Hauses heraushebe, so will ich keineswegs gerade sie als Einzelerscheinungen hinstellen, sondern in ihnen das Zeitalter schildern. Denn wenn die Leser ihre Erinnerung aufleben lassen, so werden sie in ihrer Familie, in ihrem Freundeskreis, in ihrer Stadt die gleichen Gestalten finden. Die Gestaltung des Lebens nach dem einschneidenden Ereignis des Krieges und der Einigung Deutschlands war überall die gleiche, mit ihren Licht- und Schattenseiten.
Man wird mir vielleicht vorwerfen, daß ich nur von den Lichtseiten erzähle. Ich gestehe, daß ich von all den wahren Dokumenten, Briefen und Erzählungen, die meine Chronik bilden, die schweren Erlebnisse, wie Enttäuschung, Krankheit und Tod, weggelassen habe. Und ich glaube, ich bin da dem gütigen Gesetz der Natur gefolgt. Wer kann sich in der Erinnerung die Schmerzen vorstellen, die er durchgemacht hat? Wer kann sich an die Sorgen, an die Nöte, die ihn überfallen, in ihrem ganzen Ausmaß erinnern, wenn sie überstanden sind? Die Natur hat dem Menschen eine viel stärkere Erinnerungsfähigkeit an das Glück als an das Unglück mitgegeben. Und ist das nicht gut so?
Ich kann auch bei dem Erzählen nicht aus meiner Veranlagung heraus, die ich ja von all den Familiengliedern mit auf den Weg bekommen habe und die ich als Gnade empfinde.
Ich habe die Lichtseiten nicht aus der Erinnerung heraus stärker gefärbt. Die Menschen, von denen ich erzähle, haben in Wirklichkeit immer die Lichtseiten des Lebens stärker empfunden, weil sie zu den lebensbejahenden gehörten. Als der reinste Vertreter steht mein Vater vor mir.
Die Eltern Honsell
Großherzogin Luise von Baden
»Wenn der Herr Doktor nur ins Zimmer kommt, so ist man schon beinahe wieder gesund.« Das war ein Ausspruch, der immer und immer wieder zu hören war und der aus der starken Lebensbejahung und Lebensfreude meines Vaters zu erklären war. Das sind wohl vor allem die Eigenschaften, die einem Menschen den Beruf des Arztes zu seiner Berufung machen.
Wie oft sagte mein Vater: »Jeder Beruf hat seine Berufenen und glücklich der Mensch, der seinen Beruf als Berufung erlebt.« So war mein Vater ein glücklicher Mensch. Er hatte bald die Laufbahn an der Universität verschmerzt; er hatte in Konstanz, das damals ungefähr 15 000 Einwohner hatte, einen schönen Wirkungskreis; denn auch das neuerbaute Krankenhaus stand unter seiner Leitung. Er kam als Arzt mit Menschen aller Berufe zusammen und er war es, der mir schon früh die Achtung vor jedem Arbeitsgebiet gelehrt hat.
Als er einmal von einem kranken Lokomotivführer heimkam, sagte er: »Was für eine Verantwortung hat dieser Mann, wie sicher, wie aufopfernd erfüllt er seinen Beruf, und die Leute im Zug nehmen es gedankenlos und selbstverständlich hin. Man sollte sich nach jeder Eisenbahnfahrt beim Lokomotivführer bedanken.« Und er tat es jedesmal.
Wurde da nicht jede Eisenbahnfahrt schön, denn sie endete mit einem guten Wort für den Bedankten und den Dankenden! Eine Reise mit der Eisenbahn war in jenen Zeiten immer noch ein Ereignis, denn die Leute waren in ihrer Kinderzeit noch mit der Postkutsche gefahren und hatten den Bau der ersten Eisenbahn miterlebt.
Da liegen die Schulaufsätze meines Vaters vor mir aus dem Jahre 1854. Einer hieß »Die Verkehrsmittel der neueren Zeit«. Es wird das Dampfschiff beschrieben, und man merkt in der Schilderung die eigene Anschauung. Aber der Passus über die Eisenbahn ist noch der Lektüre und der Phantasie entnommen; denn erst im Jahre 1863 fuhr die erste Eisenbahn über die Rheinbrücke in Konstanz ein, nachdem der Bau der neuen Brücke und die Anlage des Schienenweges vollendet waren. Beides hatte große Aufregung und Anteilnahme der Bevölkerung hervorgerufen, wurde doch das Stadtbild gegen den See dadurch stark verändert. Unter Glockengeläute fuhr der bekränzte Zug ein und überall prangten Tafeln mit der Inschrift:
Wir haben nun die Eisenbahn
und Dampfschiff' auf dem See,
wenn's jetzt nicht wacker vorwärts geht,
lieb Konstanz, dann ade!
Wenn man jetzt auch mit diesen Fahrzeugen leicht in die Weite eilen konnte, so suchte mein Vater seine Erholung doch nicht dort, sondern auf der geliebten Reichenau, losgelöst vom städtischen Zwang.
»Euer Vater war immer vierzig Jahre voraus in seinen Anschauungen,«« sagte oft, lange nach seinem Tode, eine alte Freundin. Und wenn ich heute zurückdenke, so muß ich ihr recht geben. Was heute »Wochenende« heißt, das war bei uns längst Sitte. Wenn es irgend möglich war und nicht gerade ein Schwerkranker ihn beanspruchte, so ging er mit uns am Samstagnachmittag auf die Reichenau, und am Sonntagabend kamen wir glücklich und müde von Sonne, Bad und Segeln wieder heim. Ohne Hut, im Badeanzug, ohne Schuhe und Strümpfe genossen wir die Tage.
»Laßt eure Köpf' verlufte und guckt ins Grüne!« hieß es, wenn wir, da wir Mädel waren, irgend eine Handarbeit im Freien machen wollten, wie es damals für sittige Schulkinder üblich war. Wir durften baden, wann wir Lust hatten, ohne vorher die Wasserwärme zu messen. »Sie werden schon von selber rausgehen, wenn's kalt ist,« beruhigte der Vater ängstliche Tanten.
Er selber machte schon Luft- und Sonnenbäder und lief bei der Gartenarbeit sehr leicht bekleidet herum. Hosenträger liebte er nicht, aber damals gab es noch keine Gürtel für Herren, und so mußte eben ein Schnürle oder ein gelbseidenes Zigarrenbändele die Hosen zusammenhalten. Da geschah es einmal, daß gerade bei der überaus galanten Begrüßung einer jungen Dame, die zu Gast kam, das Zigarrenbändele versagte und der galante Hausherr im Hemd dastand!
Ein andermal arbeitete er im Garten. Sandalen gab es damals noch nicht, und so hatte mein Vater sich selbst aus ein Paar Lederpantoffeln ein ähnliches Gebilde konstruiert. Da kam ein Handwerksbursche herein, schaute einen Augenblick zu und sagte dann: »Eejentlich hätt ich jern um ein Paar Schuhe jebeten, aber Sie haben ja selber keene ordentlichen an.« Und mit einem fast mitleidigen Blick wandte er sich fort, während mein Vater zustimmend nickte.
Am andern Tag, in der Sprechstunde in Konstanz, erscheint der gleiche Handwerksbursche vor dem in städtischer Tracht gekleideten Doktor. Erstauntes Erkennen und große Verlegenheit, die sich aber in helle Freude wandelte über den Obolus für ein Paar neue Schuhe.
Eine andere kleine Geschichte, wie mein Vater überall einen guten Ausgleich schuf, erfuhr ich durch den Brief einer alten Konstanzerin, den ich mit Freuden wörtlich folgen lasse und der sich auf das Dreirad meines Vaters bezieht. Wohl das erste Dreirad in Konstanz. Als er es zum erstenmal benützte und über die Rheinbrücke ins Krankenhaus fuhr, muß sie passiert sein.
Konstanz, 19. Juni 1937.
Es sind jetzt genau fünfzig Jahre, daß ich das Glück hatte, vom damaligen Dreirad des bekannten Krankenhausarztes überfahren zu werden. Es fuhr nämlich hübsch auf der linken Seite.
Wir wohnten in der »Säge«; ich mußte als jeden Tag nach der Wallgutschule über die Brücke und traf den Herrn Doktor Honsell oft. Damals stand noch das Oktroihäusle mit Gailer darin. Es war Freitag. Alle Wollmatinger, Reichenauer, Allmannsdorfer, Dettinger, der ganze Umkreis hatten dort Stelldichein. Die ganze Woche war Regenwetter und ein Matsch von allerhand. Die damalige städtische Garde mit eisernen Schäufele am langen Stiel zog den Brei grad zusammen zu den Kuchen am Gehsteigrand, wo dieselben öfters länger liegen blieben als notwendig gewesen wäre. Ich kam über die Brücke. Weil es bei uns immer sparen hieß, gab man uns Kinder den Rat, auf dem Fahrweg zu laufen, weil der die Schuhe nicht so mitnehmen würde wie die in sehr schlechtem Zustand gewesene Holzbrücke.
Es war Zeit für die Schule. Ich rannte so schnell ich konnte, mitten in das bekannte Dreirad. Der Herr Doktor konnte sich halten, das Rad fiel um und ich mitten in den Kuchen. Schulbücher, Tasche, Gesicht, Kleid – alles voll Dreck! Eine Wut hatte ich, weil der Herr Doktor und alle lachten. Ich heulte, weil ich zu spät in die Schule käme; aber der Herr Doktor sagte: »Geh nur heim, ich werde es dem Lehrer sagen. In welcher Klasse bist du? Und deiner Mutter sagst du, sie soll morgen mit dir in die Sprechstunde kommen.«
Bei mir daheim gab's natürlich allerhand; aber ich habe die ganze Schuld auf den Herrn Doktor abgeladen. Am Tag drauf ging es in die Sprechstunde. Resultat: die Mutter bekam Geld, um mir ein Paar Schuhe zu kaufen, bekommen habe ich aber keine.
Erzählen hätte ich es besser können, zum Schreiben taugt meine Hand nicht. Es ist ja auch nur, daß Sie Kenntnis von dem kleinen Spaß haben. Wir wohnten dann am Rheinsteig. Wir sahen gerade in Ihr Gartenhäusle, und ich höre heute noch die verschiedenen Vornamen rufen.
Belästigen möchte ich gnädige Frau Braumann nicht und bitte, den Brief in den Papierkorb zu werfen.
*
Nein, ich warf den Brief nicht in den Papierkorb, denn er ist mir ein liebes, kleines Dokument der Erinnerung an meinen gütigen Vater. Wieviele Leute gab es und gibt es jetzt noch unter den alten Konstanzern, die sich dankbar des Arztes und Menschen erinnern, der sie, als sie Kinder waren, betreute. Sind das nicht schönere Denkmäler als eine aus Marmor gemeißelte Büste in einem Hörsaal? Jedenfalls entsprachen sie mehr der Wesensart meines Vaters. Er war glücklich, weil er seinen Beruf ganz idealistisch ausüben konnte. Das verdankte er seinen Ahnen, das darf nicht vergessen werden.
Der Reichtum, den tante Joséphine mitgebracht hatte, das vom tüchtigen Christian Honsell erworbene Geld, sie gaben meinem Vater die Möglichkeit, nur die ideale Seite des Arztberufes zu pflegen, sie gaben unserem Heim, unserer Jugend die sorglose Basis. Und so war es in tausend und abertausend Familien, und das gab der bürgerlichen Gesellschaft in jenen Jahren die gefestigte Unterlage für die Entwicklung der Kultur.
Friedrich der Große sagt irgendwo: »Nur auf einem gewissen Wohlstand kann die Kultur gedeihen.« Und ich meine, auf dem Wort »Wohlstand« muß die Betonung liegen.
Nicht der Reichtum schafft Kultur, er mag sie nachher pflegen und hüten; die Kultur wächst und gedeiht dort, wo ein gediegener Wohlstand herrscht, der auch die Kluft zwischen den Gegensätzen arm und reich überbrücken kann, gerade als Träger der Kultur, die sich mit den Problemen der sozialen Fragen beschäftigen muß.
Die soziale Frage! Sie war seit 1848 immer mehr in den Vordergrund getreten, und mein Vater als Arzt beschäftigte sich besonders damit. Aber er war ein reiner Idealist und kein Realpolitiker. Er faßte das Problem zusammen unter den Worten: »Mehr Güte, mehr Verstehen, mehr tätige Hilfe!« Danach handelte er sein ganzes Leben lang und darum war es ein gesegnetes.
Der tragische Tod eines Arztes, der seinem Kommen in zwei Jahre langem, schwerem Leiden langsam entgegensieht, ward ihm zuteil. Aber mit heiterer Ruhe hat er ihn erwartet, mit der Uhr in der Hand ihn empfangen – als leuchtendes Vorbild, wie man sterben soll.