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XXXV.
Unsentimentaler Heiratsantrag.

Wenn sich Mr. Van Schaak nicht ein bisschen vor seiner Tochter gefürchtet hätte, würde er sie ernstlich vorgeknöpft haben, dass sie Horace zum Essen eingeladen hatte. Trotz seiner häufigen Entschlüsse, ihr eine Standpauke zu halten, brachte er es indes nie weiter als bis zu einer milden Vorhaltung. In der Ungestörtheit seines Gemüts schäumte er zwar, doch in Gegenwart ihrer dunklen, sanften Augen, die in ihm wie in einem Buch lasen mit all seinen Marotten und Unzulänglichkeiten, fühlte er sich im Nachteil, so dass sein Mut genauso wie sein Zorn verpuffte.

Vater und Tochter saßen am Morgen nach dem denkwürdigen Abendessen zusammen in der Bibliothek. Der Raum war ausgestattet mit niederen Buchregalen aus geschnitztem Ebenholz, in denen Werke der Poesie, der Geschichte sowie Romane in prachtvollen editions de luxe aufgereiht standen, deren Anblick die Autoren für zahlreiche Entbehrungen entschädigt hätte. Die Wände waren mit geprägtem Leder ausgekleidet, auf dem stilisierte Blätter und Blumen in Bronze und dunklen Blautönen vorherrschten.

»Meinst du nicht, Kate,« sagte Mr. Van Schaak, über den Rand seiner Zeitung schauend, »dass wir einen Fehler gemacht haben, diesen Mr. Harkness aus Torryville zu beköstigen?«

»Meinst du Mr. Larkin?« fragte Kate ruhig.

»Ja, Mr. Larkin. Dieser wilde Mensch aus dem Westen, der gestern da war.«

»Weder ist er aus dem Westen, Vater, noch ist er wild.«

»Du lieber Himmel, Kind! Du stehst doch nicht etwa auf seiner Seite?«

»Doch,« sagte Kate, »tu ich.«

»Und meinst du nicht, dass er – wie soll ich sagen – ziemlich schlecht erzogen ist?«

»Nein. Er ist nicht schlecht erzogen; ebenso wenig ist aber wohlerzogen. Er ist nicht erzogen.«

»Nun, nenn ihn, wie du willst; aber er ist nicht das, was ich einen Gentleman nenne.«

»Vielleicht nicht; aber er ist etwas viel Besseres: er ist ein Mann.«

»Du meine Güte, Kate! ich glaube tatsächlich, du – du magst ihn.«

Mr. Van Schaak ließ seine Zeitung auf die Knie fallen und starrte schockiert in das heitere Gesicht seiner Tochter.

»Ja,« sagte Kate unbeirrt, »ich mag ihn sogar sehr.«

In diesem Moment trat Mrs. Van Schaak ein mit in die Luft gereckter Nase und morgendlich unzufriedener Miene.

»Mrs. Van Schaak,« schrie ihr Gebieter in hilfloser Verzweiflung, »hörst du, was deine Tochter gerade sagt? Sie sagt, sie will diesen Kerl aus dem Wilden Westen heiraten, der gestern hier gespeist hat.«

Er übertrug stets die Verantwortung für Kates Existenz seiner Gattin, wenn er sich über sie aufregte.

»Das habe ich nicht gesagt,« bemerkte Kate, die Spitze ihres eleganten Pantoffels betrachtend; »vor allem hat er mich noch nicht gefragt.«

»Da! hab' ich's nicht gesagt?!« rief ihr Erzeuger, sich wiederum an seine bessere Hälfte wendend. »Hast du das gehört, Mrs. Van Schaak? Sie sagt, sie wartet nur darauf, dass er sie fragt!«

»Was soll das bringen, sich über solch absurdes Zeug aufzuregen, Adrian?« fragte Mrs. Van Schaak verdrießlich. »Jetzt wirst du wieder deine Kopfschmerzen bekommen, und dann werden wir uns alle unwohl fühlen.«

Die in dieser Bemerkung enthaltene Bedenklichkeit wirkte mäßigend auf Mr. Van Schaak. Er stand auf, strich sich über Haar und Bart, warf einen Blick in den Spiegel und ordnete sein zerzaustes Federkleid wie ein Hahn nach einem Kampf. Dann nahm er die Zeitung und brach auf in die Abgeschiedenheit seiner Privaträume. Darauf hörte man ihn nach seinem Pferd rufen, und eine halbe Stunde später stieg er in entsprechendem Aufzug herab zu einem Ausritt.

Dies war nur das erste einer Serie von Scharmützeln zwischen Kate und ihrem Vater. Mr. Van Schaak war sehr geneigt, Horace das Haus zu verbieten, wurde jedoch von dieser Zuflucht zu äußersten Maßnahmen zurückgehalten durch sein Vertrauen auf seine Gattin, deren überlegene Taktik sich zweifellos der Angelegenheit gewachsen zeigen würde.

Unterdes kam und ging der unausstehliche Besucher nach Belieben, und Kate empfing ihn und rührte keinen Finger, ihn von seinen Aufmerksamkeiten abzuhalten. Er kehrte nach Albany zurück, wann immer es seine Pflichten verlangten, achtete aber darauf, jeden Samstag und Sonntag in Miss Van Schaaks Gesellschaft in New York zu verbringen.

Als er schließlich Anfang Juni seinen Antrag in der üblichen Form machte, war Kate in keiner Weise überrascht, sondern gab ihm ihre Zusage ganz gelassen und vernünftig, ohne die geringste emotionale Erregung. Sie saßen beieinander im weiß-goldenen Salon und hatten über Horace' politische Zukunft gesprochen, als ein plötzliches Feuer in seinen Augen aufleuchtete und er sagte:

»Ich würde mich nicht vermessen, Sie zu fragen, ob Sie mein Leben teilen wollen, Miss Van Schaak, wenn ich nicht glauben würde, dass es ein Leben wäre, dass sich zu teilen lohnte.«

»Warum glauben Sie, dass es sich zu teilen lohnt?« fragte sie, um ihn aus der Reserve zu locken.

»Wenn Sie das nicht selbst herausfinden,« antwortete er in seinem streitlustigsten Ton, »werden Sie es von mir nicht hören.«

Sie lächelte und schaute ihn mit unverhohlener Bewunderung an.

»Vielleicht habe ich es schon entdeckt,« sagte sie.

»Und Sie sind einverstanden?«

»Ja, das bin ich.«

Er stand vor Freude errötet auf und ergriff ihre Hand. Er hätte sie gern in seine Arme genommen, aber etwas in ihrer Miene und ihrer Haltung untersagte dies unmissverständlich. Eine gewisse Kälte überkam ihn; denn obwohl sie kein Wort gesagt hatte und keine ihrer Gesten dies anzeigte, spürte er, dass Zärtlichkeiten aus ihrer Beziehung ausgeschlossen bleiben würden. Es würde als unfassbare Dreistigkeit – von seiner wie von jeder anderen Seite – empfunden werden, sie zu küssen. Trotzdem beeindruckten ihn ihre Kostbarkeit, ihr seltener, erlesener Wert zutiefst. Wie eine reine, zerbrechliche Teichrose glitt sie – unberührt und unberührbar – auf dem ruhigen See des Lebens dahin, und was ihr an farbiger Wärme fehlte, machte sie mehr als wett durch ihre Zartheit und Feinheit.

Er musste sie nehmen, wie sie war, oder sie aufgeben. Zu gebrochenen Herzen würde es in keinem Fall kommen, es sei denn, er entwickelte ein Herz zu dem ausdrücklichen Zweck, es sich brechen zu lassen. Aber Unerfülltheit würde es geben, Verstimmungen und enttäuschte Erwartungen. Ein Mann, der dennoch die Frau seiner Wahl mit so fragilen Banden fest hielt, sollte jedenfalls Risiken vermeiden und alle Experimente bis nach der Hochzeit aufschieben.

Horace war nicht gerade glücklich, als er die Treppe der Van-Schaak-Villa hinabstieg, nachdem er Kates Heiratsverprechen erhalten hatte. Zumindest war er nicht so glücklich, wie er erwartet hatte. Es fehlte etwas – das war sonnenklar, obwohl er nicht genau wusste, was es war. Er gehörte gewiss nicht zur Sorte der Sentimentalen, die verwirrt waren, weil man ihnen einen Kuss verweigert oder weil es keine Erregung, keine Gefühlsergüsse oder zärtlichen Unsinn gegeben hatte. Und doch erschien ihm diese Verlobung außerordentlich karg und unvollständig, ein bisschen zu sehr wie ein Geschäftsvorgang. Das bloße Gefühl befriedigten Ehrgeizes verschaffte nicht die erwartete freudige Begeisterung.

Eine sonderbare Unsicherheit befiel ihn; und obgleich er sich geschämt hätte, es zuzugeben: er konnte nicht einen gewissen Zweifel unterdrücken, ob er klug gehandelt habe. War ihm Kate nicht hauptsächlich deshalb so überaus begehrenswert vorgekommen, weil sie außerhalb seiner Reichweite lag? Hatte nicht ihre stolze Gleichgültigkeit seine Energie aktiviert und seinen Ehrgeiz herausgefordert?

Er schlenderte den Irving-Platz hinunter und dachte über diese Frage nach, ohne sich vorzumachen, dass er sie beantworten könne. Der Gedanke an Bella drängte sich ihm unablässig auf, und eine gewisse Zärtlichkeit erwachte in ihm, wegen ihrer Sanftmut und ihres Unglücks. War es echte Reue, was er da fühlte, oder bedauerte er nur unvernünftiger Weise, dass er sich hatte grausam verhalten müssen? Das war eine weitere müßige Frage, die ihn mit unbehaglicher Beharrlichkeit heimsuchte.

Er straffte sich und schaute umher; die Straße war auf der Sonnenseite leer, aber auf der Schattenseite bemerkte er einen Mann, der mit einigen Büchern unter dem Arm rasch voran schritt. Die Gestalt kam ihm vertraut vor, und beim zweiten Blick erkannte er, dass es sich um Aleck handelte. Aber welche Veränderung war mit ihm vorgegangen! Seine Jacke entriet jeglichen Stils, und seine Beinkleider hatten Beulen um die Knie. Ein gewisses Sichvorbeugen prägte seinen Gang, als habe er Eile oder sei in etwas vertieft, aber er ging nicht gebückt. Es war der Gang eines Mannes, der einen Zweck im Blick hat, aber auf seine Erscheinung nicht stolz ist.

Horace machte kehrt, überquerte die Straße und folgte in einiger Entfernung seinem Bruder. Sein Anblick erweckte eine Menge Erinnerungen. Wieviel einsamer und selbstsüchtiger war sein Leben geworden, seit er Aleck verloren hatte. Und worum hatte sich's denn bei ihrem Streit schon groß gehandelt? Um eine lumpige Geldgeschichte, und auf seiner Seite außerdem noch um eine niederträchtige Strategie. Er sehnte sich so danach, mit Aleck zu sprechen, dass er die Ursache ihres Zerwürfnisses zu verringern versuchte.

Er beschleunigte seine Schritte, obwohl er noch unentschieden war, ob er seinem Impuls nachgeben sollte. Sie hatten unterdes Madison Square erreicht, und Aleck tauchte, ohne rechts oder links zu schauen, ins grelle Sonnenlicht.

Horace, der fürchtete, dass er ihn verlieren würde in der Menge von Kindern, Kindermädchen und Arbeitsscheuen, die unter den stattlichen Bäumen des Platzes ihr Lager aufgeschlagen hatten, verfiel in Trab und überholte ihn.

»Aleck,« sagte er, ihm seine Hand auf die Schulter legend.

Aleck fuhr in blanker Bestürzung zurück.

»Horace!« rief er, als ihm die Erkenntnis dämmerte, dass es sich um seinen Bruder handle, und dann noch einmal in einem Ausbruch der Freude:

»Ach, Horace, bist du's?«

»Ich bin's, wahrhaftig, in Lebensgröße und doppelter Echtheit,« entgegnete Horace, zu seiner üblichen Neckerei Zuflucht nehmend.

»Und was machst du hier?« erkundigte sich Aleck und strahlte ihn mit jungenhafter, unverhohlener Freude an.

»Oh, ich habe ich hier etwas aus der Unterrock-Sparte am Laufen,« sagte der ältere Bruder in seiner jovialen Flapsigkeit. Aber kaum hatte er diese derbe Phrase von sich gegeben, da schämte er sich ihrer schon. Sie hatte etwas Verlogenes an sich und setzte seine Beziehung zu der Frau, um deren Gunst er sich so ernstlich bemüht hatte, in ein falsches Licht.

»Ah, ein Scheidungsfall,« sagte Aleck; »ja, ich habe gehört, dass deine Praxis sich über den gesamten Bundesstaat ausbreitet.«

»Oh, ja, es läuft nicht schlecht,« versetzte Horace ziemlich erleichtert, dass sein Bruder ihn missverstanden hatte.

Sie wandelten gemächlichen Schritts unter den großen Bäumen und sprachen über gleichgültige Dinge. Horace drängte es, Aleck seine Verlobung anzuvertrauen, fand aber nicht den passenden Ton zu einer so wichtigen Mitteilung; und Aleck verfolgten die Gespenster von hundert Bedeutsamkeiten, die er aussprechen wollte, aber irgendwie zu äußern zögerte. Es war merkwürdig, aber diese beiden, die einander so zugetan waren und sich so nach dieser Gelegenheit, frei miteinander zu sprechen, gesehnt hatten, unterhielten sich, unter einem Zwang, den beide nicht begriffen, über das belangloseste Zeug.

Aleck entfloh als erster dieser Platitüdenknechtschaft.

»Horace,« sagte er, vor seinem Bruder Halt machend und ihn beim Arm nehmend, »ich möchte dich fragen, ob du mit mir nach Hause kommen willst. Wenn nicht, sag es einfach, und ich werde nicht beleidigt sein. Aber – aber – ich würde es als große Freundlichkeit gegenüber – gegenüber – meiner Frau betrachten,« schloss er, in glücklicher Verlegenheit rot werdend.

»Wo wohnst du?« fragte Horace, während er rasch die verschiedenen Aspekte des Problems bedachte.

Würde sein Onkel es gutheißen, wenn er Gertrude, nachdem dieser sie verstoßen hatte, in irgendeiner Form Beachtung schenkte? War der Gefallen, den er Aleck damit erweisen würde, es wert, seine Beziehung zu seinem Onkel zu gefährden? Doch es gab noch eine andere Seite des Problems. Er war jetzt ein hinreichend bedeutender Mann und konnte es sich leisten, seinen eigenen Wünschen Rechnung zu tragen. Er war absolut unentbehrlich für den Ehrenwerten Obed, der zu schlau sein würde, sich mit ihm unter einem Vorwand anzulegen. Er war im Begriff, die Tochter eines Millionärs zu heiraten, und sein Prestige würde auf Grund des Reichtums und der gesellschaftlichen Stellung seiner Frau immens wachsen.

Er entschloss sich, Alecks Einladung anzunehmen. Die zu bedenkenden Risiken waren zu unbedeutend.

»Ich wohne weit außerhalb der Schöpfung,« sagte Aleck, während diese Gedanken seinem Bruder durch den Kopf schossen. »Wir müssen die 6th-Avenue-Hochbahn nehmen. Komm mit!«

»Eine Minute! Sag mir erst: hast du Gertrudes Mutter bei dir?«

»Wir sind schon lange mit ihr fertig.«

»Dann bin ich dabei. Ich würde Gertie gern sehen; und außerdem hätte ich gern ein vertrauliches Gespräch unter Rauchern mit dir, wie in alten Zeiten.«

Sie überquerten den Platz und gingen die 23rd Street hinunter zur Hochbahn, während Aleck freudig kleine Ehegeschichten erzählte, die seine Gattin in äußerst bezauberndem Licht zeigen sollten.

Horace wusste nicht recht, ob es anrührend oder lächerlich sei, ihm dabei zuzuhören, wie er sich selbst so arglos beglückwünschte, das große Los in der Lebenslotterie gezogen zu haben, wo er in Wirklichkeit nichts weiter als ein pis aller – eine letzte Zuflucht für eine Frau gewesen war, die sich durch ihr eigene Torheit in eine peinliche Situation manövriert hatte. Was konnte bedauernswerter sein für einen Mann von Alecks Begabung und Aussichten, als sechs Stunden am Tag für 1 200 $ im Jahr Schulunterricht zu geben, in einem spießigen Etagenapartment zu wohnen und schäbig und kurzsichtig zu werden bloß in dem erbärmlichen Bemühen, für Leib und Leben zu sorgen? Aber andererseits, chacun à son goût! Für Horace wäre ein solches Dasein schlimmer als der Tod.

»Du kannst dir nicht vorstellen,« rief der verblendete Liebhaber, »du hast keine Ahnung, wie lieb sie zu mir ist. Ich weiß, dass du sie nie so geschätzt hast wie ich; aber es entschuldigte dich, dass du sie nie richtig gekannt hast. Tatsächlich ging es mir genauso. Wenn es so gewesen wäre, hätte ich Hawk dafür ermorden müssen, dass er es gewagt hat, sie zu lieben. Glücklicherweise war es eine sehr einseitige Angelegenheit. Sie hat sich von seinem feinen Gerede faszinieren lassen; das kann ich ihr leicht vergeben, denn ich befand mich selbst eine ganze Zeit unter dem Bann dieses Humbugs. Aber sie hat mir gesagt, dass sie ihn nie wirklich geliebt hat. Und das hat mich so glücklich gemacht. Denn ich muss zugeben, ich war dumm genug, mich jedes Mal von einer Art rückwärtiger Eifersucht quälen zu lassen, wenn ich an diesen geschickten Halunken dachte. Jetzt passiert mir das nicht mehr, denn sie hat mir ihr Wort gegeben, dass sie sich in den Gedanken verrannt hatte, dass sie sich etwas aus ihm mache. Du darfst trotzdem nicht denken,« hierbei brach Aleck in ein weiches Lachen aus, und seine Augen leuchteten vor Glück, »du darfst nicht annehmen, dass sie nur Anmut und Licht ist. Denn in diesem Fall müsste sie sich in meinen Armen zu purer leuchtender Vollkommenheit verflüchtigen. Nein, es ist am Ende das Irdische an ihr, das ich am meisten mag, ihre kleinen weiblichen Eigenarten, ihr Schmollen, ihre gelegentliche Auflehnung gegen meine Autorität, ihr unvernünftiges Verhalten, ihre verwirrende weibliche Logik. Vor zwei Wochen, weißt du, wurde sie auf ganz unerklärliche Weise krank, und der Doktor sagte ihr, sie müsse liegen bleiben und dürfe sich eine Woche lang nicht anstrengen. Wir waren gewohnt auszugehen und das Essen in einem Restaurant einzunehmen, und du kannst dir nicht vorstellen, was für hübsche kleine Mahlzeiten das waren! Aber jetzt musste ich natürlich das Essen zu ihr bringen. Am ersten und zweiten Tag aß sie es, allerdings nicht mit großen Apetit; aber am dritten Tag rebellierte sie und erklärte, dass alles kalt sei, und wenn ich ihr kein heißes Essen bringen könne, wolle sie überhaupt keins. Sie wolle diesen Unsinn nicht länger aushalten; der Doktor sei eine alte Schlafmütze und versuche damit Geld zu machen, dass er ihr zu liegen verordne, obwohl sie total gesund sei usw. Sie wollte aufstehen, ob es dem Doktor gefiel oder nicht, und hatte sich entschlossen, eine ordentlich heiße Mahlzeit zu bekommen, selbst wenn sie eine Meile dafür laufen müsste. Natürlich protestierte ich, aber es hatte keinen Erfolg. Ich bettelte, ich flehte sie an, auf ihre Gesundheit zu achten. Aber sie lachte mich aus und sagte, ich sei ein lächerlicher, kleinlicher Wichtigtuer. Sie stand auf und stürmte vier Treppen hinunter; der Aufzug war, wie immer außer Betrieb. Da rannte ich verzweifelt hinter ihr her, nahm vier Stufen auf einmal, überholte sie an der vierten Treppe, umschlang sie mit meinen Armen und trug sie zurück in ihr Schlafzimmer. Sie leistete keinen Widerstand. Sie war viel zu erstaunt, um etwas zu sagen. Wortlos lag sie auf dem Bett, drehte sich zur Wand, rührte sich nicht und antwortete nicht auf meine Fragen. Ich bot an, vom Brunswick ein Essen kommen zu lassen, und zuletzt war ich so verwegen, Delmonico vorzuschlagen. Ich hätte genauso gut mit der Wand sprechen können. Sie war und blieb stumm. Schließlich ließ ich, ohne auf ihre Zustimmung zu warten, durch einen Boten von einem Restaurant um die Ecke ein ausgezeichnetes Essen besorgen: eine Wachtel auf Toast, filet de b?uf, Baiser mit Eiscreme, und alles, was sie mag. Aber glaubst du, dass sie einlenkte? Kein bisschen. Den ganzen Nachmittag lag sie da wie tot; und ich saß im Wohnzimmer, tat so, als schriebe ich, aber in Wirklichkeit beobachtete ich sie ängstlich im Spiegel. Oh, wie elend fühlte ich mich! Ich dachte wirklich, sie hätte sich entschlossen, sich zu Tode zu hungern. Ich lief in Todesangst im Zimmer herum, sprach sie mit den reuevollsten Worten an, aber alles vergebens. Ich war darauf und dran, die Schlacht verloren zu geben, und formulierte im Geist schon die Todesanzeige:

›LARKIN – 12. Mai. Gertrude, geliebte Ehefrau von Alexander Larkin, Tochter des Ehrenwerten Obed Larkin, aus Torryville, im Alter von einundzwanzig Jahren. Bitte keine Blumen.‹

An den Punkt war ich also gekommen, als ich zu meiner unaussprechlichen Freude sah, wie sie sich vorsichtig erhob und mit einer raschen Bewegung ein Bein von der Wachtel abriss, die auf dem Tisch neben ihrem Bett lag. Ich war sprachlos und beobachtete sie im Spiegel. Sie erhob sich erneut, und nachdem sie sich versichert hatte, dass sie nicht beobachtet wurde, riss sie ein weiteres Bein ab. Beim dritten Mal erging es dem Rest der Wachtel auf dieselbe Art. Dann verschwand das Baiser mitsamt der Eiscreme. Plötzlich wurde mir, befreit von meiner Angst, die Lächerlichkeit des Ganzen bewusst, und ich musste kichern, erst leise, dann lauter, bis ich in ein schallendes Lachen ausbrach. Sofort verlor sie ihren Appetit. Aber im selben Moment war ich bei ihr. Sie lächelte ziemlich betreten, dann umarmte sie mich, weinte, beschimpfte sich selbst als albern und töricht und bat mich um Verzeihung; und ich fürchte, ich weinte selber auch, und wir waren absurder- und unvernünftigerweise maßlos glücklich.«

Nachdem Aleck mit diesem Thema angefangen hatte, nahm er keine Notiz mehr von den Stationen, an denen sie vorbei kamen, und er hätte bis Washington Heights weiter gemacht, wenn Horace ihn nicht an der 27th Street gefragt hätte, ob es nicht Zeit sei auszusteigen. Er bemitleidete inzwischen Aleck aus tiefstem Herzen, dass er so geringe Ansprüche an sein Schicksal stellte, sich mit einer so billigen Beute zufriedengab und sich aus so armseligem Material ein illusorisches Paradies konstruierte.

Sie schlenderten eine Straße hoch, eine andere hinunter und gelangten am Ende zu einer gewaltigen zehnstöckigen Mietskaserne aus rotem Ziegelstein mit braunen Einfassungen. Sie betraten eine ziemlich verkommene Vorhalle mit mosaikartigem Fußboden, die eine Unzahl von Messingklingelknöpfen aufwies, unter denen jeweils in einer rechteckigen Öffnung ein Namensschild steckte. Dies war das Patagonia.



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