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XVII.
Unerwünschter Besuch.

Mrs. Larkin, außer Stande, den Verlockungen der Heiden zu widerstehen, machte sich mit freudigen Vorgefühlen auf zu der › Union Missionary‹-Versammlung. Sie hatte weder die leiseste Ahnung von jenen augenblicklichen Vorgängen, die sich hinter ihrem Rücken abspielten, noch war ihr aufgefallen, dass die Atmosphäre um sie her sich mit stummer Erregung aufgeladen hatte. Es war im Hause Larkin nichts Besonderes, dass man das Mittagessen schweigend verzehrte; und deshalb nahm niemand Notiz von dem Ernst, der bei Tisch herrschte. Obwohl man sie für großartige, hochgeschätzte Leute hielt, befanden sich die Larkins auf der kulturellen Skala nicht hoch genug, dass sie gewohnheitsmäßig Umstände machten, nur um liebenswürdig zu sein. Mr. Larkin, der zwar hinreichend Bereitschaft besaß, mit Leuten zu reden, sofern er erwarten konnte, sie zu beeindrucken, vertraute zu Hause entschieden weniger auf seine Autorität, weil er wusste, dass seine Geschichten und Lehrsätze dort seit langem ihren Neuigkeitswert eingebüßt hatten. Allerdings wandte er sich manchmal mit Bemerkungen zu geschäftlichen und politischen Angelegenheiten an Horace, welche dieser einsilbig oder mit einem ziemlich trockenen und banalen Kommentar beantwortete; und wenn er besonders guter Laune war, scherzte Mr. Larkin mit seiner Frau über ihr Engagement für die Heiden und fragte sie, ob die Hemden, die sie den Zulu-Kaffern geschickt hatte, ihnen gut ständen. In der Regel freilich lehnte er Konversation zu den Mahlzeiten als Beeinträchtigung der ernsteren Beschäftigung dieses Anlasses ab.

Horace und Aleck kehrten ihrer Gewohnheit entsprechend zu ihrem Büro auf der Hauptstraße zurück, sobald sie das Mittagessen beendet hatten, und abgesehen von den Bediensteten befanden sich nur Mr. Larkin und seine Tochter im Haus, wenn der unwillkommene Besuch eintraf.

Gertrude lief wie in Trance umher, ohne zu wissen, woher sie kam und wohin sie ging. Das Bewusstsein dieses großen tragischen Ereignisses in ihrem Leben lastete quälend auf ihr. Es erschütterte ihr Denken mit neuen Maßstäben von Recht oder Unrecht, so dass sie in aufgewühlte Beklommenheit verfiel. Sie saß vor dem Feuer, starrte in ein Buch, das ihrem Geist aber nicht den geringsten Gedanken zu vermitteln vermochte, als sich die Türe öffnete und Nettie eine Frau in dem Hausflur ankündigte, die Mr. Larkin zu sprechen wünsche. Eine solche Ankündigung war keineswegs ungewöhnlich, denn Mr. Larkin befand sich in der alltäglichen Lage aller reichen Männer, von den Glücklosen verfolgt zu werden.

»Führen Sie sie herein,« sagte Mr. Larkin.

Er hörte die Tür sich öffnen und schließen, hielt jedoch seine Augen unentwegt auf den Schreibtisch gerichtet. Als er sie schließlich erhob, sah er eine große Frau mit einem gelblichen Gesicht in schäbigem schwarzem Aufzug vor sich stehen. Das Bemerkenswerteste an ihr waren die großen schwarzen Ringe um die Augen. Mr. Larkin war gewiss kein empfindsamer Mensch, und doch erschauderte er fast, als sein Blick sich mit ihrem traf.

»Hm,« knurrte er, »da bist du 'mal wieder, oder?«

Ein merkwürdig einladendes Grinsen, das alles andere als fröhlich war, verzerrte ihre Züge, und ihre großen, dunklen, verschwommenen Augen, die leidenschaftlich und nicht intelligent blickten, schienen nichts damit zu tun zu haben.

»Schätze, du hast das Geld, das ich dir zuletzt schickte, schon wieder ausgegeben,« fuhr Mr. Larkin fort, »und bist gekommen, um mehr zu kriegen.«

»Oh, Obed!« schrie sie mit einem plötzlichen Tränenerguss; »wie kannst du so grausam mit mir sprechen – mit mir, die ich dir mein junges Herz geschenkt habe – –«

»Halt den Mund,« befahl er barsch, »keine von deinen Kapriolen jetzt. Du kannst mich nicht für dumm verkaufen. Ich kenne sie alle von früher her. Sag einfach, wieviel, und beeil dich damit – –«

»Obed, ich möchte, dass du mich anhörst,« heulte sie, theatralisch auf die Knie sinkend und ihre Hände zurückwerfend.

»Nein, ich werde dich nicht anhören,« brach es aus ihm in rauhem Flüstern heraus; »du und ich, wir kennen uns zu gut, um noch Komödie mit einander zu spielen. Sie wird nicht stattfinden, sag' ich dir. Also benimm dich, damit wir zum Geschäftlichen kommen können.«

Gertrude, die in diesem Moment einen Blick auf ihr Gesicht warf, staunte über die Plötzlichkeit, mit der sein Ausdruck wechselte. Es war, als ob sie ihre Maske für erfolglos befunden hätte, sie nun geflissentlich abzog und mit einer anderen wechselte. Sie hielt sich am Schreibtisch fest, um sich beim Aufstehen zu behelfen, setzte sich auf einen Stuhl und grinste. Gertrude konnte jetzt die Spiegelung ihres Gesichts im Glas erkennen, und sie berührte sie äußerst unangenehm. Sie sah, wie sie denselben beschmutzten Brief aus der Tasche holte, ihn entfaltete und ihn wie zuvor glättete.

»Wieviel ist er dir wert, Obed Larkin?« fragte sie, ihn auf Armlänge hinstreckend. Ihrer Miene und ihre Gebärden bekundeten den Versuch einer Art Koketterie – einer verblühten, erbärmlichen Koketterie, die trauriger machte, als Tränen es gekonnt hätten. Gertrude hielt es nicht länger aus. Sie stand auf und bewegte sich zur Tür.

»Du musst nicht aus Rücksicht auf mich gehen,« sagte Mr. Larkin; »ich habe nichts dagegen, wenn du bleibst.«

»Ich gehe lieber, Vater,« antwortete sie.

»Ah, ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, das seh' ich nun in aller Klarheit,« rief die Besucherin in fiebriger Lebhaftigkeit; »du glaubst, du kannst es dir leisten, auf dem Herzen einer Mutter herum zu trampeln – nur weil er es auch tut – du denkst, ich hätte immer so ausgesehen wie jetzt – aber es war seine Misshandlung, die mich so gemacht hat – mein Gesicht war genau so rot und weiß und rosig wie deins – und meine Familie war so gut wie jede andere in England – aber er hat nicht mehr Erbarmen als ein Stein – guck dir nur seinen Mund an, wie hart und grausam er ist – und diese grünen Katzenaugen – hahaha! – dass ich ihn jemals geliebt haben konnte – das wundert mich jetzt nur noch.«

Gertrude hörte, wie ihr diese Phrasen hinterher geschleudert wurden, während sie zur Esszimmertür schritt. Sie nahm hauptsächlich deshalb diese Richtung, weil sie einen der Bediensteten zu treffen fürchtete, der ihr die Aufgewühltheit im Gesicht ablesen könnte. Darum entfloh sie ins leere Wohnzimmer, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Luft rein sei, lief sie die Treppe hinauf und war sich auf das Sofa in ihrem Schlafzimmer.

Wie es oft der Fall war, wenn ihre Nerven einer ausgedehnten Belastung ausgesetzt waren, fing sie an, sich nach den Ursachen für ihre Empfindungen zu fragen, bevor sie sich mit diesen selbst beschäftigte. Ein kalter Nebel legte sich über ihre Gedanken und dämpfte ihre Heftigkeit. Ihr Geist erschien wie ein frostiges Vakuum, in das dann und wann alberne, bedeutungslose Vorstellungen eindrangen.

Warum färbte ihre Mutter ihr Haar, und welches Färbemittel verwendete sie? Wahrscheinlich wurde ihr Haar grau, und sie war noch eitel genug, das zu verbergen. Sie hatte einmal ein Mädchen gekannt, das täglich sein Haar in Champagner wusch, um aus ihm die Farbe zu entfernen. Sie hatte sich mit einem Ingenieur verlobt, der sich in ihr Haar verliebt hatte und die Verlobung gelöst hätte, wenn er herausgefunden hätte, dass es gefärbt war, wenn sie ihm nicht mit der Anzeige des gebrochenen Eheversprechens gedroht hätte.

Auf diese Weise schweiften ihre Gedanken trostlos umher, bis sie sie gewaltsam auf die alles in Beschlag nehmende Entdeckung zurück zwang. Doch trotz ihres Bemühens, deren Ernst zu begreifen, übermannte sie eine unerträgliche Schläfrigkeit, und so sehr sie sich auch anstrengte, sie musste einfach gähnen.

So hatte sie fünfzehn oder zwanzig Sekunden da gelegen, als schleppend ein Pflichtgefühl in ihr erwachte, und es kam ihr vor, als hätte sie nicht recht gehandelt, als sie ihren Vater verließ, während er seinen Wunsch andeutete, dass sie blieb. Demzufolge stand sie auf, hielt vor dem Spiegel ein und rückte ihr schwarzes Haar ein paar Mal dekorativ zurecht, da es etwas mitgenommen wirkte. Wiederum verfiel sie in Geistesabwesenheit, denn ihr drängte sich die Frage auf: »Sehe ich aus wie sie? Habe ich ihre Schlechtigkeit und ihre Heuchelei geerbt?«

Sie kam nicht um die Erkenntnis herum, dass die Form ihres Gesichts und seine Konturen auf Verwandtschaft hindeuteten; aber hier endete die Ähnlichkeit, soweit sie es beurteilen konnte. Sie tröstete sich damit, dass sie die blauen Augen ihres Vaters besaß, wenn sie auch gewissermaßen bewölkt und durch eine fremde Beimischung abgewandelt waren.

Es klopfte an der Tür, und ohne auf Antwort zu warten, trat Nettie, das rothaarige Kammermädchen, ein.

»Gnade uns Gott, war das eine verqueere Frau, die Mr. Larkin besucht hat, Miss Gertie,« sagte sie mit ihrem breiten irischen Akzent.

»Ist sie weg?« fragte Gertrude.

»Ja, das ist sie, Miss Gertie, Gott sei Dank,« erwiderte Nettie, sich auf die Bettkante setzend und vor Mitteilungsfreude geradezu übersprudelnd. Nachdem sie vergeblich auf eine Ermutigung fortzufahren gewartet hatte, ließ sie ihre Augen durch das Zimmer laufen und bemerkte vage:

»Weiß der Himmel, was Sie mit all den nackerten Hintern und Beinen auf ihr'n Fenstervorhängen im Sinn ha'm, Miss Gertie. So 'was bringt Unglück, Kind, ganz bestimmt, oder ich heiß' nich' Nettie O'Harrigan.«

»Davon verstehst du nichts, Nettie; und es hätte keinen Zweck, wenn ich es dir zu erklären versuchte.«

»Oh, aber ich weiß, wovon ich sprech', Miss Gertie, ganz bestimmt; wenn 'n anständ'jes Mädel wie Sie Männerhintern an der Wand hängen hat – und nackerte Rümpf' – und Köpf', mit der ganzen Haut 'runter, wie 'ne gepellte Tomate: das bringt Ihn' überhaupt kein Glück, überhaupt nich'.«

»Du brauchst dir darum keine Sorgen zu machen, Nettie,« bemerkte Gertrude ziemlich überheblich, setzte sich in einen Schaukelstuhl und griff zu einem Skizzenbuch.

»Aber was für 'ne Frau, Miss Gertie,« platzte Nettie, von ihrer kühlen Aufnahme unbeeindruckt, los, »sie war besoffen, oder irre, genau das war sie, Miss Gertie.«

»Nun, Nettie, was spielt das für eine Rolle?«

»Ha'm Sie se nich' brüllen hör'n? Sie wollt' Mr. Larkin erpressen, das war's, was se wollte. Aber er is' 'n alter Hase, der Mr. Larkin, und er tappst nich' einfach so in 'ne Falle.«

»Nun, Nettie, das glaube ich auch. Aber es ist nicht sehr nett vor dir, über ihn in dieser Weise zu reden. Und nun möchte ich, dass du mich verlässt. Ich bin müde und fühle mich nicht gut.«

»Hm, stolz sin' Sie, halten sich für zu hoch un' zu mächtig, um mit 'nem einfachen Mädel zu reden; aber so viel zum 'Rumprahlen ha'm Se gar nich', Miss Gertie, da könn' Se Ihre Nase so hoch tragen wie Se woll'n, und mag nur das Unglück über Sie komm'!«

Mit diesem Abschiedsschuss stolzierte Nettie in hellem Groll aus dem Zimmer, und Gertie war ziemlich erleichtert, dass ihr Lauschen an der Tür ihr so wenig genützt hatte. Denn wenn sie konkretes Wissen kompromittierender Art erhalten hätte, wäre sie gewiss damit heraus geplatzt, sobald ihr Zorn geweckt worden wäre.

Sie war, wie die meisten Bediensteten in Torryville, dadurch verdorben worden, dass man sie als gleichberechtigt behandelt und ihr gestattet hatte, ihren Fundus von Tratsch zur Erbauung der Damen der Familie aufzuwenden. Mrs. Larkin trug keine Bedenken, die pikanten Einzelheiten der privaten Histörchen, wie sie von Küche zu Küche sickerten, zu genießen; und Nettie war empört über Gertrude, dass diese sich etwas Besseres dünkte als ihre Mutter.



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