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XLIII.
Viel auf dem Spiel.

Horace lief einige Tage wie im Traum umher. Es schien, als hätte er seinen Kopf in eine Schlinge gesteckt, und je mehr er an ihr zerrte, desto heftiger würgte ihn das Seil. Am Frühstückstisch las Mr. Van Schaak die Anzeige von Bellas Tod aus der Morgenzeitung vor; und sein Schwiegersohn hörte bewegungslos mit versteinertem Gesicht zu. Eine schwere Benommenheit hatte ihn ergriffen; was ihm selbst oder sonst jemandem widerfuhr, war ihm scheinbar ziemlich gleichgültig. Kate ließ den Wagen kommen und suchte mit ihrer Mutter das Hotel auf; Horace weigerte sich jedoch, sie zu begleiten.

Den Beileidsbrief, den er an Mr. Robbins schreiben wollte, konnte er nicht zu Ende bringen. Jedes Wort darin kam ihm vor wie herzloser Hohn. Es war, als habe man einen Menschen erstochen und bitte ihn anschließend um Verzeihung.

Am Nachmittag wanderte er durch die Stadt und ließ sich schließlich an einem öffentlichen Platz auf einer Bank nieder. Seine kraftvolle Vitalität machte sich wieder geltend; und er erkannte die Sinnlosigkeit seines Kummers, die Nutzlosigkeit von Reue, die das Handeln lähmte, das Unrecht aber nicht ungeschehen machen konnte.

Abends hatte er seine gewohnte Gefasstheit wieder gewonnen und wusste nun genau, was er tun würde. Falls Kate es ablehnte, ihn nach Torryville zu begleiten, würde er ohne sie dorthin gehen. Er würde ihr eine Trennung anbieten oder sogar die Scheidung, nach ihren eigenen Bedingungen, wenn sie es wünschte.

Kate, als Kennerin der menschlichen Natur, hatte wohl seinen angespannten Gesichtszügen die Entschlossenheit abgelesen, die er an der Abendtafel durch ungewohnt demonstrative Liebenswürdigkeit zu kaschieren trachtete. Als er sich nämlich vom Tisch erhob, kam sie ihm mit einer Bitte um ein vertrauliches Gespräch zuvor.

»Du hast etwas auf dem Herzen, Horace,« sagte sie, nachdem sie sich in die Verschwiegenheit der Bibliothek zurückgezogen hatten; »gibt es etwas, das ich für dich tun kann?«

»Etwas, das du für mich tun kannst!« rief er mit spöttischem Lachen; »also, das gefällt mir!«

»Ich bin froh, dass es dir gefällt,« versetzte sie mit ärgerlicher Gelassenheit; »aber sag mir bitte, warum du es zum Lachen findest?«

»Es ist zwecklos, sich mit dir zu unterhalten, Kate,« brach es heftig aus ihm heraus; »du siehst mich als Schachfigur, die du auf dem Brett zu deinem Vergnügen hin und her schieben kannst und die bloß dazu da ist, dich dein Spiel gewinnen zu lassen. Aber zu deiner Kenntnisnahme am heutigen Abend: ich beabsichtige, ein bisschen mein eigenes Spiel zu machen, egal ob es mit deinem übereinstimmt oder nicht.«

» Pas de zèle, mein Lieber, pas de zèle,« warnte sie in gehobenster Aussprache, »wir können besser miteinander reden, wenn wir nicht wütend werden. Wenn ich dich recht verstehe, bist du unzufrieden mit mir. Sag mir bitte, worüber du dich beschweren willst.«

Ah, sie war prachtvoll, diese Kate, sie war einfach kolossal! Gesundheit, Wohlstand und Ausgeglichenheit! Sie besaß alle drei in höchster Perfektion.

Dieser Gedanke fuhr ihm blitzartig durch den Kopf und besänftigte unversehens die in ihm tobende Erregung. Kate hatte sofort erkannte, dass er sich in einer Stimmung befand, die jeden Streit gefährlich machte, und so verweigerte sie sich diesem. So ein klarer Kopf, solch ein unfehlbares Urteil – wie sollte er dies nicht bewundern?

»Wenn ich deine Strategie nicht falsch verstanden habe,« sagte er, sich selbst zur Gefasstheit zwingend, »hast du vor, eine Falle hinter mir zuschnappen zu lassen. Du willst nicht nach Torryville mit kommen.«

»Was ich mir wünsche, ist eine Sache, was ich vorhabe, eine ganz andere. Darf ich fragen, warum du so gerne zu diesem dämlichen Ort zurück kehren möchtest?«

»Weil meine gesamte Karriere an meinen Wohnsitz dort gebunden ist. Zuerst will ich in den Kongress.«

»Warum kannst du nicht aus dieser Stadt in den Kongress kommen? Ich weiß, dass mein Vater um meinetwillen durchaus gewillt wäre, das Geld für deine Nomination bereit zu stellen.«

»Ich bin ihm sehr verbunden, muss aber ablehnen. Ich möchte mein Vorankommen im öffentlichen Leben meinen eigenen Talenten verdanken, nicht dem Geld deines Vaters.«

»Ah, ich verstehe. Aber davon abgesehen: warum solltest du es ablehnen, von dieser Stadt aus in den Kongress zu kommen?«

»Erstens weil ich darlegen müsste, dass ich ein Einwohner von ihr bin, was nicht der Fall ist. Zweitens ist eine republikanische Nominierung, die man kaufen könnte, ihren Preis nicht wert.«

»Aber nehmen wir an, du wärest ein Demokrat.«

»Entschuldige, meine Liebe, aber jetzt überschreiten deine Annahmen deutlich meine Geduld. Was du damit sagen willst: angenommen, ich wäre ein Schlingel …«

»Ganz und gar nicht; aber ich verstehe deine Einstellung. Nun, darf ich fragen, warum du dich darauf kaprizierst, unbedingt in den Kongress zu kommen?«

»Weil,« stieß er, wieder seine Stimme aus unbezähmbarer Gereiztheit erhebend, hervor, »weil das mein Leben ist! Weil ich aufgrund meiner Neigung und meiner Begabung für eine öffentliche Laufbahn geeignet bin. Und außerdem: wie soll ich jemals deinen Traum als ›Diplomat an einem ausländischen Hof‹ erfüllen, wenn ich mich nicht zuerst in der Politik auszeichne? Man liest Diplomaten nicht aus der Gosse auf!«

Er wusste, dass dies ein heuchlerisches Argument war. Er hatte nicht die geringste Lust, sich ihren Plänen anzubequemen; aber im Krieg und in der Liebe ist jedes Mittel recht. Wenn er diesen Punkt gewann, müsste er sich um die anschließende Diskussion keine Sorgen machen.

»Also bitte sehr, pas de zèle,« bat sie und hob erneut warnend ihre weißen Hände, während ihre intelligenten Augen sein Gesicht ernst prüfend abtasteten. Zwei oder drei Minuten verbrachte sie damit; und die gelassene Logik ihres Denkens schien beinahe hinter ihrer klaren Stirn sichtbar zu werden.

»Du hast mich überzeugt,« sagte sie am Ende, während sie sich würdevoll erhob; »ich bin bereit, mit dir nach Torryville zu gehen, wann immer du willst.«

»Dann also morgen.«

»Ausgezeichnet. Aber ich würde übermorgen vorziehen.«

»Wie du möchtest; also übermorgen.«

Wie bei allen Abmachungen dieser Art fühlte sich Horace, obgleich scheinbar siegreich, letztlich eher geschlagen. Er bezog keinerlei Genugtuung aus seinem Triumph, weil er wusste, dass er im Ganzen für Kate kein angemessener Gegner war. Die List, durch die er sie zur Vernunft gebracht hatte, könnte sich als Saat von Drachenzähnen Siehe Kapitel XVI. erweisen, aus der sich unerfreuliche Folgen ohne Ende ergeben mochten.

Seine Stimmung war daher alles andere als heiter, als er am Morgen des besagten Tages zum Hauptbahnhof fuhr, mit einem draufgängerischen Kutscher auf dem Wagenkasten, in dem sich gefaltet ihre gesamte Garderobe befand, der ganze Prunk und alles, wozu wohlhabender Republikanismus fähig ist.

Kate andererseits war heiter wie das liebliche Juniwetter und schaute in die besonnte Welt mit jener prächtigen Gleichgültigkeit, die kein Plebejer je zu erwerben hoffen kann. Ein Schweizer Kindermädchen saß in Elsässer Bauerntracht gegenüber und hielt ein Bündel kostbarer Spitzen und Bänder, in denen sich unter anderem ein Baby befand.

Als sie von dem Wagen am Eingang zu den Wartesälen des New Yorker Hauptbahnhofs abstiegen, bemerkte Horace einen Leichenwagen, durch dessen offene Tür ein langer Kiefernsarg sichtbar wurde. Er hatte gerade den Fußsteig betreten und wollte seine Frau in den Wartesaal führen, als er Mr. Dallas aus Torryville und Mr. Robbins sah, beide mit schwarzem Flor an ihren Hüten. Ihnen folgte Graves, der Gerber, der Nettie Robbins führte, die von Kopf bis Fuß in einen langen Trauerschleier gehüllt war.

Horace überlief ein eisiger Schauer, und er wollte sich an ihnen vorbei drängen. Kate indes hielt an, um ihren Onkel anzusprechen und die konventionellen Phrasen von Mitgefühl und Beileid zu äußern. Horace suchte Zuflucht in seinem gewohnten Phlegma; als jedoch vier Männern den Kiefernsarg aus dem Leichenwagen hoben und an ihm vorbei zum Gepäckschalter trugen, wurde ihm schwarz vor Augen, und das Pflaster unter seinen Füßen begann zu wabern. Ein unbändiger Schmerz bebte ihm durch jede Fiber seiner Existenz; sein Verstand war in einen Strudel geraten, und fast hätte er sein Bewusstsein verloren.

Mit einer gewaltsamen Willensanstrengung aber nahm er sich zusammen und beobachtete mit zusammengebissenen Zähnen und aschfahlem Gesicht das Voranschreiten der vier Männer, die aufgesetzte Trauer von Mr. Dallas, als dieser an ihnen vorbei kam und sie damit zur Vorsicht mahnte, und die Mitleid erregende Leere und fassungslose Starre im Gesicht des alten Geistlichen.

War er – Horace Larkin – verantwortlich für diesen Schicksalsschlag? Hatte er diese Sünde auf seinem Gewissen? Er hoffte bei Gott, dass es nicht so war. Mit verzweifelter Zähigkeit klammerte er sich an Bellas Zusicherung, dass sie immer krank gewesen sei und dass ihr Ende rasch hätte kommen müssen, egal ob er ihren Weg gekreuzt hätte oder nicht.

Aber was bedeuteten Leben und Tod nach alledem? Was machte es aus, wenn jenes verlängert oder dieser um einige Jahre beschleunigt wurde? Der Sonnenschein drang wie zum Hohn in seine Augen, und die Welt kam ihm vor wie ein grausamer Schwindel.

Es wurde allmählich Zeit, in den Zug einzusteigen, und Kate sagte ihrem Onkel mit geziemendem Ernst Lebewohl. Glücklicherweise hatte sie einen ganzen Palastwagon für sich und ihr Gefolge gemietet, während die Trauergesellschaft einem anderen zugeteilt war. Dennoch verfolgte Horace Stunde um Stunde dieses langen Tages der Gedanke an jene schreckliche Fracht, die der Wagon vor ihnen mit sich führte. Seine Vorstellung beschwor das Schauspiel mit quälender Anschaulichkeit und schauderhaften Einzelheiten herauf. Der alte Aberglaube der Seeleute kam ihm in den Sinn, dass ein Schiff mit einer Leiche an Bord untergehen müsse. Sein Leben würde fortan ein Leiche an Bord haben. Bedeutete dies Untergang?

Er betrat sein neues Haus, das mit seinem Schicksal und seinen Glückshoffnungen verbunden schien; und er hatte nicht daran gedacht, einen Schrank für ein Skelett einbauen zu lassen.

Tja, das Leben ist eine seltsame Angelegenheit.



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