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XXXI.
Folgenschwere Entdeckung.

Der Zug erreichte Jersey City zu einer unangenehm frühen Zeit, und die Insassen der Schafwagen hatten keine Eile, draußen in die Morgenkälte einzutauchen. Sie machten ihre Toilette daher in Muße, ergaben sich den unnötigen Bürstenstrichen des farbigen Gepäckträgers und gingen nach einander fort, wie es sie gerade ankam.

Gertrude war mit der Erwartung, eine schlaflose Nacht zu verbringen, zu Bett gegangen und schämte sich fast ihres gesunden Schlafes. Sie hatte noch nicht jenes Alter erreicht, in dem der Kummer, wie der Zimmermann in Heines Gedicht »Lieb Liebchen, leg's Händchen aufs Herze mein«, aus dem »Buch der Lieder«., die langen Nachtwachen hindurch am eigenen Sarge werkelt. Es tröstete sie die Gewissheit, dass sie etwas Gutes damit tue, die Brücken hinter sich zu verbrennen und den Anfang damit zu machen, dass sie, dem Ruf ihres Gewissens folgend, eine unglückliche Frau vor dem Elend rettete. Dieses verschwommene Gefühl von Heldentum hielt sie über Wasser; es verlieh ihren Sorgen eine interessante Note, so dass sie leichter zu ertragen waren.

Sie stand vor dem Spiegel am Waggonende, das vorübergehend für die Damen reserviert war, als sie jemanden ihren Namen nennen hörte. Sie erkannte sofort Alecks Stimme, und ihr Herz tat einen Sprung. Mit noch etwas wirrem Haar eilte sie zu einem schmalen Durchgang, der die Damentoiletten mit dem Hauptteil des Waggons verband, stieß mit Aleck zusammen, und bevor sie dessen gewahr wurde, hatte sie ihn schon geküsst, ein paar Tränen vergossen, auf konfuse Weise albern gelacht und war bis zu ihren Ohrspitzen errötet.

Aleck war ebenfalls rot geworden, lachte und erzählte scherzend wirren Unfug. Es war keiner sonst in der Nähe, und so konnte sie ihn gefahrlos noch einmal ans Herz drücken, ein bisschen weinen und ihm mitteilen, wie erfreut sie sei, sein liebes, gutes, ehrliches Gesicht zu sehen. Er hatte sich einen großspurigen gelben Schnurrbart stehen lassen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, und sie erklärte, dass er ihm außerordentlich gut stehe. Er lachte dazu ziemlich verlegen und zwirbelte den fraglichen Gegenstand in gespielter Anerkennung ihres Kompliments.

Gertrude war nie in ihrem Leben so froh gewesen, jemanden wieder zu sehen; und sie hatte sich nicht vorstellen können, dass jemand sie so liebevoll anschauen könnte wie Aleck in diesem Augenblick. Sie war also doch nicht ganz allein in der Welt; es gab einen, auf den sie sich verlassen konnte, der bereit war, ihr einen Teil ihrer Last abzunehmen.

Er setzte sich auf eines der Sofas und und wartete, bis sie ihre Toilette beendet hatte. In wenigen Augenblicken kehrte sie zurück; sie trug einen einen hübschen Gainsborough-Hut Siehe Anm. 24. mit großen schwarzen Federn und eine eng sitzende rehbraune Jacke, in der sie einfach hinreißend aussah. Ihr hübsches mädchenhaftes Gesicht mit seinen freimütigen, weit geöffneten, unerfahrenen Augen und jenem Ausdruck unbestimmter Erwartung erschien Aleck als Gipfel all dessen, was schön, süß und lieblich genannt zu werden verdiente. Ihr absolutes Vertrauen berührte ihn ebenso sehr, wie ihre Schönheit ihn in einen Rausch der Begeisterung versetzte. Hatte er sie nicht geduldig und hoffnungslos geliebt, so lange er sich erinnern konnte? Und da stand sie nun vor ihm wie eine junge Göttin, just dem Schaum der Meereswelle entstiegen Siehe die Stelle, die Hawks Privatzimmer beschreibt; auch dort gibt es das venusische Motiv der dem Meerschaum entsteigenden Göttin; ferner das Zimmer des Studenten Cottrell., um ihn aus seiner Verzweiflung zu erlösen und seinem erlahmten Ehrgeiz neues Leben einzuhauchen. Er wusste bis jetzt noch nichts von dem Bruch ihrer Beziehung mit dem Doktor; aber er genoss erfreut die Überzeugung, dass seine Prophezeiung sich bewahrheitet, dass sie ihren Fehler heraus gefunden, dass Hawk sich selbst demaskiert und so dem Untergang ausgeliefert hatte.

Die erste Gelegenheit, sich zu erklären, kam, als sie ihm ihren Gepäckschein aushändigte und ihn bat, sich um ihn zu kümmern.

»Wohin möchtest du den Koffer gebracht haben?« fragte er.

Sie zögerte vor der Antwort einen Augenblick.

»Zu meiner Mutter,« sagte sie ernst.

»Deiner Mutter?« wollte Aleck verwundert wissen; »ich dachte, deine Mutter sei tot?«

»Nein; sie lebt.«

»Und du hast mir nie von ihr erzählt?«

»Nein; Vater verbot es mir.«

»Ich glaube, du solltest besser erst einmal deine Mutter besuchen, bevor du dein Gepäck hinschickst. Ich werde den Schein behalten und damit nach deinem Wunsch verfahren.«

Sie verließen den schäbigen, schuppenartigen Bahnhof und gingen an Bord des Fährbootes. Es war, als sei ihm Gertrude plötzlich wieder entschlüpft, gerade als er ihr so köstlich nahe gewesen war. Diese mysteriöse Blutsverwandtschaft, über die er nie die kleinste Andeutung gehört hatte, flößte ihm unerfreuliche Gefühle ein. Er konnte nicht ganz an sie glauben, sie aber auch nicht vollkommen bezweifeln. Doch spürte er eine dunkle Feindseligkeit in sich gegenüber Gertrudes Mutter, wer oder was sie auch sein mochte. Gertie war so gutgläubig und romantisch. War es nicht möglich, dass eine Ränke schmiedende Abenteurerin sie ausnützte, um Geld von Mr. Larkin zu erpressen? Aleck entschied, sich zu ihrem Beschützer zu machen, selbst auf das Risiko hin, sie zu verärgern.

Sie saßen einige Augenblicke schweigend und schauten hinaus auf das graue Prangen des Flusses, bis die Sitze, unter denen die Dampfmaschine im Verborgenen arbeitete, so unangenehm wurden, dass sie gezwungen waren aufzustehen. Sie gingen aus dem Lokal hinaus und verloren fast ihr Gleichgewicht, als die Fähre gegen den geteerten Lattenzaun des Schlipps Der Slip oder Schlipp ist die schiefe Ebene am Landeplatz, um das Wasserfahrzeug an Land zu ziehen bzw. zu Wasser zu lassen. polterte, bevor sie den Anlegeplatz erreichte.

»Wo wohnt deine Mutter?« fragte Aleck ganz en passant, als sie das Tor des Fährhauses zur Straße durchschritten.

Gertrude zog den Brief aus der Tasche und zeigte ihm die Adresse.

»Möchtest du dorthin?«

»Ja.«

»Aber es ist erst acht Uhr.«

»Das ist egal.«

»Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mit komme?«

»N-ei-n. Oh, nein! Es ist nur ein ziemlich armseliger Ort, Aleck, eine heruntergekommene Mietskaserne, mit Ratten drin, die über einen hinweg kriechen. Und du darfst dich über nichts wundern, was du da siehst.«

»Nein, werd' ich nicht.«

Sie spürte, dass sie es nun, wo sie ihn zu fassen bekommen hatte, nicht ertragen würde, ihn wieder gehen zu lassen. Sie betrachtete das Treffen mit ihrer Mutter keineswegs mit freudigen Vorahnungen; im Gegenteil, alle möglichen dunklen Befürchtungen lauerten unbehaglich im Hintergrund ihrer Seele.

»Wär'st du nicht besser erst 'mal mit mir frühstücken gegangen, bevor du – den Besuch machst?« fragte Aleck vorsichtig nach einer Weile.

»Aber wäre das anständig?«

»Ich kann keine Unanständigkeit darin erkennen. Gefühlvolle Szenen schlagen einem doppelt auf den Magen. Lass uns zusammen im ›Brunswick‹ frühstücken; dann wirst du gegen alle Eventualitäten gestärkt sein.«

»Aber, Aleck, meine Mutter verhungert!«

Sie äußerte dies ziemlich teilnahmslos, als handle es sich um eine geometrische Formel oder eine moralische Maxime, die keine Wirkung auf Gefühle hat.

»Das ist kein Grund, dass du auch verhungerst,« sagte Aleck in derselben farblosen Manier; »wenn ich vorhabe, mein Herz auszuquetschen, dann nur auf solider Frühstücksgrundlage.«

Sie war froh, dass er sich über ihre Skrupel hinweg setzte, und erklomm ohne weiteren Einwand das erhöhte Bahngleis und stieg ein. An der Ecke 23rd Street 6th Avenue nahmen sie eine Droschke und wurden zu einem schicken Restaurant gefahren, auf deren Freskofriesen Leute des Mittelalters ausgelassen durch den goldenen Raum tanzten. Die ganze Sache umgab ein abenteuerliches Gefühl, das Gertrude, trotz ihrer Besorgnisse, mit gedämpfter Freude erfüllte. Sie hatte dann und wann immer noch Zweifel, ob sie überhaupt vollständig wach sei. Hier im tête-à-tête mit Aleck zu sitzen, dessen blaue Augen sie mit zärtlicher Ergebenheit anstrahlten; die köstliche Fremdartigkeit von allem zu empfinden, auf das ihr Auge traf – die mächtigen Wände und Decken, die köstlichen Gerichte, das erlesene Porzellan, die beflissenen französischen Kellner und das Getümmel der Umherziehenden auf der Straße draußen – es war wie ein Ausflug in ein Märchen: zu schön, um wahr zu sein.

Sie aß, sich ziemlich ihres Appetits schämend, eine reichliche Auswahl dessen, was auf der Speisekarte stand; die französischen Namen verleiteten sie, Sachen zu probieren, die sie eigentlich nicht wollte; aber die Fahrt über den Fluss und der Gang im Anschluss an die Fährfahrt hatten einen Heißhunger bei ihr hervorgerufen, der auf Gefühlskummer keine Rücksichten nahm.

»Auf jetzt, Aleck!« sagte sie traurig lachend. »Schick diesen furchtbaren Überredungskünstler von Kellner fort, sonst futtere ich dich in den Bankrott!«

Aleck gehorchte ohne lange Überredung, freilich nicht aus schäbigen Erwägungen, bezahlte glänzender Laune seine Rechnung und brach mit seiner hübschen Cousine in Richtung West 64th Street auf. Nachdem sie einige Blocks hinter sich gebracht hatten, wobei er ihre Handtasche trug, hielt er erneut eine Droschke an, und bald befanden sie sich in der von Gerties Brief angezeigten Gegend.

Es war nun etwas nach zehn Uhr, und das Wetter hatte sich aufgeklärt. Ein leichter Winternebel hing über dem Park, die Sonne war indes bereits über die Häuser der Ostseite aufgestiegen und beleuchtete den Rauch aus hundert Schornsteinen, der sich schnurstracks in die stille Luft erhob.

Aleck und Gertie waren beide überrascht von dem Haus, vor dem der Kutscher hielt. Es war ein großes, gepflegt aussehendes Mehrfamilienhaus mit sehr achtbarer Nachbarschaft und konnte beim besten Willen nicht als »Mietskaserne« beschrieben werden, viel weniger noch als heruntergekommene Bruchbude. Gertie zog noch einmal ihren Brief hervor und verschaffte sich Gewissheit, dass die Nummer stimmte. Wenn ihre Mutter nicht eine falsche Adresse angegeben hatte, konnte es keinen Zweifel geben.

Sie betrat mit Aleck die Vorhalle und musterte die mehr als ein Dutzend Namensschilder über den Klingeln. Über der zur dritten Etage befand sich ein grob gedrucktes Schild mit einem Wappen, das den Namen ›Comte Karlowitz‹ trug. Nach Beratung mit Aleck betätigte sie diese Klingel, denn es bestand die Möglichkeit, dass Mrs. Larkin fort gezogen war, oder dass sie bei einer anderen Familie wohnte. Die Haustür wurde durch unsichtbare Wirkung geöffnet und schloss sich wieder hinter ihnen. Gertrude war so erstaunt von diesem automatischen Betrieb, dass sie den Knauf ergriff und die Tür wieder auf zog. Sie war rot vor Erregung; aber als sie sah, wie Aleck sich wunderte, begann sie reumütig über ihre eigene Albernheit zu lachen. Sie stiegen zwei teppichbelegte Treppen empor und klingelten auf der linken Seite, wo das Schild mit dem Adelskrönchen hing.

Ein noch jung wirkender Mann in Hemdsärmeln und mit großem schwarzen Schnurrbart öffnete die Tür, streckte den Kopf heraus und fragte, was sie wollten. Er rauchte eine Zigarre von sehr feiner Sorte.

»Wir würden gern Mrs. Larkin sprechen,« sagte Aleck.

Der Mann zog seinen Kopf abrupt zurück und warf die Tür zu. Von drinnen hörte man eine Auseinandersetzung, zunächst gedämpft, dann lauter werdend. Eine quengelige weibliche Sopranstimme, die Gertrude bekannt vorkam, flehte um etwas, das ein rauher Bass offensichtlich ablehnte. Bald danach gab es einen Knall, als ob etwas geworfen oder umgekippt worden wäre, dann weiteres tränenreiches Flehen und am Ende Schweigen.

Gertrude stand da und lauschte mit sinkendem Mut. Die Vision über sie hinweg kriechender Ratten, die sie auf dem Weg verfolgt hatte, war weitaus weniger schrecklich als die Überzeugung, die sie jetzt beschlich, dass hinter dieser Tür ein schmachvolles Geheimnis verborgen war. Dass sie in ein solches hinein gezogen worden war, konnte sie nicht bezweifeln; nur war sie ratlos, welches Motiv dahinter steckte. Ihre Mutter hatte sie vielleicht nach ihrem früheren Verhalten beurteilt und deshalb nicht erwartet, dass sie ihrer Aufforderung Folge leisten würde, sondern gehofft, dass die Beschreibung ihres Elends weitere Geldzahlungen erbringen würde.

»Also,« sagte Aleck nach fünf Minuten geduldigen Wartens, »was meinst du? Sollen wir den ganzen Morgen hier zubringen?«

»Du musst bei mir bleiben, Aleck«, versetzte sie zitternd; »ich bin entschlossen, dem auf den Grund zu gehen. Klingel noch 'mal.«

Aleck klingelte, und die Antwort hörte sich an wie das Klappern von Geschirr und das Klingen von Gläsern. Jemand war anscheinend bemüht, die Räume in Ordnung zu bringen; und einige Minuten später öffnete der Mann mit dem Schnäuzer, eingehüllt in den Geruch seiner feinen Zigarre, mit ziemlichem Grinsen die Tür und entschuldigte sich, dass er sie habe warten lassen. Statt der Hemdsärmel trug er nun eine fadenscheinige Samtjacke. Sein grobes Gesicht hatte große Zähnen, hohe Wangenknochen, ein fliehendes Kinn und eine flache Stirn. Seine Wangen glänzten von frischer Rasur, und sein dichtes schwarzes Haar war scheitellos zurückgekämmt. Seine grauen Augen waren etwas blutunterlaufen und machten einen unbeschreiblich verbrauchten Eindruck. Eine perfektere Kombination von Brutalität und Schwäche, als diese Züge verrieten, war schwerlich denkbar. Etwas in seinem Benehmen – ein gewisser oberflächlicher Glanz und eine blumige Höflichkeit – ließ Aleck schlussfolgern, dass er früher Barbier oder vielleicht Kellner in einem schicken Restaurant gewesen war.

» Je vous demande mille pardons, monsieur, et madame,« begann er und verbeugte sich mit der Abruptheit eines Hampelmanns, »ah, Sie sprecke nix français? Mein Frau, sie nix wiss, was Sie sind. Sie komm rein? Sähr gutt. Sie kenn die Comtesse Karlowitz, ja? Es mak mik viel plaisir Sie hier zu seh.«

Schwatzend und sich ohne Unterlass verbeugend ging er voran in in einen ziemlich billig möblierten Salon, dessen stickige Luft von einem starken Opiumgeruch durchzogen war. Auf einem kleinen Marmortisch stand eine elegante Kaffeekanne, eine halbe Flasche Haute Sauterne und andere Überreste eines leichten französischen Frühstücks. Der Teppich, ein üppiger Axminster Teppiche aus der südwestenglischen Kleinstadt Axminster hatten seit Mitte des 18. Jh. weltweit wegen ihrer qualitativen Hochwertigkeit einen Ruf (und haben ihn bis heute); die Teppiche sind berühmt wegen ihrer samtigen Oberfläche., war verstaubt und befleckt. Hier und da lagen Champagnerkorken auf dem Boden, und unter einem Stuhl war eine schmutzige, zerknüllte Serviette zu sehen. Es hatte anscheinend am Vorabend in diesem Zimmer ein Gelage geben, und man hatte nicht genügend Zeit gehabt, seine letzten Spuren zu beseitigen.

»Sie sein Miss Larkin, ja?« sagte der höfliche Gastgeber und wies mit großartiger Geste auf einen Stuhl, auf den Gertrude nieder sank, weil ihre Knie so weich geworden waren, dass sie drohten, ihr den Dienst zu versagen.

»Ik bin Comte Karlowitz, Sie von mir gehören, ja? Ik bin Ihr Müttärs Ehgatt. Sie erlaub mik zu rauk? Die Comtesse, sie mak ihr toilette; geht ihr nix gut, non, nikt sähr gut,« sagte der ›Comte‹ schwermütig den Kopf schüttelnd, wobei seine Stimme klagend und mitfühlend wurde. »Sie hat sähr slekt Krankheit. Die Smerz – c'est affreux, mademoiselle, combien elle souffre – die Smerz rollt ihr zu ein Knot – oui, je vous assure sie hab sähr slim Smerz.«

Gertrude hatte während dieses bewegenden Vortrags ihren Mund nicht geöffnet; ein Schwindel überkam sie, sie konnte nicht glauben, dass das, was sie da sah und hörte, ganz und gar greifbare Realität war; sie fühlte sich entwürdigt, wenn sie ihm zuhörte, er erfüllte sie mit Abscheu.

Ihr Vater hatte also trotz allem Recht gehabt, und sie hatte sich kläglich geirrt, als sie seinen Rat in den Wind schlug. Dies war ein abgekartetes Spiel, um sie in die Falle zu locken, um Geld aus ihr heraus zu holen, und es geschah so schamlos, so durchsichtig, dass sie kaum begriff, wie sie das nicht hatte durchschauen können.

Comte Karlowitz, der bemerkt hatte, dass seine Eloquenz Gertrude keine Reaktion entlockte, wandte Aleck, der auf einem Stuhl am Fenster saß, seine Aufmerksamkeit zu.

»Sie sein der fiancé von Mademoiselle Larkin, monsieur?« hob er zu fragen an.

»Oh, nein; nichts der Art,« sagte Aleck errötend. »Ich bin ihr Cousin, und Mr. Larkins Neffe.«

»Ah, ja; der cousin; und Ihr Stellüng, wenn ik so frei sein dürf?«

»Ich bin Anwalt, und gegenwärtig auch Journalist.«

»Ah, ja, ein journaliste, je comprend. Sie komponier for die Zeitüng. Das sein ein grande Stellüng, der Stellüng von journaliste

»Das hängt davon ab, wie Sie sie betrachten. Sie hat großartige Möglichkeiten, wird jedoch nicht sehr großartig bezahlt, zumindest nicht in der Branche, in der ich tätig bin.«

»Ah, Sie mak mik überrasch, mais diese journalistes, sie mak groß Lärm. Sie verkauf Zeitüng – tausend Zeitüng – million Zeitüng; sie werd reik, sähr reik, sie bau palais, sie läb en prince, ja.«

»Also, dahin bin ich noch nicht ganz gekommen,« entgegnete Aleck lächelnd. »Ich muss meine Paläste vorläufig in die Luft bauen, weil das für mich das billigste Material ist.«

Dem Comte entging die Pointe dieser Bemerkung, er gab jedoch vor, sie hoch interessant zu finden.

»Sie sag, Bau sein billik en Amérique,« stieß er zweifelnd hervor, » mais non der Miet, le loyer de maison nix sein billik. Ein Mann läb en prince in France was zahl for Haus in Amérique

Dieselbe wehleidige Stimme, die Gertrude zuvor gehört hatte, rief nun den Comte, und er stand auf und öffnete die Falttür zum angrenzenden Zimmer. Mit seinem eigentümlich federnden Schritt, der eine übertriebene Aufgeweckheit ausdrückte, betrat er das Schlafzimmer und kehrte alsbald zurück, um sich Gertrude mit einer Verbeugung mitzuteilen:

»Miss Larkin, Ihr Müttär mökt hab die plaisir Sie zu seh.«

Gertrude stand widerstrebend auf und schaute Aleck flehend an.

»Kann mein Cousin mit kommen?« fragte sie.

»Nein, Ihr Müttär – sie hab viel Smerz; sie leid sähr viel. Sie seh Sie seule – wie sag Sie? – sie seh Sie mit sik selb.«

Der Geruch von Drogen war überwältigend im benachbarten Zimmer, als Gertrude es betrat. Die Luft war so stickig, dass sie um Atem ringen musste. Es war die Luft eines Krankenlagers, tot, bedrückend und schwül. Ringsum war zu erkennen, dass man sich hastig bemüht hatte, Ordnung zu schaffen; ein Berg weiblicher Kleidung lag jedoch aufgehäuft auf einem Sofa, und alles, worauf das Auge des jungen Mädchens traf, war schmutzig und unordentlich. Ein großes Fenster wies auf einen Hof; aber das Rouleau war herabgezogen und ließ den Raum im Dämmerlicht. Vom hellen Wohnraum kommend, konnte Gertrude sich nicht sofort auf das Halbdunkel umstellen, und sie brauchte einige Sekunden, um zu entdecken, dass der Comte die Tür hinter ihr geschlossen hatte und neben ihr stand. Ein schreckliche Angst ergriff sie; sie besaß indes genügend Selbstbeherrschung, sie nicht zu verraten.

»Öffnen Sie bitte die Tür,« sagte ruhig.

» Mais die Likt, sie smerz die Aug von Ihr Müttär.«

»Egal, öffnen Sie die Tür, und ich möchte, dass Sie gehen.«

» Mais, mademoiselle, ik sein die Ehgatt von Ihr Müttär …«

»Das ist mir egal! Gehen Sie hinaus! Oder ich rufe meinen Cousin!«

Der Comte zögerte einen Moment, als wolle er ihr Zeit geben, ein so unvernünftiges Begehren zu überdenken. Als er dann ihre Entschlossenheit erkannte, hob er zweifelnd seinen Kopf, spreizte seine Hände und sagte mit ausdruckvollem Schulterzucken: » Comme vous voudrez, mademoiselle,« und öffnete die Tür.

Gertie warf, sobald er sie verlassen hatte, einen Blick über ihre Schulter, versicherte sich, dass Aleck sich noch nebenan in Rufweite aufhielt, und schritt dann vorsichtig bis in die Zimmermitte vor. In einem großen Mahagonibett entdeckte sie die Umrisse eines dunklen menschlichen Kopfs auf einem Kissen; und sie vernahm ein schweres, röchelndes Atmen. Als sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, bemerkte sie auch, dass ein paar glasige Augen verschwommen auf sie geheftet waren. Mit einem Gefühl unerträglicher Bedrückung trat sie an das Bett; sie glaubte aufschreien zu müssen, vermochte es jedoch nicht. Ihre ganze Seele war bis in ihre Tiefen hinab aufgewühlt; nach außen aber zeigte sie eine albtraumartige Ruhe, die zu durchbrechen sie nicht die Kraft besaß.

»Setz dich, mein Kind,« kam es in röchelndem Flüstern von dem Kissen; »ich habe auf dich gewartet. Ich konnte nicht sterben, ohne dich noch einmal gesehen zu haben.«

Gertrude war nicht herzlos; sie war im Gegenteil gefühlvoll und warmherzig, und die Tränen kamen ihr leicht. Wenn sie keine Erinnerung an den lebhaften Streit gehabt hätte, den sie vor nur wenigen Minuten von der Halle aus gehört hatte, wäre sie ganz voller Gram und Zärtlichkeit gewesen. Aber nachdem einmal ihr Verdacht geweckt war, konnte sie ihn nicht mehr zur Ruhe bringen. Sie war überzeugt, dass dieses eindrucksvolle mise-en-scène nur erfunden war, um sie zu rühren, und die eigentliche Krankheit und die Symptome nahender Auflösung nur Vortäuschung und Lüge zu schmutzigen Zwecken darstellten. Es erleichterte sie der Gedanke, dass ihre Mutter der Herrschaft dieses schrecklichen Mann verfallen war, der sie gezwungen hatte, diesen verlogenen Brief an sie zu schreiben, und damit die Verantwortung trug für diese letzte grausame Farçe.

»Weiß dein Vater, dass du hier bist,« flüsterte die Kranke, deren dunkle Augen allmählich lebhafteres Bewusstsein bekundeten.

»Ja,« antwortete Gertrude.

»War er mit deinem Kommen einverstanden?«

»Nein.«

»Was hat er gesagt?«

»Er sagte, ich sollte nicht mehr zurück kommen. Er will mich nicht mehr sehen.«

Die Traurigkeit der Situation ergriff sie mit überwältigender Macht, als sie diese Worte äußerte, und die Tränen rannen ihre die Wangen hinab. Ihre Mutter seufzte schwer, sagte jedoch nichts. Gertrude bemerkte schmerzlich, wie ungesund sie aussah. Die schwarzen Ringe um ihre Augen waren größer und dunkler als je, und alle Falten ihres Gesichts wirkten sonderbar und absolut unheimlich. Ihre Haut zwischen diesen Falten hatte keine winzigen Runzeln, war aber gläsern aufgedunsen, und die dunklen, verschwommenen Pupillen ihrer Augen füllte, unmerklich in die Iris übergehend, die gesamte Öffnung der Lider.

»Gib mir deine Hand,« murmelte sie nach einer Weile; und Gertrude gehorchte, obwohl sie vor dieser Berührung zurück schreckte. Sie vermochte freilich nicht einen Schauder zu unterdrücken, der sie von Kopf bis Fuß schüttelte, als ihre kühle gesunde Hand mit der heißen, breiigen, samtigen Handfläche der Kranken in Kontakt kam.

»Ich möchte dir erzählen, Gertrude,« fuhr Letztere wehleidig murmelnd fort, »wie schändlich dein Vater mich misshandelt hat.«

»Nein, nein,« rief das Mädchen ungeduldig; »das hast du mir schon 'mal erzählt.«

»Ich habe dir nicht die Hälfte von dem erzählt, was ich gelitten habe.«

»Aber ich will es nicht wissen. Ich will nicht, dass du schlecht von meinem Vater sprichst.«

»Dann liebst du ihn etwa?«

In dieser Frage lag unversehens eine gehässige Energie, die sich von dem vorangegangenen hinwegsterbenden Gemurmel stark abhob.

»Ja, ich liebe ihn,« antwortete Gertrude auffallend ernst.

»O mein Gott,« seufzte die rasch neubelebte Comtesse, »dass ich ein Kind auf die Welt gebracht habe, das den Mörder ihrer Mutter liebt.«

Sie drehte sich zur Wand und fing hysterisch an zu weinen. Gertrude stand, mit einem stechenden Schmerz in ihrem Herzen auf sie starrend, daneben, ohne im Geringsten von Mitgefühl ergriffen zu sein. Sie konnte kaum glauben, dass dies da ihre Mutter sein sollte, der sie ihr Leben verdankte und mit der sie durch die engsten, heiligsten Bande verknüpft war. Eine dumpfe, fühllose Schwere legte sich auf ihr Gemüt und machte sie unempfindlich gegen jede Regung. Sie hatte nur einen einzigen Wunsch, und der war fort zu gehen. Wenn sie doch nur eine Ausrede finden könnte, um das Gespräch zu unterbrechen, so würde sie keinen Augenblick länger verweilen. Es kam ihr vor wie ein Ewigkeit, seit sie diesen schrecklichen Ort betreten hatte, und sie bildete sich ein, dass sie langsam mit dessen Gift durchtränkt wurde. Sie sehnte sich danach, hinaus in die reine, selige Luft und das helle, freie Himmelslicht zu kommen.

Aber der Gedanke an das Geheimnis, das sie in Erfahrung bringen musste, hielt sie irgendwie ab; und so schaute sie mit unentschlossenem Blick über sie hin und fragte sich, ob sie Mut fassen und sich los reißen sollte. Einem blinden Impulse gehorchend ging sie zum Fenster und zog das Rouleau halb auf, und der Anblick der sonnenbeschienenen Welt draußen entzündete ihre Energie. Ihr wurde in diesem Moment klar, dass das Geheimnis eine bösartige Erfindung sein könnte, die ihr Leben nur beunruhigen und unglücklich machen würde – und die, weil man ihre Wahrheit nicht überprüfen konnte, quälendem Grübeln nur frische Nahrung gäbe. Sie entschied, sich dieses Geheimnisses unter allen Umständen zu erwehren. Ein dunkles Pflichtgefühl protestierte schwach gegen diesen Entschluss, konnte sich aber nicht durchsetzen. Sie wandte sich wieder dem Bett zu, nahm die schlaffe Hand ihrer Mutter und sagte: »Leb wohl.«

Die Comtesse richtete sich zu einer halb sitzenden Stellung auf, mit einer unüberlegten Energie, die sie im nächsten Moment bereute; denn sie sank stöhnend zurück in die Kissen und wimmerte:

»Oh, du darfst mich nicht verlassen, Gertrude. Du musst bei mir bleiben und meine sterbenden Augen schließen. Ich habe nicht mehr viele Tage hier auf Erden.«

»Tut mir leid,« entgegnete Gertrude fest,« das kann ich nicht.«

Sie bemühte sich, diese peinigende Unterhaltung abzukürzen, und ging rasch zur Tür.

»Oh, ich wusste es,« schrie ihr die Mutter hinterher; »du bist genauso grausam und herzlos wie dein Vater. Du bist wie er; du trittst ein blutendes Herz mit Füßen; du …«

Zwei oder drei weitere Anschuldigungen wurden ihr in kreischendem Crescendo hinterher geschleudert, aber Gertrude hörte sie nicht mehr.

Der Comte sah, dass seine Frau in Hysterie zu verfallen begann, zog die Falttür zu und schob einen Stuhl hin, auf den zu setzen er Gertrude einlud. Sie ignorierte indes diese Einladung, und Aleck, der nicht weniger darauf aus war zu gehen, stand auf und griff nach Stock und Hut.

»Sie bleib, un moment und sprek mit mik, mademoiselle?« begann Comte Karlowitz mit seinem unterwürfigen Grinsen.

»Nein, danke,« versetzte Gertrude, »ich muss gehen.«

» Mais, mademoiselle, Sie geb monaye mit mik for Ihr Müttär? Sie hab nix monaye, non. Ik hab monaye in Polen, aber mon Brüdär – er versprek zu send, aber er nix send. Ik wart lang temps; aber er lass mik desolé – nix Freund, nix monaye, kein gar nix in fremde Land.«

Seine Rede begleitete die lebhafteste Gestikulation, um seinen Ärger über die Verlogenheit seines Bruders und seine äußerste Trostlosigkeit zu demonstrieren. Gertrude war auf ein solches Verlangen durchaus vorbereitet; sie öffnete ihre Börse, in der allerdings nur zehn Dollar steckten. Sie schämte sich etwas, nur einen so kleinen Betrag anbieten zu können, ließ nichtsdestoweniger zwei Fünf-Dollar-Scheine fast entschuldigend auf den Tisch fallen. Der Comte hob sie auf, schaute sie höchst enttäuscht an und ließ sie wieder auf den Tisch sinken.

» Mais, mademoiselle,« sagte er im tadelnden Ton beleidigter Würde; »Sie mak mik sähr traurik. Zehn dollares, das ik nix erwart von Tokter for ein Müttär. Sie hab sähr böse Smerz – Ihr Müttär – und brauk medicine, sähr teuer medicine, und sie hab nix monaye

Er richtete sich mit dieser einleuchtenden Beschwerde an Gertrude, wandte sich aber zugleich stets an Aleck, als rufe er ihn zum Zeugen an für die vollständige Angemessenheit seiner Ansprüche. Aleck hingegen nahm an, dass er in das Gesuch um weitere Zahlungen einbezogen sei, und fügte, zum Teil, um Gertrudes Selbstachtung wiederherzustellen, zum Teil, um der peinlichen Szene ein Ende zu machen, den beiden verlegenen Fünfern noch einen Zwanzig-Dollar-Schein hinzu. Der Comte, dessen Erwartung bei Alecks Griff in seine Tasche offensichtlich hochgeschnellt war, nahm die Banknote mit Daumen und Zeigefinger auf und lachte verächtlich.

»Die americains,« stieß er mit einer Gebärde vorgetäuschten Respekts hervor, »sein grande Leut. Sie hab dreißig dollares for Trän und Stöhn und Smerz von sterbende Müttär. Sie hab …«

Aleck fand, dass diese Komödie nun weit genug gegangen war und ließ den Comte nicht vollenden.

»Ich muss Sie bitten,« unterbrach er mit wütend aufblitzenden Augen, »in Gegenwart dieser Dame Ihre Zunge im Zaum zu halten.«

»Sie hab insolence mik bitt zu halt mein Zung?« schrie der Pole in steigendem Zorn. »Ik Sie lern zu sprek die Art zu ein noble Mann!«

Aleck war es während dieser Tirade gelungen, die Tür aufzureißen und mit Gertrude hinaus ins Treppenhaus zu gelangen. Sie beeilten sich, die Stufen hinab zu steigen, während der Comte sich über das Geländer lehnte und ihnen die vulgärsten Pöbeleien hinterher schleuderte. Sie bestiegen die Droschke, die auf der Straße wartete, und saßen sprachlos da, in Schweigen einander anstarrend, während die Räder über das Pflaster rasselten.



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