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XXXVI.
»Patagonia.«

Aleck bemühte sich um Heiterkeit und Unbefangenheit, als er die Tür des dunklen Flurs zu dem Raum öffnete, den er gern sein ›Arbeitszimmer‹ nannte. Aber er konnte vor seinem scharfsinnigen Bruder seine Aufregung nicht verbergen. Er lachte laut über Dinge, die nicht lustig waren, schlug sich mit dem Mobiliar herum, um einen bequemen Stuhl für seinen Gast zu finden, und hüpfte mit verwirrender Munterkeit von einem Gesprächsgegenstand zum nächsten.

»Du wirst hoffentlich entschuldigen, wie es hier aussieht, Horace,« sagte er; »denn, weißt du, wir sind noch nicht ganz eingerichtet. Wir wollen die Sachen, die wir brauchen, nicht alle auf einmal kaufen; Sachen, mit denen wir leben müssen, möchten wir lieber nach und nach besorgen. Und ich sag' dir, wir haben Spaß ohne Ende bei unseren Möbelexpeditionen. Gertie, weißt du, hat von Geld ungefähr so viel Ahnung wie der Mann im Mond. Ich hatte eine entsetzliche Menge Ärger damit, ihr beizubringen, wie man das Wechselgeld zählt, wenn man einkaufen geht. ›Aber du willst doch nicht, dass ich den Angestellten in seinem Beisein beleidige?‹ rief sie, als ich das erste Mal davon sprach, und fegte das Wechselgeld, das sie auf eine Zehn-Dollar-Note erhalten hatte, mit königlicher Sorglosigkeit in ihre Börse.«

Aleck war vielleicht dafür zu entschuldigen, dass er die Eigentümlichkeiten seiner Frau faszinierend interessant fand und sich einbildete, dass sie seinem Bruder ebenso erfreulich erscheinen müsse. Horace hingegen, für den die Poesie der Beziehung eines Mannes zu seiner geliebten Frau ein Buch mit sieben Siegeln war, konnte nicht den Gedanken unterdrücken, dass Aleck erbärmlich herunter gekommen war. Er machte sich vollständig zum Narren wegen dieser Frau; und da er nun entschieden hatte, seinen eigenen Weg zu gehen, würde es keinen Zweck haben, ihm die Augen zu öffnen.

Das Zimmer, in dem sie saßen, maß etwa 1,80 mal 2,40 Meter und enthielt zwei große Buchregale aus gebeiztem Kiefernholz, eine mit grünem Rips bezogene Couch, einen Kirschholzschreibtisch und zwei Stühle mit Korbsitzflächen. Über dem Schreibtisch hingen Kreideporträts von Aleck und seiner Frau, ersterer mit merkwürdig verzogenem Mund, letztere mit einem Auge, das heraus zu fallen drohte. Der Namenszug des Künstlers, G. L., war in der rechten Ecke in ornamentaler Fettschrift zu sehen. Der glückliche Besitzer dieser Kunstwerke konnte seinen Stolz auf sie nicht verbergen, sondern musste die Aufmerksamkeit seines Bruders auf ihre Vortrefflichkeit lenken.

Dann entschuldigte er sich und stolperte auf seinem Weg zur Tür über Horace' lange Beine, die über den gesamten freien Teil des Fußbodens ausgestreckt waren. Einen Augenblick später vernahm man unmissverständliche Laute eines unterdrückten Streits im benachbarten Zimmer, und die Schlussfolgerung lag nahe, dass die Dame des Hauses es nicht auf die Erneuerung ihrer Bekanntschaft mit ihrem Schwager anlegte. Der betreffende Schwager grinste und konnte ihre Abneigung durchaus nachvollziehen.

Alecks Beschwörungen schienen am Ende jedoch Erfolg zu haben; er kehrte nämlich alsbald in strahlender Laune zurück und verkündete, dass seine Frau damit einverstanden sei, ihn zu sehen. Wenn es die Königin von England und Irland gewesen wäre, die ihre Bereitschaft kund getan hätte, ihn zu empfangen, hätte die Ankündigung nicht eindrucksvoller ausfallen können. Er schwang die Tür zum Wohnzimmer auf, ganz wie ein Lakai, der einen zur Audienz beim Souverän geleitet.

Horcae machte seinen Diener vor Gertrude, die ihn in der Mitte des Zimmers erwartete. Sein erster Gedanke war, dass sie wirklich hübsch aussah (etwas, das ihm vorher nie aufgefallen war), und ihre erste Regung war die der Erleichterung, dass er sie nicht küsste. Denn sie hatte gefürchtet, dass er es aus Rücksicht auf Aleck für seine Pflicht hielte, seine Zuneigung zu zeigen.

»Ich freue mich sehr, dich zu sehen, Horace,« sagte sie einfach.

»Mir geht's genauso, Gertie,« antwortete er im selben Maß der Aufrichtigkeit. »Du bist so hübsch geworden, dass ich dich fast nicht wiedererkannt hätte.«

Aleck, der daneben stehend seine Frau mit halb väterlichem, halb lieberhabermäßigem Stolz anstrahlte, legte an dieser Stelle ungestüm los:

»Na, da siehst du's! Ist es nicht genau das, was ich dir gesagt habe, dass du jeden Tag schöner wirst? Und du hast darauf bestanden, dass ich schmeichle oder meinen Scherz mit dir treibe.«

»Sei nicht so närrisch, Aleck!« war die prompte Antwort; »oder Horace wird denken, dass du dein bisschen Verstand seit deiner Heirat auch noch verloren hast. Und dann wird er mich für deine Albernheit verantwortlich machen.«

Sie errötete vor Verlegenheit und setzte sich auf einen Stuhl gegenüber ihrer Staffelei.

Die Unterhaltung bewegte sich etwas schwerfällig von einem gleichgültigen Thema zum nächsten, und Horace gewann Zeit, den Raum einer Bestandsaufnahme zu unterziehen. Es war, vorsichtig ausgedrückt, ein unkonventionelles Wohnzimmer; es enthielt wenig Mobiliar, und dies besaß eigenartige Formen und Maße. Es gab ein Sofa und drei oder vier Sessel, nicht vom dem üblichen Aussehen, aber hübsch, solide und gefällig geformt. Sie waren offensichtlich, einer nach dem anderen, sorgfältig in solchen Geschäften der Innenstadt ausgesucht worden, wo die Preise für hübsche Sachen noch nicht verbotene Höhen erreicht hatten. Der Boden war mit einem Teppich guter Farbqualität bedeckt und die Wände mit einer Vielzahl ungerahmter Kreidezeichnungen behangen, deren Hauptfunktion im Verbergen der blau-gelben Tapete bestand. Eine selbstverfertigte Trennwand, dekoriert mit Binse und Kranichen, ebenfalls in Kreide gezeichnet, verbarg den hässlichen Kamin mit seinem Sims, und auffällige Draperieteile waren wirkungsvoll um die Türen, den Spiegel und um alles arrangiert, das als anstößig aus dem Blick genommen werden sollte.

»Ich nehme an, Gertie,« sagte Horace, um Konversation zu machen, »dass du hier in New York eine gute Chance hast, deine Kunststudien zu betreiben.«

Es ist schwer zu sagen, weshalb sich in ihr der Verdacht regte, dass er seinen Spott mit ihr treibe. Sie konnte keinerlei wohlwollendes Interesse an ihr oder ihrer Arbeit bei diesem kaltblütigen, gewitzten Schwager voraussetzen, der sie stets missbilligt und ihr häufig die Früchte seines rigorosen Sarkasmus gegönnt hatte.

»Das Beste, was man mit meinen künstlerischen Bestrebungen anstellen könnte, wäre, sie zu unterdrücken,« antwortete sie ernsthaft; »wenn du mir dabei helfen könntest, wäre ich dir dankbar.«

»Wie kannst du nur so etwas sagen, Gertie,« stieß Aleck feurig hervor. »Es würde mich bekümmern, wenn die Ehe die Entwicklung deiner künstlerischen Begabung behindert. Wenn es uns einmal besser geht als jetzt, möchte ich, dass du Unterricht bei den besten Künstlern von New York nimmst, und es sollte mich wundern, wenn sie meiner Einschätzung deiner Genialität nicht zustimmen.«

»Dann, fürchte ich, wirst du dich sehr wundern müssen, Liebling,« antwortete sie und sandte ihm einen erfreuten Blick voll scheuer Dankbarkeit und Zärtlichkeit zu.

»Sie hat Recht, Aleck, sie hat Recht,« unterbrach der ungalante Horace; »nicht dass ich ihre künstlerischen Verdienste in Frage stellen wollte; aber für eine verheiratete Frau ist eine Begabung dieser Art, wenn sie echt ist, mehr eine Quelle des Elends als des Glücks. Ich spreche nicht von einem bloß dilettantischen Zeichentalent; denn das könnte sich als Vergnügen und als Zeitvertreib herausstellen. Aber Genialität wird sich nicht mit ehelicher Treuepflicht vertragen. Sie verlangt den ganzen Mann oder die ganze Frau und rächt sich, wenn man sie mit einem Kompromiss hinhält.«

Aleck stand wacker seinen Mann gegen die vereinigten Streitkräfte seines Bruders und seiner Frau und erklärte schließlich voller Erhabenheit, dass er lieber sein eigenes Leben Gertrude aufopfern würde, als dass er ihres als Opfer annähme.

»Aleck, mein Junge, du hast dich kein bisschen verändert,« rief Horace lachend; »aber gestatte mir die Bemerkung,« fuhr er fast feierlich fort, »dass niemand ein Recht hat, sich selbst für irgend jemanden aufzuopfern. Wenn er das tut, scheidet er aus dem Kampf ums Dasein aus und beweist seine Untauglichkeit zum Überleben. Für jeden starken Menschen ist es selbstverständlich, dass er versucht, jedes andere Leben seinem eigenen tributpflichtig zu machen; aber wer von sich aus sein Leben jemand anderem tributpflichtig macht, ist vom Standpunkt der Natur ein schwacher Mensch; oder, was auf dasselbe hinausläuft, ein don-quijotischer Schwärmer, den diese Natur nicht weiter am Leben halten wird, weil sie beim gegenwärtigen Stand der Dinge keine Verwendung für ihn hat. Sie mag ihm erlauben, auf niedrigem Niveau zu existieren; aber was bedeutet schon ein Dasein ohne Vorherrschaft?«

»Oh, Horace, du verblendeter Philosoph!« rief Aleck theatralisch. »Glaubst du wirklich, dass die Natur keine Verwendung für einen Mann hat, der großmütiger ist als der Durchschnitt?«

»Die Natur respektiert ausschließlich Stärke, physisch wie geistig,« erwiderte Horace. »Wer seiner Zeit moralisch voraus ist, kann bei praktischen Zwecken nur ein Narr sein. Es ist sinnlos, mit dem Schicksal zu streiten; und in den Vereinigten Staaten ist der Durchschnittsmann das Schicksal, das uns beherrscht und unseren Platz in der Welt bestimmt.«

Damit waren sie auf eines ihrer alten Streitthemen gekommen, und eine ganze Stunde lang fochten sie geistige Schlachten, wobei jeder hartnäckig an seiner Auffassung fest hielt. Obwohl Gertrude von Parteilichkeit für ihren Ehemann durchglüht und gelegentlich sogar versucht war zu sprechen, hielt eine gewisse Furcht vor dem respekteinflößenden Horace sie davor zurück. Wenngleich seine Haltung ihr gegenüber sich geändert hatte, spürte sie noch immer die Nachwirkung seines geringschätzigen Hochmuts, mit dem er sie in der Vergangenheit so freimütig behandelt hatte. Sie saß jedesmal wie auf glühenden Kohlen, wenn Aleck Schwäche zeigte, und wollte ihm so gerne zur Seite springen.

Als klar wurde, dass er vernichtend geschlagen war, flammte ihre alte Feindseligkeit gegen Horace wieder auf, und sie hätte ihm am liebsten gesagt, wie abscheulich er sei. Aleck dagegen trug seine Niederlage mit Fassung und erklärte lachend, dass ja alles in der Familie bleibe und er nicht so tun wolle, als sei er ein angemessener Gegner für einen so ausgeprägten Logiker wie seinen Bruder.

Da fiel ihm ein, dass er Horace noch gar keine Zigarre angeboten hatte, und versuchte eilig dieses Versäumnis nachzuholen. Gertrude staunte über seine Gutmütigkeit, und ein kleiner Zweifel beschlich sie, ob nicht vielleicht tatsächlich eine solche Liebenswürdigkeit von Schwäche zeuge und zum Erfolg untauglich mache. Und sie sehnte sich doch von ganzem Herzen nach Erfolg, hauptsächlich um Horace durch praktische Widerlegung seiner Argumentation in die Knie zu zwingen.

»Ich nehme an,« gab der unbewusste Gegenstand ihres Zorns andeutungsvoll zu verstehen, »dass Gertie sich noch nicht das Rauchen angewöhnt hat. Wie wär's, wenn wir uns ins Arbeitszimmer zurück zögen, wo wir sie nicht belästigen?«

Sie war klug genug zu begreifen, dass dies ein Trick war, sie los zu werden, und erhob darum keinen Einwand. Nur dem unkomplizierten Aleck entging diese Absicht, weil er sich nicht vorzustellen vermochte, wie jemand es vorziehen könne, ohne Gertrudes Gesellschaft auszukommen. Dennoch akzeptierte er den Vorschlag seines Bruders, hätte allerdings fast seine Frau umarmt, als sie unter heroischer Missachtung eigener Wünsche Horace einlud, zum Abendessen zu bleiben. Ein geübtes Auge hätte freilich einen Schatten der Erleichterung in ihren weit geöffneten blauen Augen entdeckt, als die Einladung abgelehnt wurde.

Horace entspannte sich zu erleichterter Zwanglosigkeit, als er mit seinem Bruder allein war.

»Aleck,« sagte er, ein paar lange, kritische Züge von seiner Zigarre nehmend, um ihre Qualität zu prüfen, »ich muss dir etwas sagen, und werde auf alle Vorreden verzichten. Mein lieber Junge, ich werde heiraten.«

»Das freut mich zu hören,« brach es aus Aleck mit Begeisterung hervor; »sie war so sterbenskrank, und ich wusste, du würdest dir nicht dein Gewissen damit belasten, das Leben dieses armen Mädchens zerstört zu haben …«

Er wurde plötzlich gewahr, dass im Gesicht seines Bruder ein unheilvoller Wechsel vorgegangen war. Ein harter schwarzer Ausdruck lag um seine Augen, den er von früher nur zu gut kannte. Vor Schreck starrte er ihn fragend an.

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst,« schrie Horace, stand auf und starrte aus dem Fenster.

»Ja aber – wen – wenn ich fragen darf – wirst du denn heiraten?« stammelte Aleck in quälender Verwirrung.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Horace seinen Gleichmut zurück gewonnen hatte.

»Nur weil du dich entschieden hast, dein Leben weg zu werfen,« sagte er barsch, Aleck über die Schulter einen finsteren Blick zuwerfend, »soll ich das mit meinem auch tun?«

»Nein,« hätte Aleck am liebsten geantwortet; »du wirfst lieber das Leben anderer weg. Jeder hat das Recht, mit seinem eigenen Leben Versuche anzustellen, aber er hat nicht das Recht, dies mit dem Leben seiner Mitmenschen zu tun.«

Er wusste jedoch, wenn er diesen Gedanken äußerte, wäre es mit seiner schönen Beziehung zu seinem Bruder endgültig vorbei. Und er schätzte ihn zu sehr, um diese einer Lebensweisheit zu opfern. Es nagte zudem der Verdacht an ihm, dass es seine Heirat sei, die Horace als Beweis für sein Scheitern und als Auslieferung seines Lebens an das hoffnungslose Mittelmaß erschien; aber sogar das würde er verzeihen, wenn Vergebung für seinen eigenen Fehlgriff noch zu bekommen war.

»Weißt du, Horace,« begann er versöhnlich, »ich bin halt oft unbedacht, und meine Gefühle laufen dann mit mir davon. Wenn ich dich verletzt habe, tut mir das von Herzen leid.«

»Das ist verdammt leicht, so ein ›tut mit leid‹! aber du bist der tollpatschigste Kerl, der mir je untergekommen ist!«

»Gut, bin ich vielleicht, aber ich bin zu alt, um da noch 'was zu reparieren; also ich fürchte, du musst dich damit abfinden.«

»Das weiß ich nicht. Jedenfalls braucht es Zeit, bis ich Lust habe, dir zu verzeihen. Unsere Vertraulichkeit hast du auf alle Fälle ruiniert. Leb wohl.«

»Aber willst du mir nicht sagen, wer die Dame ist, die du zu heiraten gedenkst?«

»Das sag' ich dir ein andermal, heute kann ich's nicht.«

Er hatte schon Stock und Hut ergriffen, und Aleck öffnete ihm bekümmert die Tür und drückte auf den Aufzugknopf. Sie schüttelten einander die Hände, der eine teilnahmslos, der andere warm und voller Reue.

Es war nicht das erste Mal, dass der Rechtschaffene sich für seine Rechtschaffenheit entschuldigen musste und der Unredliche eine Entschuldigung für Kritik an seiner Unredlichkeit verlangen durfte.

Am nächsten Tag erhielt Aleck einen im Union League Club Männerbund, zur Verbreitung der unionistischen Ideen Abraham Lincolns gegründet; nach dem Sezessionskrieg nur mehr ein Unterstützungsorgan der Republikanischen Partei. geschriebenen Brief, der ihn darüber informierte, dass es sich bei der Dame, die seine Schwägerin werden würde, um Kate Van Schaak handelte. Wenn der Himmel ihm auf den Kopf gestürzt wäre, hätte Aleck nicht überraschter sein können.



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