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XV.
Maiblumen.

Ein tiefer, klaffender Spalt in der Erde, Zeugnis eines gewaltigen Erdbebens in vorgeschichtlicher Zeit, mit seinen rauhen Kanten, von zehntausend Sommern und Wintern ziemlich abgenutzt – das war die ›Trommelfell‹-Schlucht. In ihren großartigen Konturen entsprachen ihre beiden Seiten einander: die Ausbuchtung der einen passte in die Vertiefung der anderen; indes hatte der Zahn der Zeit (und er ist ein sehr harter Zahn) das ursprüngliche Antlitz des Felsens bis zur Unkenntlichkeit zerrissen und zerfleischt. Wind und Wetter hatten ihn zerkratzt und zerfurcht; die Kälte hatte sein Herz durchbohrt und ihn auseinander gebrochen, und ein zarter Frühling, in seinem Umgang mit dem Felsen der härteste Kunde von allen, hatte ihn vollständig entblößt, ja, ihm sogar seine Haut abgezogen und sie zusammen mit seiner übrigen Beute hinunter auf den Grund der Schlucht befördert. Der Sommer hatte in seiner Verschämtheit den Felsen, wie Joseph, mit einem vielfarbigen Mantel bekleidet Im alten Testament erhält Joseph von seinem Vater Jakob zum Zeichen, dass dieser ihn, weil er das Kind seines Alters ist, mehr als seine anderen Kinder liebt, einen Mantel von vielen Farben (Genesis 37, 3). Die Bezeichnung »von vielen Farben« geht allerdings auf die griechische Übersetzung des hebräischen Originals zurück, nach welchem eher von »reicher Ornamentierung« zu sprechen wäre. In der Luther-Bibel von 1912 ist an der betreffenden Stelle von einem »bunten Rock« die Rede, ähnlich die »Elberfelder Übersetzung« (»bunter Leibrock«), während die aktuelle »Einheitsübersetzung« nur einen »Ärmelrock« erwähnt. – aus dunkelgrünem Moos und gelben, braunen und scharlachroten Flechten. In einer phantastischen Laune zierte er seinen Kopf mit einem riesigen Gefieder aus Farn, das in üppiger Fülle wuchs und prächtig anzuschauen war. All diese schönen Dinge gingen jedoch zu Grunde, und ihr Tod wurde zur Basis neuen Lebens. Die lange Prozession der Zeitalter mit ihrem grandiosen Wechselspiel von Aufstieg und Niedergang zog über das Antlitz des Felsens, vereiste und versengte ihn, entblößte und bekleidete ihn, erschütterte, brach, scheuerte und schrammte ihn, ja, unternahm sogar eine Reihe kosmischer Versuche mit ihm, die ihn so zurück ließen, wie man ihn heutzutage kennt.

Kiefer, Tanne, Eiche und Ahorn führen nun einen stillen, aber erbitterten Kampf um den Besitz des Felsens. An vielen Orten sieht man Kiefer und Eiche in tödlicher Schlacht genau am Rande des Abgrunds; es wirkt, als unterläge die Kiefer, denn sie hängt schon über der Kluft, während die Eiche mit ihren knorrigen Greifern sie an ihrem Haar fest zu halten scheint und dabei überlegt, ob sie los lassen soll. Verzweifelt klammert sich die Kiefer an den Felsen, und wenn es nicht diesen kleinen Bach gegeben hätte, der aus purer Neugier – bloß um den Kampf zu sehen – zwischen ihre Wurzeln gerieselt war, hätte sie sich vielleicht noch viele Jahre behaupten können.

Gertrude Larkin starrte unschuldigen Blicks auf diese fesselnde Seite der Erdgeschichte. Hätte sie von den gewaltigen Mächten, die miteinander rangen, gewusst, hätte sie nur die geringste Ahnung des wundervollen Dramas gehabt, das um sie her ablief, so hätte sie niemals, nicht einmal in übler Laune, die Schlucht langweilig genannt. Sie wusste etwas über Cicero und Virgil (einen Nutzen solchen Wissens hatte sie noch nicht entdeckt); sie konnte ganz gut Französisch, und sie hatte eine nebulöse Erinnerung an einen Alptraum namens ›Moralphilosophie‹. Und nun ging sie hier im Frühling einher, zu Tode erschöpft und ausgehungert im Geist, weil ihre Erziehung es nicht vermocht hatte, ihre Sinne zu öffnen und sie mit der lebendigen Wirklichkeit zu verknüpfen. Und doch fand jeder starke oder schöne Gedanke in ihr eine feine Resonanz. Sie hätte frohlockt über die Geschichte des großen, unerbittlichen Krieges in der Natur – der endlosen Schlacht um das arme Vorrecht des Lebens, die im Felsen, im Boden, im Wasser und in der Luft geführt wurde, – wenn sie denn die Sprache gekannt hätte, in der sie geschrieben war.

Gertrude dachte an das, was ihr der Pfarrer gesagt hatte, und beachtete bloß mechanisch die Schwierigkeiten, die ihr der zerklüftete Weg bot. Dann und wann ergriff sie einen tief hängenden Zweig oder stützte sich an einem Baumstamm ab, wenn ihr ein Stein unter den Füßen fort rollte und auf dem Weg zum Fluss eine kleine Lawine in Bewegung setzte. Ein harziger Duft entströmte den schwitzenden Kiefern, und die schwellenden Knospen von Ahorn und Eichen trugen auch ein schwaches balsamisches Aroma bei. Die Weinrosen spreizten ihre dornige Blöße gegen die Sonne und erröteten bis in die Fingerspitzen. Der braune Teppich letztjährigen Blattwerks lag feucht und verschimmelt unter der obersten Erdschicht und wurde hier und da von einer großen purpurnen Knospe erhoben, fest umschlossen wie von einer Faust, durchflutet von wucherndem Leben und klebrig von üppigen, übel riechenden Säften.

Es war ein mühseliger Pfad, der sich in allen möglichen launenhaften Biegungen den Fels auf und nieder wand, am Wasser entlang und über verrottete Stämme, die zeitweilige Tümpel überbrückten. Gertrude hielt ein halbes Dutzend Mal an und überlegte, ob sie kehrt machen sollte; aber in ihrem Blut pochte ein vages Mitgefühl mit dem erwachenden Leben um sie her und drängte sie ziellos weiter. Der kleine Korb in ihrer Hand erinnerte sie daran, dass sie aufgebrochen war, um angeblich Maiblumen zu suchen; und so beugte sie sich nieder zum Geröll und begann das tote Laub zu durchwühlen. Schlingpflanzen fand sie viele, aber Blumen gab es nicht. Nur ein paar weiße und blaue Anemonen lugten unter den Baumwurzeln hervor, und eine Waldlilie balancierte auf ihrem grünen Stengel ein einzelnes grünes Blatt, oberhalb dessen die weiße Blüte wippte. Es war offenkundig, dass jemand vor ihr da gewesen war, denn es zeichneten sich frische Spuren in der lockeren Erde ab; die aufwärts gedrehten Blätter waren dennoch kalt und feucht.

»Diese verflixten Ko-eds Der Ausdruck Co-ed, um 1885-90 entstanden, bezeichnete in den USA ein Mitglied des weiblichen Geschlechts, das ein koedukatives College bzw. eine koedukative Universität besuchte; die Bezeichnung wurde überwiegend abwertend gebraucht, wie dies auch in früheren Kapiteln des Romans bei der vollständigen Form bereits der Fall ist (›koedukative Damen bzw. Fräulein‹).,« murmelte ›Gertrude; »sie wittern eine Blume wie der Hund einen Hasen.«

Sie pflückte etwas enttäuscht die Anemonen und die Waldlilie und wollte gerade den Pfad zurück gehen, als sie plötzlich eine gebeugte Gestalt inmitten der Steine etwa fünfzehn Meter über ihr entdeckte. Es war ein Mann, und er war, soweit sie es erkennen konnte, allein. Dass ein Mann allein zur Suche nach Wildblumen aufbrechen sollte, erschien sonderbar, und sie kannte nur einen Mann in Torryville, der dessen fähig war. Wollte sie Dr. Hawk hier begegnen nach dem, was zwischen ihnen geschehen war? Aber wer in aller Welt konnte es sein, für den er Blumen pflückte? Er pflückte sie bestimmt nicht für sich selbst; das wäre sogar für ihn zu absurd gewesen. War es für seine Verlobte – das Mädchen, das seine Zuneigung durch Vorkaufsrecht gegenüber allen Anspruchsberechtigten erworben hatte? Vielleicht hatte der Doktor noch etwas anderes in der Hinterhand; vielleicht spielte er verdeckt mit seiner Verlobten und befriedigte lediglich seinen Hang zum Dramatischen, indem er kleine vorsichtige Liebesszenen mit seinen Patientinnen inszenierte.

Gertrude errötete vor Wut bei diesem Verdacht und entschloss sich, ihren Anbeter zur Rechenschaft zu ziehen. Aber welches Recht besaß sie hierzu? Er hatte niemals erklärt, dass er sie liebe, hatte sie nie gebeten, ihn zu heiraten. War es nicht möglich, dass ihre überreizte Phantasie diese ganze Romanze gesponnen hatte, indem sie die Handlungen des Doktors einer allzu geistreichen Deutung unterwarf? Dies war eine Möglichkeit, die mit erneuter Demütigung aufwartete.

Sie war darauf bedacht, dem Doktor auszuweichen, und hoffte doch in den unergründlichen Tiefen ihres Gemüts, damit keinen Erfolg zu haben. Es gab nichts, was sie abhalten konnte, heimzukehren, und sie würde es vielleicht auch getan haben, hätte sie nicht die Gestalt einer fremden Frau unten am Pfad beim Bach entdeckt. Ein seltsamer Widerwille, dieser Frau zu begegnen, bemächtigt sich ihrer; sie war oft Impulsen dieser Art ausgeliefert und versuchte nie, sich darüber Rechenschaft abzulegen. Sie hüpfte rasch von Stein zu Stein und erreichte die gewundene Holzbrücke, die zur oberen Felsterrasse führte. Hier vollführte der Wasserfall ein fortwährendes Dröhnen wie von schwerer Artillerie, und die Gischt sprühte in weißen Schwaden durch die Baumgipfel. Der Wildbach brodelte und schäumte, sich verzweifelt in dem glatten schwarzen Kessel windend, und stürzte schließlich zischend über die braunen Rollsteine.

Gertrude war von diesem Spektakel so gefesselt, dass sie die Frau, der sie zu entkommen gewünscht hatte, ganz vergaß; sie stieß einen schwachen Schrei aus, als sie bemerkte, dass sie am Fuß der Treppe stand. Einem irrationalen Angstimpuls nachgebend, rannte sie zwanzig oder dreißig Stufen hinauf, hielt ein, um Luft zu holen, und warf sich am Ende unter eine Kiefer, die nahe dem Mühlbach wuchs. Ein kleine Mühle befand sich hier und ein Damm, der auf allen Seiten von braunem Wasser überfloss. Die Sonne war ziemlich warm und der Dampf aus der Erde köstlich – voll von zündendem Leben und schöpferischer Unruhe.

Gertrude saß da und starrte träge auf die langsamen Ströme, die tote Blätter und Zweige an den Rand des Dammes trugen, auf den luftigen Schaum und die Blasen, die sich um die Steine am Ufer sammelten, dann wieder getrennt wurden und auf einem kapriziösen Wirbel davon segelten. Das schien in dem einen Augenblick so schön – und im nächsten unaussprechlich trostlos. Die Bäume streckten ihre mageren Hände zum Himmel, beteten um Sonne und Sommer, und sie beteten nicht vergebens, denn die starken Säfte stiegen in ihnen auf und ihre Knospen begannen zu schwellen.

Während Gertrude so in Nachsinnen versunken da saß, spürte sie die Gegenwart von etwas Unbekanntem, und rasch sich umwendend sah sie die fremde Frau am Kopf der Treppe stehen und sie mit ernster Entschlossenheit anstarren. Die Frau umgab eine gewisse Eleganz, die freilich verblasst war und an Schäbigkeit grenzte. Sie trug ein schwarzes Kleid, das keine Anstalten machte, sein Alter zu verschleiern, ein schick geschnittenes, aber sehr fleckiges und beschmutztes Jackett, und einen ziemlich protzigen, jugendlich wirkenden Hut, der jedoch einen ramponierten und verschlissenen Eindruck machte. Ihr gesamter Aufzug hatte etwas undefinierbar Zerzaustes, Derangiertes – als ob sie in ihren Kleidern geschlafen hätte. Auch ihr Gesicht, das einst hübsch gewesen sein musste, zeugte von Zerstörung. Ihre Züge waren groß und rundlich, aber einwandfrei geformt; nur die dunklen Ringe um die Augen und die tiefgelbe Blässe ihres Teints verdarben jeden Anspruch, den sie auf Schönheit sonst hätte erheben können. Allein ihr blondes Haar mit seinen Locken und Stirnfransen besaß einen reichen lohfarbenen Glanz, als habe es den armen Kopf, auf dem es wuchs, seiner letzten Kraft beraubt. Mehr als alles andere beeindruckten Gertrude freilich die Augen der Frau, deren Pupillen übermäßig groß waren und unmerklich ins Schwarz der Iris übergingen. Sie wirkten stumpf und ausgebrannt und wechselweise wunderlich und anziehend.

Eine schreckliche Bedrücktheit überkam das Mädchen, eine Art gebannter Ruhe, als ob ihre Gliedmaßen tot oder zu schwer für Bewegung wären. Sie schaute fort, über das Wasser, und dort schien eine furchtbar grimmige Hartnäckigkeit in seinem unablässigen Strömen und Wirbeln zu herrschen. Sie sah, wie die Frau sich ihr näherte, mit furchtsam zögernden Schritten und mit einem erzwungenen, verkümmerten Lächeln, das ihr Entsetzen einflößte.

»Sie werden mich vielleicht entschuldigen,« hörte sie sie sagen (doch ihre Stimme klang körperlos von weit her); »ich nahm mir die Freiheit, Ihnen zu folgen, weil ich mit Ihnen sprechen wollte.«

Gertrudes Kopf durchzuckte der Gedanke, dass die Frau eine Erpresserin sei, die sie gegen eine Geldforderung damit bedrohte, fiktive Geheimnisse zu enthüllen. Sie tröstete sich daher mit dem Gedanken, dass sie, wie sie wusste, nicht allein in der Schlucht sei und dass sie, wenn sie ihre Stimme über das Wasserrauschen hinweg hörbar machte, notfalls vielleicht Dr. Hawk zu Hilfe rufen könnte. Sie schaute unbehaglich die Schlucht hinab in der Hoffnung, den Doktor die Stufen neben dem Wasserfall heraufsteigen zu sehen.

»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben,« fuhr das fremde Geschöpf mit demselben peinigenden Lächeln fort; »ich werde Ihnen nichts tun. Ich bin eine arme Frau, die bessere Tage gesehen hat – ja, meine Liebe – das habe ich – Gott helfe mir!«

Sie stieß einen Seufzer aus, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Ich weiß nicht, was ich für Sie tun könnte,« zwang Gertrude sich zu antworten; »aber wenn Sie mit mir sprechen wollen, sollten Sie mich zu Hause aufsuchen; ich mag es nicht, wenn Leute mich auf diesem Weg verfolgen.«

»Es war um Ihretwillen, meine Liebe, dass ich Sie nicht zu Hause aufsuchte. Sie halten mich zweifellos für seltsam; nun ja: vielleicht bin ich es. Aber Sie, meine Liebe – wollen Sie mir nicht gestatten, Ihre Hand zu halten – nur für einen Augenblick, wissen Sie – –«

Sie setzte sich auf den feuchten Kiefernadelteppich dicht neben Gertrude und versuchte mit einem leicht hysterischen Lachen ihre Hand zu ergreifen. Doch das Mädchen, nun gründlich erschreckt, sprang mit einem Schrei auf und wäre die Schlucht hinunter gerannt, wenn nicht die Steilheit und Schlüpfrigkeit des Pfades hastige Bewegungen gefährlich gemacht hätten. So bremste sie ihren Impuls mit einer Willensanstrengung und blieb stehen, ängstlich und wachsam wie ein Vogel, bevor er die Flucht ergreift.

»Wenn Sie mich nicht in Ruhe lassen,« sagte sie empört, »werde ich um Hilfe rufen.«

Die Frau rappelte sich mit einiger Schwierigkeit mühsam auf die Beine, und Gertrude bemerkte, als sie neben ihr stand, dass sie genau ihre Gestalt und Größe besaß. Sie starrten einander eine Minute schweigend an, die Frau, weil sie außer Atem war von der Anstrengung des Aufstehens, Gertrud, weil sie weiteren Verkehr unterbinden wollte.

»Meine Liebe,« begann erstere mit einer wunderlichen Gebärde, die äußerste Nervosität verriet, »ich bin für Sie natürlich nur eine Fremde – ich bin nur eine Fremde, wollte ich sagen – aber wenn Sie wüssten, wie ich gelitten habe – –«

Sie vergoss einige Tränen, durchsuchte ihre Tasche und zog ein unsauberes Spitzentaschentuch hervor, das sie an ihre Augen führte.

»Ich bedauere, dass Sie gelitten haben,« antwortete Gertrude ein wenig besänftigt, »und wenn ich etwas für Sie tun kann,« fügte sie hastig hinzu – –

»Ja, Sie können etwas für mich tun,« unterbrach die andere eifrig; »würden Sie – würden Sie – ich möchte nicht zudringlich erscheinen – aber ich kann nicht anders – wenn Sie nur wüssten – ich habe so viel gelitten – ich habe so viele Male um den Tod als größte Gnade gebetet – und ich bin so grausam behandelt worden – von denen, deren Freundlichkeit und Liebe ich zu Recht erwarten durfte – von einem, dem ich mein junges Herz schenkte – und er brach es und vernichtete es – und trat darauf herum – und ich fühle mich so elend. Und der einzige auf Erden, den ich geliebt habe, er nahm mir – mein einziges Kind weg – meine einzige Tochter – das einzige Geschöpf, das ich geliebt habe – den einzigen Trost, der mir geblieben war, hat er mir gestohlen – grausam – in der Nacht.«

Sie weinte nun heftig, und während ihre Tränen ungehindert flossen, griff sie wieder in ihre Tasche und brachte daraus sogleich einen stark abgenutzten, zerknitterten Brief hervor. Sie beendete jäh ihr Wehklagen, und mit fast verlegener Miene schaute sie von Gertrud auf den Brief, den sie zwei- oder dreimal umwandte und mit ihren Händen glatt strich.

»Meine Liebe,« sagte sie mit ihrem seltsamen nervösen Lächeln, »haben Sie je Ihre Mutter kennen gelernt?«

Gertrude fühlte, wie sich ihr Hals zusammen zog und ihr ganzer Körper niedergedrückt und taub wurde. Sie starrte stumm die fremde Frau an und erwartete etwas Schreckliches, das bestimmt kommen würde.

»Sie haben sie nie kennen gelernt? Sie haben keine Erinnerung an sie? Nun, das wundert mich nicht. Sie waren erst vier Jahre alt, als man sie weg nahm.«

Das war es also, was sie befürchtet hatte. Die Frau besaß eine Verbindung zu ihrem vergangenen Leben, war sogar vielleicht – nein, nein, sie vermochte den Gedanken nicht zu ertragen – er schien so unglaublich, so fürchterlich! Dennoch setzte sich die Überzeugung immer tiefer in ihr fest, dass das Rätsel ihrer Herkunft vor seiner Lösung stand.

»Meine Mutter ist tot,« zwang sie sich zu sagen; »ich weiß, dass sie tot ist.«

»Nein, meine Liebe, sie ist nicht tot, obwohl sie tausend Mal gewünscht hat, es zu sein,« rief ihre Gesprächspartnerin hysterisch; »schauen Sie sich diesen Brief an – schauen Sie ihn an – spreche ich die Wahrheit oder nicht? Was besagt dies? Lesen Sie ihn, meine Liebe, lesen Sie! Ich habe keine Angst davor, dass Sie die Wahrheit kennen lernen. Gott ist der Richter zwischen mir und ihm – Gott ist mein Zeuge, dass er dich mir gestohlen hat – wie ein Dieb in der Nacht – riss er das weinende Kind vom blutenden Herzen der Mutter; das hat er getan, meine Liebe, und Gott ist mein Zeuge, und ich bin seine gesetzliche Ehefrau. Ich gab ihm meine unschuldige junge Liebe, und das habe ich dafür von ihm bekommen; er missbrauchte mich und schlug mich und stahl mir mein Kind – –«

Sie fuhr mehrere Minuten in dieser Weise fort, begleitete dabei ihre Erzählung mit erregter Gestik und Schluchzen, rief den Himmel an, rollte ihre großen feuchten Augen und verzerrte ihre schlaffen, verwelkten Züge in dem Bemühen, lebhafte Gefühle zu vermitteln. Aber all dem haftete etwas grässlich Unwirkliches an – etwas Vorsätzliches, Trügerisches –, das Gertrude kalt ließ. Sie nahm den Brief, der ihren Händen anvertraut worden war, und las ihn beinahe mechanisch, während sie sich gleichzeitig über ihre eigene Gefühllosigkeit wunderte.

Der Brief war datiert »Dayton, Ohio, 12. Mai 1861«, und lautete wie folgt:

»Meine liebe Gattin,

ich habe einen großen Auftrag für Ponton-Brücken und erwarte, einen ganzen Haufen davon zu machen. Denton hat ein Viertel Anteil, weil er die Arbeit in Washington gemacht hat. Ich werde diese Woche nicht nach Hause kommen, glaube aber Montag oder Dienstag zurück zu sein. Bleib munter und lass den Kopf nicht hängen. Gib der kleinen Gertie von ihrem Papa einen Kuss und sag ihr, sie soll sich mit ihrer lästigen Zahnerei beeilen und nicht ihre Mutter nachts wach halten.

In Liebe Dein Gatte,
Obed Larkin

Gertrud hatte kaum Zweifel, dass dieser Brief echt war. Er entsprach ihres Vaters Briefstil, und es war so ziemlich seine Handschrift. Die Tinte war verblasst, und die Buchstaben ließen in ihrer hilflosen Ungelenkheit noch nicht den Rang von Individualität erkennen. Vor allem war dies wahrscheinlich nicht die Art von Brief, den jemand gefälscht haben könnte, so bar aller zärtlichen Phrasen und Gefühlsbeteuerungen, wie er war. Die einzige Erkenntnis, die er ihr vermittelte, lag darin, dass Mr. Larkin tatsächlich ihr Vater und dass seine Frau nicht ihre Mutter sei. Dies begriff sie in aller Klarheit (wenn es auch im Augenblick weder freudige noch schmerzliche Gefühle weckte); alle anderen Façetten des Problems schob sie vorerst entschieden beiseite, weil sie nicht das Gefühl hatte, sich jetzt mit dessen mannigfachen Wirrnissen herum schlagen zu können.

Sie reichte der angeblichen Mrs. Larkin den Brief zurück und starrte sie erneut in düsterer Unschlüssigkeit an. Wenn dies tatsächlich ihre Mutter war, deren Gesicht zu erblicken sie so oft gebetet hatte: wie war es dann möglich, dass sie ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen konnte – ohne die Spur einer Gemütsbewegung – ohne den Pulsschlag der Liebe oder wenigstens des Mitleids? Es mochte sein, dass die Enthüllung sie betäubt, ihre Nerven gelähmt und jene schaudernde Leere hervorgebracht hatte, die sie überschlich. Sie fühlte sich weh und wund, als wäre sie geprügelt worden; aber sonst empfand sie nichts außer einem frostigen Staunen. Sie überlegte dunkel, dass ein viel intensiverer Kummer auf dem Gesicht der Frau hätte erkennbar sein müssen, wenn sie eine Mutter gewesen wäre, die von ihrer Tochter so kalt zurückgestoßen wurde, auf die sie doch die stärksten Gefühle ihres Herzens verschwendet hatte. Aber das alles war so verwirrend, dass jeder Versuch, es zu entflechten, vollkommen hoffnungslos schien.

»Wenn Sie meinen Vater heute nachmittag um drei aufsuchen wollen,« sagte Gertrude, nachdem sie ihre Sinne energisch zusammengenommen hatte, »werde ich ihn überreden, Sie zu empfangen.«

»Ihren Vater – Ihren Vater!« rief die Frau mit einem leeren Blick aus, als ob ihr Denken sich ihrem Griff entwunden hätte und sie versuche, es wieder zurück zu erlangen. »Oh, ja, Obed Larkin meinen Sie. Nun, er ist ein netter Vater, das ist er. Ein entzückender Vater – und Sie auch, Sie sehen aus wie er – und Sie verhalten sich wie er – genauso – kein freundliches Wort für Ihre eigene Mutter – Ihr eigenes Fleisch und Blut – ich, die ich Sie auf die Welt gebracht habe – –«

Sie stieß wieder dasselbe hysterische Gelächter aus, dabei stahl sich ein drohender Ton in ihre Rede, der Gertrude aus ihrer Lethargie erweckte und sie alarmierte. Sie riss sich augenblicklich zusammen, rannte zur Mühle hinunter, überquerte den Fußsteig und traf auf den Pfad, der zur Landstraße führte. Ihre Furcht wuchs, während sie lief, und sie traute sich nicht, sich umzudrehen, um zu sehen, ob sie verfolgt würde. Als sie die Hochschule erreichte und die großen Gebäudeumrisse durch die Bäume schimmern sah, verringerte sie ihre Geschwindigkeit und nahm sich Zeit, wieder zu Atem zu kommen.



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