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IX.
Zwischen Leben und Tod.

Als Dr. Hawk am folgenden Morgen kam, um Gertrudes Gesundheitszustand zu begutachten, informierte ihn Mrs. Larkin, dass sie vermute, dass ihr nichts fehle; »aber sie ist nicht aus dem Bett gekommen. Sie ist ein seltsames Mädchen,« fuhr Mrs. Larkin fort, »und man weiß bei ihr nie, ob sie gesund oder krank ist. Aber ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Doktor, denn es geht mir selbst nicht besonders fabelhaft heute.«

Woraufhin Hawk mit einer langen, detaillierten Aufzählung von Mrs. Larkins Leiden unterhalten wurde.

Sein beunruhigtes Gewissen veranlasste ihn, seinen Besuch am Nachmittag und am nächsten Morgen zu wiederholen; aber Mrs. Larkin schrieb jedes Mal seine Anwesenheit der Besorgnis für ihre eigene Gesundheit zu und wiederholte die Geschichte ihrer sonderbaren Symptome. Sie hatte Gertrude seit dem Tag der Séance nicht gesehen, war jedoch überzeugt, dass es ihr gut gehe, obwohl es ihr nicht in den Sinn gekommen war, selbst nachzuforschen.

»Sie verspürt öfters das Bedürfnis, tagelang im Bett zu bleiben,« sagte sie in ihrem üblichen wehleidigen Ton; »aber wenn wir uns darüber Sorgen machen wollten, bekämen wir in dieser Familie sonst nichts mehr getan. Sie ist ein eigensinniges und störrisches Mädchen, und es ist unmöglich herauszufinden, was sie sich als nächstes in den Kopf setzt.«

Mrs. Larkin hatte aus grundsätzlichen Erwägungen Hawks Aufmerksamkeiten gegenüber Gertrude immer missbilligt, nicht weil sie ihn als unerwünschten Schwiegersohn einstufte, sondern weil sie nicht begreifen konnte, dass irgend jemand Gertrud attraktiv finden konnte. In diese Geringschätzung ihrer Adoptivtochter mischte sich auch eine kleine unbewusste Eifersucht, zu der Gertrudes gelassene Inbesitznahme ihrer Verehrer, wenn sie ihr den Hof machten, ihren Teil beitrug.

Dr. Hawk, für den Mrs. Larkins Gunst mehr als tausend Dollar im Jahr wert war, wagte demzufolge nicht, seine Vorliebe preiszugeben. Gleichwohl terminierte er seinen nächsten Besuch so, dass ein Zusammentreffen mit der älteren Dame vermieden wurde; nachdem er Alecks Interesse an seiner Aktion geweckt hatte, gewann er die Einsicht, dass Gertrude in einer Art Benommenheit danieder lag und es ihr anscheinend überhaupt nicht gut ging. Da verlangte er in seiner beruflichen Eigenschaft Zugang zu ihrem Schlafzimmer, und Aleck übernahm aufgrund der Abwesenheit einer anderen Autorität die Verantwortung, dies zuzulassen.

Nettie, das Zimmermädchen, brachte ihn hinauf in den ersten Stock und führte ihn in einen großen Raum mit hoher Decke, dessen Mobiliar mit Stift-Kartons, halbfertigen Zeichnungen, Skizzenbüchern und weiblichen Kleidungsstücken bedeckt war. Auf dem Sofa lag ein weißer Rock freundschaftlich benachbart neben einer Schachtel mit Zeichenkohle; an der Staffelei vor dem Nordfenster hingen ein großer Gainsborough-Hut Ein breitrandiger, aufwendiger Damenhut (auch picture hat genannt, vermutlich weil der breite Rand dem Gesicht wie einem Bild einen Rahmen gibt), dessen Form an jene Porträts erinnert, die der englische Maler Thomas Gainsborough (1727-88) schuf., ein Korsett und eine Haube; Schuhe verschiedenster Machart lagen auf dem Boden verstreut, als seien sie anprobiert und angeekelt fort geschleudert worden.

Ein paar Gipsplastiken im verkleinerten Maßstab führten auf dem Kaminsims und den Tischen prächtige Posen vor, und halbfertige Kreide- und Kohleabbildungen von ihnen aus zahlreichen Perspektiven waren mit Reißzwecken an die Wände geheftet. Ein aufrollbares Papier-Rouleau regulierte das Licht am großen Westfenster; die Nachmittagssonne machte es lichtdurchlässig und ließ so verwegene Fragmente von Armen und Beinen und experimentellen Physiognomien erkennen, mit denen es überzogen war.

Dr. Hawk gewann einen entschiedenen Eindruck von der Zwanglosigkeit dieses eigentümlichen Mädchenzimmers, als er sich dem Bett näherte, wo Gertrud in fieberhaft unbehaglichem Schlummer lag. Ihr Gesicht war gerötet; die Stirnfalte über ihren Brauen und die angespannten Züge um ihren Mund spiegelten ihre Qual.

»Ich mein', sie is' nich' ganz richtig im Kopf,« bemerkte das Dienstmädchen, das an der Tür stehen geblieben war. »Hat sich mächtig aufgeregt gestern abend, geredet, geschrien und 'n ziemlichen Rabatz gemacht.«

»Und hast du der Familie gesagt, dass sie krank ist?« fragte der Doktor streng.

»Nee. Sie is' fast die ganze Zeit so daneben, und die Familie macht sich nich' groß 'was d'raus.«

»Ja, Blut ist dicker als Wasser,« murmelte Hawk bei sich; dennoch befremdete es ihn, dass man einem so schönen, begabten Mädchen wie Gertrude zu Hause so geringe Beachtung schenkte. Er schaute sie einige Minuten mit einem gänzlich unprofessionellen Blick an und fragte sich, woher sie diese großartigen tizianischen Züge haben mochte – diesen herrlichen Hals – diese prachtvollen Schultern. Er ergriff ihre Hand; sie war groß, edel geformt und hatte lange geschmeidige Finger.

Er kam nicht umhin festzustellen, dass der Puls anormal schnell schlug, doch wehrte er jede medizinische Überlegung ab, bis er den Eindruck ihrer Lieblichkeit ganz in sich aufgenommen hatte. Er verhielt sich unprofessionell, wie er wohl wusste, trotzdem war auch ein Doktor zuerst ein Mann und erst in zweiter Linie ein Arzt.

»Wo zum Kuckuck stammt sie her?« brummte er, während er ihre geröteten Züge betrachtete, als ob er in ihnen die Auflösung des Rätsels ihrer Geburt lesen könne. »Ich will gehenkt sein, wenn ich diese Geschichte mit dem Waisenhaus glaube. Man sammelt solche Musterexemplare nicht in Waisenhäusern auf. Sie ist im Purpur geboren und wurde dessen irgendwie beraubt,« fuhr er in Gedanken fort; »das heißt, falls nicht ihr Mund, ihr Kinn, ihre Augen und jeder ihrer natürlichen Instinkte sich zum Lügen verschworen haben.«

Mitten in seinen Grübeleien stieg ihm der Gedanke auf, dass er sich vielleicht einen unrechtmäßigen Vorteil verschaffe, wenn er so durch die durchlässige Maske der Unbewusstheit in die Seele eines jungen Mädchens eindringe. Aber dieser Gedanke kümmerte ihn nicht sonderlich; er war mehr Ästhetiker als Moralist.

Dennoch begann die Gegenwart des Dienstmädchens sein abgestumpftes Gewissen zu aufzurütteln. Er winkte sie näher zu sich heran und richtete eine Reihe ärztlicher Fragen an sie; dann stellte er ein paar Rezepte aus und bat sie, zur Apotheke zu eilen und mit den Arzneien zurück zu kehren.

Nachdem er der Pflicht dieses Zugeständnis gemacht hatte, zog er einen Lehnstuhl zum Bett und versank wieder in genealogische Vermutungen. Der tastende, richtungslos künstlerische Instinkt, der sich im chaotischen Zierat des Zimmers enthüllte – das immer wiederkehrende Beginnen eines intensiv Gefühlten, aber nie Erreichten – deutete auf eine Seelengeschichte voller ergreifender Ereignisse. Entmutigung – Abscheu vor wiederholten Misserfolgen – leidenschaftliches Schwanken zwischen allen Extremen des Gefühls – konnten mit etwas Einfühlung in den fragmentarischen Skizzen von Gliedern, Köpfen, Torsos und Landschaften gelesen werden.

»Aber solche Bestrebungen müssen doch einen Stammbaum haben,« überlegte Hawk; »sie sprießen nicht wie Giftpilze aus dem Erdboden.«

Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, und als er ihn wieder auf das Bett richtete, geschah es, dass seine Patientin ihn mit Stirnrunzeln anstarrte, als ob sie zu entscheiden versuche, ob er womöglich eine bloße Fiebervision sei.

»Es tut mir leid, dass Sie krank sind, Miss Gertrude,« sagte er so feierlich er konnte. Sie rieb sich die Augen, erst mit der einen Hand, dann mit der anderen, antwortete aber nicht.

»Ich nahm mir die Freiheit, Ihre künstlerischen Bemühungen zu bewundern,« fuhr er etwas verlegen fort.

Die Entdeckung, auf die er, wer weiß wie lange, gestarrt hatte, verstimmte ihn; er hatte das Gefühl, entkleidet überrascht worden zu sein. Es bedurfte immer der Vorbereitung einiger Augenblicke, sein Gesicht in die gehörigen tragischen Falten zu legen.

»Bin ich sehr krank, Doktor?« frage sie nach einer Pause, während der sie sich von seiner wirklichen Existenz überzeugt hatte.

»Das kann ich noch nicht sagen. Ihr Puls liegt bei 130.«

»Ist das viel oder wenig?«

»Es ist deutlich mehr als es sollte.«

»Dann denken Sie, dass ich sterben werde?«

»Jetzt noch nicht.«

»Sie brauchen mich nicht zu schonen. Es ist mir egal.«

»Meine liebe Miss Gertie, Sie wissen, ich glaube nicht an den Tod. Wenn für jemanden die Zeit gekommen ist, verlässt er bloß den Körper – die Seele, die er eigentlich ist, zieht in ein anderes Haus …«

»Gut,« unterbrach sie ungeduldig; »dann denken Sie also, dass ich ausziehen – in ein anderes Haus umziehen werde?«

»Nicht bevor Sie noch bedeutend mehr vom Leben als bislang gesehen haben werden.«

»Ich glaube nicht, dass mir daran liegt, bedeutend mehr davon zu sehen. Was ich gesehen habe, hat mich nicht besonders amüsiert.«

Er bemerkte ein hysterisches Beben ihrer Lippen und sah, dass ihrer Augen voller Tränen standen.

»Sie dürfen nicht sprechen,« sagte er. »Das Fieber hat Sie geschwächt. Ich werden Ihnen etwas geben, um Ihre Temperatur zu senken.«

»Ich will sprechen,« antwortete sie entschlossen. »Wem macht es etwas aus, ob ich lebe oder sterbe?«

»Mir zum Beispiel.«

Sie schaute ihn mit großen, ernsten Augen an.

»Ah, Leben, Leben, Leben!« seufzte sie.

»Warum sagen Sie das?«

»Weil ich ich manchmal glaube, dass Sie ein großer Schwindler sind,« antwortete sie unumwunden.

Er zuckte bei ihren Worten zusammen und starrte sie traurig und vorwurfsvoll an.

»Ich weiß, dass Sie in Ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht zurechnungsfähig sind für das, was Sie sagen,« murmelte er.

Sie lag eine Weile heftig atmend da und starrte mit vagem Blick an die Decke.

»Warum leben Sie überhaupt hier?« fragte sie unvermittelt.

»Irgendwo muss ich leben.«

»Aber bei Ihren Talenten und Ihrem großen Wissen, finde ich, könnten Sie irgendwo anders leben.«

»Zu leben ist nicht alles, was das Leben bedeutet,« zitierte Zitat aus dem Werk » Morals and Dogma of the Ancient and Accepted Scottish Rite of Freemasonry (1871) von Albert Pike (1809-1891), US-amerikaischer Anwalt, Soldat, Schriftsteller und Freimaurer. – Im Zusammenhang: » There is more here, than the world we live in. It is not all of life to live. An unseen and infinite presence is here; a sense of something greater than we possess; a seeking, through all the void wastes of life, for a good beyond it; a crying out of the heart for interpretation; a memory of the dead, touching continually some vibrating thread in this great tissue of mystery.« er eindrucksvoll.

»Das weiß ich, aber es kann ein sehr unbedeutender Teil davon sein.«

Hawk seufzte und schaute aus dem Fenster.

»Warum antworten Sie nicht?« fragte Gertrude und versuchte einen Blick auf sein Gesicht zu werfen.

»Meine liebe Miss Gertrude,« erwiderte er und wandte ihr sein melancholisches Gesicht zu; »es gibt einiges … Sie sollten wirklich nicht versuchen, anderen in die Seele zu schauen; das ist nicht nett von Ihnen.«

Seine eher bittend klingende Stimme nahm dem Tadel die Schärfe und weckte Interesse und Neugier.

»Es stimmt also doch, er hat geheimen Kummer,« dachte Gertrude. »Es muss eine ganz schlechte Frau sein, wenn sie ihn an ein Versprechen bindet, das er ihr als Junge gab und jetzt angefangen hat zu bereuen.«

Und sie verfiel in Vermutungen über das Aussehen dieser widerwärtigen Frau, über ihr Alter und ihre Lebensumstände; und je länger sie grübelte, um so mehr fing sie an, sie zu hassen. Der Doktor wurde als Opfer einer Verfolgung aus Liebe, die er sich durch sein Bildungsverlangen eingehandelt hatte, zu einer interessanteren Person, als er je zuvor gewesen war. Sie war nun überzeugt, dass sie sich ihm gegenüber ungerecht verhielt, wenn sie das Dramatische in seinem Verhalten und seinen Reden einer unangenehmen Eitelkeit und dem Wunsch zu beeindrucken zuschrieb. Er war ohne Zweifel aufrichtiger, als sie geargwöhnt hatte.

Gerade kehrte Nettie mit den Medizinfläschchen zurück und unterbrach ihre Grübeleien. Der Doktor prüfte noch einmal Gertrudes Puls, maß ihre Temperatur, indem er ihr ein Thermometer in die Achselhöhle steckte, stellte einige medizinische Fragen, füllte einen Teelöffel Medizin ab, gab ihn ihr und erließ sorgfältige Anweisungen für ihre Ernährung, die Lüftung des Zimmers usw.

Sein professionelles Verhalten war absolut angemessen. Seine ernste Zartheit, seine sanften, unbedenklichen Berührungen und entschlossenen Bewegungen erweckten Vertrauen. Obwohl sich der Arzt deutlich von dem Mann unterschied, spiegelte er doch ein wenig von dessen Charakter auf seinen unprofessionellen Bruder.

Auf der Treppe traf Hawk mit Aleck zusammen, der sich ängstlich erkundigte, was mit seiner Cousine los sei.

»Mit Gewissheit kann ich das nicht sagen,« antwortete sein Freund; »aber es sieht sehr nach Typhus aus.«

»Typhus!«

»Ja.«

Das Wort traf Alecks Herz mit Schrecken. Er hatte nie den Eindruck erweckt, besonders viel für Gertrud übrig zu haben, aber sie waren irgendwie zusammen aufgewachsen und trotz all ihrer vordergründigen Zänkereien echte Kameraden gewesen. Die Gewohnheit hatte zwischen ihnen eine Haltung begünstigt, die nichts mit Hingabe zu tun hatte, in der aber ein warmes, aufrichtiges Gefühl glomm. Bei dem Gedanken, dass Gertrudes Leben in Gefahr sei, befiel Aleck jedenfalls eine plötzliche Schwäche; und sobald er sich von dem ersten Schock erholt hatte, begann er konfus zu überlegen, was er zu ihrer Rettung beitragen könne.

Hawk betrachtete es als seine Pflicht, den Rest der Familie über die Lage des jungen Mädchens zu informieren; er sorgte für ein Gespräch mit Mrs. Larkin, die in der Zwischenzeit von einem karitativen Gang zurückgekehrt war, und wiederholte ihr die Anweisungen, die er bereits dem Kammermädchen gegeben hatte.

»Ich würde Ihnen empfehlen, eine professionelle Krankenschwester zu engagieren,« sagte er; »die Sache kann sechs oder mehr Wochen dauern, und ein Gutteil hängt von der Krankenpflege ab.«

»In Ordnung, Doktor,« erwiderte Mrs. Larkin mit beleidigter Miene; »Sie sollen sie haben. Sie nimmt allerdings einundzwanzig Dollar die Woche, und wenn das nicht unverschämt ist, dann weiß ich es nicht! Aber gehe davon aus, dass ich nicht gut genug bin, um mich um das Mädchen zu kümmern; und wenn Sie sagen, ich bin's nicht, werde ich nicht sagen: ich bin's. Obwohl: als ich ein Mädchen war, hätte niemand daran gedacht, für irgend jemanden eine Krankenpflegerin für einundzwanzig Dollar die Woche zu engagieren, egal wie krank er war.«

Mrs. Larkin schien alles in Allem von der Krankheit ihrer Adoptivtochter eher beleidigt als bekümmert zu sein, und Hawk musste ihr eine Stunde lang zureden, bevor er sie dazu gebracht hatte, ihren Widerstand auf das unvermeidliche Maß zu reduzieren. Er schlug jedenfalls den richtigen Akkord an, als er argumentierte, dass die äußerst empfindliche Beschaffenheit von Mrs. Larkins eigener Gesundheit es für sie absolut gefährlich mache, wenn sie sich selbst den Mühen und Plagen der Pflege einer Kranken unterziehe, die oft dazu neige, sich unvernünftig und anspruchsvoll zu verhalten.

Dieser kleine Tropfen angedeuteten Tadels an Gertrude brachte Mrs. Larkins Skrupel zur Ruhe und veranlasste sie, nach etlichem Genörgel dem Doktor carte blanche zu gewähren. Sobald er den Eindruck beseitigt hatte, er hege auch nur die geringste Besorgnis um Gertrudes Schicksal oder schwenke ab von seiner ungeteilten Loyalität gegenüber Mrs. Larkins Leiden, hätte er seine Gönnerin um den Finger wickeln können.

Als Mr. Larkin heimkam und von Typhus hörte, wurde er sehr ernst. Er kratzte sich häufig am Kopf und rieb sich die Stirn. Manchmal ergriff er seine buschigen Augenbrauen, zupfte an ihnen und schaute dann auf Daumen und Zeigefinger, ob er dabei Haare ausgerissen habe. Er wurde um so ruheloser, je mehr seine Frau ihm erzählte. Ihre düsteren Ahnungen und Bibelzitate erzürnten ihn. Seine sanguinische Natur konnte es nicht ertragen, einen verdrießlichen Gedanken zu erwägen, und trotzdem waren alle seine Bemühungen, ihn los zu werden, vergeblich.

Als das Abendessen serviert wurde, täuschte er die Nahrungsaufnahme nur vor; nach Beendigung der Mahlzeit erhob er sich und stieg hinauf zu Gertrudes Zimmer. Das Knarren seiner Stiefel machte einen unerträglichen Lärm, und so setzte er sich auf die oberste Stufe und zog sie aus. Genau da schlug die holländische Uhr in der Eingangshalle sieben, und jeder Schlag schien mit quälender Entschiedenheit in der Stille des Hauses widerzuhallen.

Mr. Larkin ging auf Socken weiter und hielt an. Den Kanarienvogel in der Bibliothek, der sich in einer empörend ausgelassenen Stimmung befand, schickte er hinunter in die Küche. Es verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung, etwas tun zu können, das ihm eine Ruhepause vor den drängenden Gedanken gönnte. Als er sich schließlich ermannt hatte, die Tür zum Krankenzimmer zu öffnen, sah er Mrs. Rasher, die eingestellte Krankenschwester, schon an Gertrudes Bett sitzen.

Verwundert schaute er im Zimmer umher und kratzte sich wiederum am Kopf, während eine komische Grimasse, halb Staunen, halb Missbilligung, eine Seite seines Gesichts verzerrte. Er inspizierte die Gipsabgüsse, die Kohle- und Buntstift-Schachteln und die nackten Männer, die auf den Wänden posierten, bevor er seine Aufmerksamkeit seiner Tochter zuwandte.

»Armes Ding, ich glaub', sie is' 'n bisschen verrückt,« murmelte er und blieb, in Träumerei versunken, mitten im Zimmer stehen; »genau so war ihre Mutter früher auch,« fügte er nach langer Pause hinzu.

Auf Zehenspitzen schlich er zum Bett und setzte sich in den Lehnstuhl, den zuvor der Doktor benutzt hatte. Gertrude lag in schwerer Benommenheit da infolge der verabreichten Medikamente. In Mr. Larkins harten, grauen Augen war keine Spur von Gefühl zu erkennen, als er bei ihr saß und auf ihre geröteten, bewegungslosen Züge schaute; aber er warf dann und wann einen unbehaglichen Blick auf die Pflegerin, als fürchte er, dass sie ihn verdächtige, gefühlvoll zu werden. Sie spürte, dass sie de trop sei, stand auf und begab sich hinaus auf den Flur; und Mr. Larkin ergriff die Gelegenheit, die apathische Hand seiner Tochter zu streicheln und einen schweren Seufzer auszustoßen, der seinen ganzen Körper erschütterte. Es lag eine hilflose Scheu darin, wie er seine Hand in dem Augenblick zurück zog, als die Schwester wieder eintrat.

»Meinen Sie, sie hat eine Chance?« fragte er sie ein wenig heiser, als sie wieder ihren Platz am Fuß des Bettes eingenommen hatte.

»Es ist noch zu früh für eine Antwort,« erwiderte sie; »aber sie ist jung und stark, und ich würde sagen, ihre Chancen stehen zehn zu eins.«

Mr. Larkin traute sich nicht, ein weiteres Mal zu sprechen; er fürchtete seine Würde zu gefährden.

   

Während der acht bis neun folgenden Tage hatte Gertrude nur wenige lichte Momente. In ihrem Delirium phantasierte sie über den Doktor, Professor Ramsdale, Mr. Robbins und besonders über ein imaginäres Geschöpf, das sie als »Mutter« ansprach.

»Komm, Mutter,« rief sie immer wieder; »du siehst kalt und elend aus. Komm, lass mich dich wärmen. Ich bin Gertie, weißt du nicht? Ich tu dir nichts. Sie sind schlecht zu dir gewesen, Mutter. Wer war es, der so schlecht zu dir war? Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich bin es, die manchmal Angst vor dir hat, aber ich werde versuchen, keine Angst zu haben. Ich will versuchen, dich lieb zu haben. Aber … oh, schau mich nicht mit diesen furchtbaren Augen an!«

Und dann fuhr sie mit einem Schrei auf und begrub ihr Gesicht in den Kissen. Manchmal kam sie bei dem Versuch, den geisterhaften Augen zu entfliehen, bis in die Mitte des Flurs, und man konnte sie nur mit zusätzlicher Hilfe wieder zurück ins Bett befördern.

Hawk erschien zwei- oder dreimal am Tag, schien aber nicht ganz zufrieden mit dem Verlauf der Krankheit. Er hätte gerne einen anderen Arzt zu Rate gezogen, aber er stand mit seinen medizinischen Kollegen der Stadt auf dem Kriegsfuß und hatte ohnehin eine so geringe Meinung von ihren Fachkenntnissen, dass er sich zu der ehrwürdigen Posse, sie um ihre Meinung zu bitten, außerstande fühlte.

Da jedoch etwas getan werden musste, veranlasste er Mr. Larkin, einem bekannten New Yorker Spezialisten zu telegraphieren, dessen Urteil er sich unterordnen konnte, ohne sich selbst zu demütigen. Der berühmte ›Blutsauger‹ indes, der unverzüglich eingetroffen war, konnte nur wenig sagen. Er bestätigte im Ganzen alles, was Hawk unternommen hatte, entschied sich aber, einige Tage zu bleiben, so lange sein Beistand von Wert sein könne.

Das Fieber hatte am neunten Tag die Krisis erreicht, und eine Atmosphäre dumpfer Erregung durchzog das Haus. Flinke, leise Anweisungen wurden aus dem Krankenzimmer erteilt, mal für Eis, dann wieder für Weinbrand, Kampher, heißes Wasser, Schwämme, Handtücher usw. Zuweilen huschte die Krankenschwester mit ihren bis zu den Schultern hoch gerollten Ärmeln geräuschlos über den Flur bis zur Treppe, wo das Kammermädchen heulend saß und wischte ihr hastig die Tränen mit ihrer Schürze fort, damit sie ihren Anweisungen folge; Gerties Kanarienvogel, der irgendwie seinen Weg zurück in die Bibliothek gefunden hatte, lag verhungert auf dem Boden seines verdunkelten Käfigs; die große Uhr in der Eingangshalle erweckte mit ihrem bewegungslosen Pendel den Eindruck, dass sogar die Zeit selbst ihr Ende erreicht habe.

Alexander saß vor dem offenen Kamin, starrte in die glühende Asche und fühlte sich erschöpft und bedrückt. Er war tagelang in einem Zustand ängstlicher Erwartung herum gewandert; das Unheil, das sich vor seinen Augen erhob, schien sein gesamtes Leben in Dunkel zu hüllen. Es kam ihm vor, als müsse er auf ewig in dessen Schatten einher wandeln. Könnte das Leben je wieder dasselbe sein, wenn Gertrude tot wäre? Nun, das Leben richtete sich herzlos auf jeden Wechsel ein, wie radikal er auch sein mochte; es schloss sich über den Toten, wie das Meer mit seiner unbewegten Oberfläche, und tilgte ihre Fußspuren.

Obgleich sein Herz gegen diese Regel rebellierte, wusste Alexander um deren Barmherzigkeit. Schon jetzt herrschte etwas Fernes, Rätselhaftes in seinen Gedanken an Gertrude, als ob sie bereits halb aus seinem Leben verschwunden wäre. Was machten sie mit ihr, diese strengen Doktoren, in deren Hände sie überliefert war, abgeschnitten von der vertrauten Welt, die sie bisher umgeben hatte? Sie vollzog in seinen Gedanken eine einzigartige Umwandlung, und er fand es schwierig, sich sogar in seiner Phantasie ihre frühere Beziehung von schlichter neckischer Vertrautheit zu vergegenwärtigen.

Er verbrachte die ganze Nacht in seinem Sessel vor dem Feuer, erhielt nur dann und wann einen Besuch seines Onkels, der auf Socken ruhelos von Raum zu Raum schwebte. Es schien ihm etwas auf dem Gewissen zu liegen, das er Aleck anzuvertrauen wünschte, aber anscheinend bei nochmaliger Überlegung doch bei sich zu behalten beschloss. Er sah abgezehrt aus von zu wenig Schlaf. Seine Gesichtszüge hatten ihre resolute Festigkeit verloren und hingen kläglich herab. Lange stand er am Fenster, dessen Rolladen zu schließen man vergessen hatte, und starrte auf die großen dunklen Wolken, die über die Baumspitzen eilten.

»Der … der Wind weht nordwärts,« bemerkte er, als er sich zum Feuer setzte; »es sieht nach Schnee aus.«



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