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Schon brannten alle Kronleuchter im Saal und in den anschließenden Räumen strahlte das Licht der Astrallampen, in den goldenen Wandarmen leuchteten die Kerzen. Im Speisezimmer standen auf der Tafel die großen Girandoles aus Bronze, die tante Joséphine von einer Italienreise mitgebracht hatte. Das Licht der Kerzen würde dem Teint der Damen schmeicheln, denn nichts war ja so vorteilhaft wie Kerzenbeleuchtung.
Es war fast das gleiche Bild wie damals auf Schloß Halmberg, denn altes Familiensilber, altes Familienporzellan schmückten auch hier die Tafel.
Es ging in den alten Familien in hergebrachter Sitte zu. Die gleiche Aufmachung, der gleiche Ablauf eines solchen Festes waren ungeschriebenes Gesetz. Wenn der Rahmen vielleicht auch etwas einförmig war, so gab er doch eine Sicherheit und eine Basis, die wohltuend und anheimelnd wirkten, die nicht nur Familien, sondern eine ganze Gesellschaftsschicht unsichtbar verbanden und den Verkehr erleichterten. Es war aber ein großer Rahmen, ein goldener Rahmen, und das Bild, das er umschloß, war immer bunt und bewegt.
Auf dem nahen Münster schlug es die achte Stunde, das Fest konnte beginnen.
Die allerletzte Vorbereitung, die fast als heilige Handlung gelten konnte, wurde eben noch von tante Joséphine selbst ausgeführt. In ihrem weißen, steifen Atlasgewand schritt sie mit einer kleinen, silbernen Platte in der Hand durch alle Räume. Auf der Platte glühte ein kleines Räucherkerzchen, ein feines Rauchwölkchen stieg von ihm auf und ein Duft verbreitete sich, halb von Weihrauch und halb von Veilchen.
Die junge Großmama Johanna v. Bayer
Königin Hortense auf Arenenberg
Nun konnten die Gäste erscheinen.
Aber wo war Johanna?
Sie saß noch vor ihrem Toilettentisch, obwohl sie schon längst fertig war. Ein weißes Mousselinekleid, mit echten Spitzen garniert, umschloß ihre zarte Gestalt und die Türkisen schmückten Hals und Arme und schimmerten zwischen den graziös als fichu gerafften Brüsseler Kanten. Im dunkeln Haar, das in zwei bandeaux ihr Gesicht umrahmte, lag ein Vergißmeinnichtkranz, der erst gestern von Paris gekommen war.
Obwohl sie vor dem Spiegel saß, sah sie nicht, wie hübsch sie war; denn sie hatte die Augen geschlossen und war in tiefen Gedanken. Heute war der letzte Empfangsabend der Tante. Morgen fuhren sie beide nach Rorschach. Und warum? Weil die Tante sie entfernen wollte aus der Nähe des Prinzen von Arenenberg. Der ritt zu oft die Rheingasse herunter, der drängte sich zu sehr in ihre Nähe bei all den gesellschaftlichen Veranstaltungen.
Die gute Tante fürchtete für das Herz ihrer jungen Nichte. O, sie hatte aber gar keinen Grund dazu, die besorgte Tante! Johannas Herz wollte nichts wissen von einem Prinzen, es schlug für einen anderen Mann stürmisch und bang, für den jungen Professor Carl Seiz, den protégé der tante Joséphine, den sie täglich sah und sprach und der ihr doch fast unerreichbar schien.
In seiner Person trat eine ganz andere, fremde Welt auf sie zu, die sie dazu brachte, ihre eigene Welt vergleichend zu betrachten. Wie war ihr Leben in ihrer Welt? Sie hatte keine Arbeit, sie hatte keine Pflichten in einem Haus, das von Dienerschaft wimmelte. Ihre stille Arbeit der Wohltätigkeit war ja so geringfügig.
Sie hatte nur hübsch auszusehen und liebenswürdig zu sein gegen die Tante und die vielen Gäste des Hauses. Ihr inneres, geistiges Leben ging auf in Frömmigkeit, und während ihre gepflegten Hände feine Paramenten arbeitete für die Altäre der Madonna, dachte sie über Liebe und Güte und Tugend nach. Ihre Lektüre waren weltfremde Bücher, schöne Reisebeschreibungen, die ihr die Schönheit der Natur zeigten; aber vom wirklichen Leben, von Kampf und Not und Sorgen wußte sie nichts. Außer ihren Sprachkenntnissen hatte sie nur die begrenzte Klosterbildung. Da kam nun der junge Professor und führte sie ein in lebendige Geschichte bei den Wanderungen durch die alte geschichtliche Stadt Konstanz. Da brachte er ihr Bücher der großen Dichter, die sie noch nicht kannte. Klug und bedächtig fügte er all das Neue in die harmonische Gedankenwelt des jungen Mädchens, so daß Johanna es nicht als erschreckende Umwälzung empfand. So kam sie sich nur wie aufgewacht, wie bereichert vor. Wie in einer weit geöffneten Tür stand Johanna und schaute in ein neues Land. Aber sie wußte auch, daß sie es nur an seiner Hand betreten konnte, sie wußte, daß sie ohne ihn nie die Schwelle überschreiten würde.
Es hatte schon zweimal an die Tür geklopft, – Johanna schreckte aus ihren Gedanken auf. Babett stand unter der Tür und bat Fräulein Johanna in den Salon zum Empfang der Gäste.
Johanna stand auf. Würde der heutige Abend eine Entscheidung bringen, oder mußte sie fort von Konstanz, ohne zu erfahren – nun, zu erfahren, ob er sie liebte? Denn sie wußte, daß ohne ihn ihr Leben unglücklich sein würde, daß sie ihn liebte. Als Johanna den Saal betrat, waren schon viele Gäste versammelt, und der, um den sich ihre Gedanken gedreht, stand in eifriger Unterhaltung bei tante Joséphine und der Königin Hortense.
Zu einer besonderen Begrüßung kam es nicht, denn Johanna mußte die Pflichten einer Tochter des Hauses erfüllen. Vor Hortense versank sie in einem Knicks, der auch in den tuilerien als tadellos bestanden hätte, und küßte die zarte beringte Hand. Prinz Luis Napoleon bekam nur eine feierliche Verbeugung, obwohl er versuchte, ihre Hand zu ergreifen und, wie so oft, einen Kuß darauf zu drücken. Der Generalvikar von Wessenberg kam ihm aber zuvor. Mit beiden Händen nahm er die Hand seiner kleinen Freundin Johanna. Er liebte das stille und doch kluge Mädchen, das sich neben der starken und etwas gewalttätigen Persönlichkeit der Tante so sicher seine Eigenart bewahrt hatte. Besonders in Glaubenssachen.
Johanna war eine tief religiöse Natur, gläubig und phantasievoll. Sie verharrte in ihrem poetischen Kinderglauben, und die Probleme der neuen Strömungen, die Debatten, die bei der Tante so beliebt waren, berührten sie kaum.
Er tätschelte väterlich ihre Hand, und zu der hinzutretenden Marie Ellenrieder sagte er:
»Können Sie meine kleine Freundin nicht als Engel brauchen auf Ihrem neuesten Bild?«
Marie Ellenrieder lächelte.
»Engel auf Bildern habe ich genug, ein wirklicher Engel ist so selten, daß ich ihn lieber leibhaftig in meine Arme nehme,« und sie schlang ihren Arm zärtlich um die Schulter des jungen Mädchens.
Der Generalvikar genoß mit künstlerischen Blicken das Bild der beiden Gestalten, die so klar und schön ihre innere Harmonie ausdrückten, und dachte, die beiden kommen mir vor wie Gestalten von Fra Angelico. Welche beneidenswerte Harmonie gibt doch der einfache innige Glaube! Und fast traurig gedachte er seiner inneren Kämpfe, seiner umwälzenden Gedanken, die ihn herausgerissen hatten aus dieser einfachen Harmonie.
Nicht lange hatte er Zeit zu solchen Gedanken. Prinz Louis Napoleon war wieder zu den Damen getreten, elegant, in der Uniform eines Artillerie-Hauptmanns des Schweizer Regiments in Frauenfeld. Er verschlang das junge Mädchen förmlich mit seinen Blicken und überschüttete es mit französischen Komplimenten. Ein ängstlicher Blick Johannas traf den Generalvikar, der nun rasch näher trat und in seiner charmanten Art im elegantesten Französisch den Prinz in ein Gespräch zog. Johanna eilte mit einer Verbeugung davon.
Der junge Professor Seiz hatte die Gruppe die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen, trotzdem er verbindlich den Gesprächen der Hausherrin und ihres vornehmsten Gastes zugehört hatte. Er sah mit eifersüchtigem Groll die überschwängliche Begrüßung des Prinzen, und erleichtert atmete er auf, als der Generalvikar dazwischen trat. Er sah Johanna enteilen. Nun ergriff er die erste Gelegenheit, seinen Ehrenplatz, der es doch immerhin war, zu verlassen. Er drängte sich durch die Gäste, um das junge Mädchen zu suchen. Er fand es im kleinen Spielzimmer, wo es auf dem grünen Tuch der Spieltische die Karten und Spielmarken zierlich ordnete. Nach dem souper trafen sich hier die älteren Herrschaften, um ein Spielchen mit nicht zu hohen points zu machen.
Er begrüßte Johanna und zog sie in das nächste Zimmer; denn nicht in einem Raum, wo das Glück nur ein Spiel war, wollte er sein Glück, das Ernst und Wahrheit werden sollte, suchen.
Und – er fand es, und eine Viertelstunde später mischten sich die beiden, mit dem unsichtbaren Glück im Herzen, wieder unter die Gäste.
Das Fest rauschte dahin wie alle Feste jener Zeit. Die Augen der Frauen blitzten mit dem Schmuck um die Wette; die weißen Schultern leuchteten, die Männerblicke wurden kühner. Aber alles gebunden von der Grazie und dem Geist jener Zeit. Geistreiche aperçus, bon-mots flogen hin und her und nur in die Falten der Spitzenfächer huschte hie und da ein gewagtes Wort. Lachen und Gläserklang schwebten durch den weichen Dunst feinsten Parfüms und Wachskerzenduft, vermischt mit dem Aroma edler Weine und reifer Früchte. Nach den genossenen Tafelfreuden erhöhte ein Tanz zierlicher quadrilles und menuets die Lust der Jugend, während das Alter am ruhigen Spieltisch die Festfreude verebben ließ.
Tante Joséphine saß etwas müde vor ihrem Toilettentisch und spielte mit ihren Ringen und ließ das Stirnband mit dem Perlentropfen durch die Hände gleiten.
Babett hatte es abgenommen, hatte die Locken eingerollt und ein Spitzenhäubchen darüber gezogen. Dann hatte sie ihrer Herrin die eng geschnürte corsage gelöst, die Kreuzbänder über den weißseidenen Strümpfen aufgenestelt, die ganze steife Seidenrobe ausgezogen, und nun saß tante Joséphine da in einem weichen négligé, nicht mehr voll grandezza, sondern klein und ein wenig altjüngferlich.
Ihre Gedanken waren noch bei dem Feste, überlegend und ein wenig unruhig. Es klopfte leise. Auf das gleichgültige Herein, das mit dem Eintritt Babetts rechnete, trat Johanna in die offene Tür.
»Darf ich dich noch stören, tante Joséphine,« fragte sie mit einer Stimme, die etwas zaghaft klang. Tante Joséphine drehte sich hastig um.
»Was willst du noch?« fragte sie fast scharf.
»Ich muß dich sprechen, ich muß es dir noch heute nacht sagen, ich – ich habe mich verlobt – mit Carl Seiz,« stieß Johanna fast überstürzt hervor.
Tante Josephine starrte sie an. »Du hast dich verlobt? Mit Carl Seiz? Du willst ihn heiraten? – Das gibt's nicht, das schlag dir nur aus dem Kopf!«
»Aber wir haben uns lieb.«
»Unmöglich!« sie lachte hart auf, »der gescheite, freigeistige Mann und du, das – nimm mir's nicht übel – beschränkte Klosterfräulein, unmöglich!«
In Johanna erwachte der Stolz.
»Wenn dieser gescheite Mann mich lieb hat und mich wählt, kann ich doch nicht so beschränkt sein.«
»Aha, man ist aufgewacht, man wird trotzig! – Nun gut, du magst ihm genügen; aber dir, dir, Johanna von Bayer, kann doch seine einfache Herkunft nicht genügen, seine Position als simpler Professor an einem kleinen Lyzeum! Du kannst andere Ansprüche machen, Johanna. Ein Planta, ein Salis, das alte Schweizer Patriziat, kommt für dich in Frage.«
»Aber tante Joséphine, du hast doch Carl Seiz in dein Haus gezogen, du nennst ihn deinen Freund, du, die du so exklusiv bist!«
»Das ist etwas anderes. – Und sein Glaube? Seine Frömmigkeit?«
»Ich habe im Beichtstuhl meine Liebe eingestanden und der hochwürdige Geistliche Rat hat sie gebilligt,« sagte Johanna leise. »Er sagte, daß meine Liebe den Mann wieder ganz zum wahren, schlichten Glauben zurückführen würde, dessen sei er sicher.«
»Aha, ein neues Schäflein soll gewonnen werden,« rief die Tante bitter, »Johanna, ich gebe meine Einwilligung nicht – nie! – merk dir das. Du bist unter meinem Dach, in meiner Obhut, denke daran – und nun geh!«
Johanna brach in Schluchzen aus. » Tante Joséphine, sei nicht so hart, sei nicht so egoistisch, laß mir doch mein Glück!«
»Geh, geh! Nimm dich zusammen, du benimmst dich wie eine kleine Kammerzofe. In unseren Kreisen behält man mehr contenance, meine Liebe. Gute Nacht!«
»O tante Joséphine, ich habe ihn lieb und ich lasse nicht von ihm und er nicht von mir, das weiß ich –«
»Geh, geh!«
Nun war tante Joséphine allein. Sie starrte vor sich hin.
»Sei nicht so egoistisch,« hatte Johanna gerufen. War das mit versteckter Absicht gesagt, lauerte dahinter ein anderes Wort? Das Wort, das sie weit, weit von sich wies und das doch in der letzten Zeit so oft sich ihr selber aufgedrängt hatte – verliebt! War sie selber in den jungen Professor verliebt, sie Joséphine?
War all die Ablehnung, die Besorgnis um die Nichte nur Eifersucht und Neid? Gönnte sie dem jungen Mädchen den Mann nicht, den sie selber liebte? Wollte sie ihn heiraten, sie, die viel ältere? – Da lachte sie befreit. Nein, heiraten wollte sie ihn gewiß nicht. Ja, was dann? – Sie wollte ihn nur keiner andern gönnen!
Sie sprang auf und ging lautlos auf dem weichen Teppich hin und her. Ihre Gedanken kämpften mit ihren Gefühlen, die in dem verschlossenen alternden Herzen aufgewacht waren.
Tante Joséphine kämpfte einen harten Kampf in jener Nacht, einen Kampf, den so viele Tanten kämpfen. Aber sie siegte. –
Endlich nahm sie den silbernen Leuchter mit der fast heruntergebrannten Kerze und ging leise in das Schlafzimmer Johannas. Das junge Mädchen schlief. Noch hingen Tränen an ihren dunkeln Wimpern, aber um die Lippen lag ein stilles Lächeln. Lange sah tante Joséphine die Schlafende an.
»Sie schläft. Jugend kann schlafen auch im Schmerz; denn sie hat immer die Hoffnung auf die Zukunft,« dachte sie wehmütig und ging leise, wie sie gekommen, in ihr Zimmer zurück.
*
Bald heirateten Johanna von Bayer und Carl Seiz und wurden meine Großeltern. Nie hat wohl mein Großpapa die Liebe der tante Joséphine gemerkt. Nur als sie gestorben war und in ihrem Testament nicht ihre Nichte, sondern ihn, den fremden, angeheirateten Mann zum Universalerben einsetzte, da kam ihm wohl der Gedanke, daß tante Joséphine ihn mehr geliebt hatte, als eine Tante es tut.