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XXIX.
»Ein Raubtier.«

Das Gespräch mit dem alten Herrn, das dem Doktor so viel Kopfschmerzen verursacht hatte, lief entschieden angenehmer ab, als er erwartet hatte. Der Ehrenwerte Obed behandelt die Sache, als betreffe sie ihn gar nicht sonderlich. Er hörte sich alles, was der Doktor zu sagen hatte, mit unverbindlichem Gesichtsausdruck an, als gehe es um einen geschäftlichen Vorschlag, dessen Nutzen er im Ganzen als eher fraglich einstufe. Dass diese Verlobung ihn nicht freute, wurde hinreichend deutlich; aber es blieb schwer zu entscheiden, wie sehr sie ihm missfiel. Er anerkannte die freie Entscheidung seiner Tochter bei Angelegenheiten dieser Art mit einer Liberalität, die bei einem Mann seiner eigensinnigen Veranlagung ziemlich überraschte.

Wäre es einer der Tutoren der Universität gewesen, der auf der Grundlage eines unzureichenden Einkommens mit diesem Heiratsantrag gekommen wäre, so hätte Mr. Larkin seinen Rat mit bedeutend mehr Ungezwungenheit und Autorität erteilt. Seine Tochter erschien ein so rätselhaftes Wesen und so weit jenseits seiner Kontrollmöglichkeiten, dass er nicht wusste, wie er ihr erfolgreich entgegentreten sollte, wenn sie es sich tatsächlich in den Kopf gesetzt hatte, diesen Mann zu heiraten. Er betrachtete es als die eigene Angelegenheit der Mädchen, sich ihre Männer zu wählen, und er empfand es deshalb nicht als ruchloses Vergehen von Gertrudes Seite, dass sie es hierbei mehr sich selbst als ihm Recht machen wollte.

Erst als er mit seiner Frau die Verlobung besprochen hatte, begann er zu ahnen, dass er die Sache vielleicht zu unbekümmert angegangen war; aber nachdem er bereits eine bindende Zusage gegeben hatte, wäre es nicht ehrenhaft gewesen, sie wieder zurück zu ziehen.

Mrs. Larkin vertrat nämlich eine abweichende Meinung. Die Dickfelligkeit ihres Gatten und die schändliche Fahnenflucht des Doktors griffen sie so ernstlich an, dass sie zu Bett gehen musste und im Haus den Duft starker Arzneien verbreitete. Wie sie da im Bett lag, die großen, fetten Hände über der Brust gefaltet, und jedesmal stöhnte und seufzte, wenn einer in Hörweite kam, wirkte sie wie die heiligmäßigste, misshandeltste Kreatur dieser Welt.

Mr. Larkin war während der ersten Jahre seiner Ehe durch diese plötzlichen unberechenbaren Anfälle außerordentlich beunruhigt worden. Die Erfahrung hatte ihn allerdings abgestumpft. Er nahm sie nun sehr gelassen, trug der Marotte seiner Frau insoweit Rechnung, als er sich zwei- oder dreimal nach ihrem Zustand erkundigte, schmunzelte aber dabei über ihre »Kapriolen« als etwas dunkel und unergründlich Weibliches, mit dem Männer sich abfinden mussten, auch wenn sie nicht behaupten konnten, es zu verstehen. Er neigte dazu, jede Frau als ein Bündel solcher vertrackten, geheimnisvollen Eigentümlichkeiten anzusehen und sie daher nicht ernst zu nehmen, sondern mit liebvollem Humor zu erdulden.

   

Die Wahlen im November ergaben erwartungsgemäß einen Sieg der Republikaner; was indes mehr Kommentare hervorrief als der Triumph der Partei, war die Tatsache, dass Horace Larkin fünfhundertachtundvierzig Stimmen über die Wahlliste hinaus erhalten hatte. Eine solche Mehrheit war absolut phänomenal und ließ sich nicht auf legitime Weise erklären.

Von einigen der zweihundertdreißig Iren, die ihre Tätigkeit in Saginaw glücklich beendet hatten und gerade rechtzeitig zu den Wahlen heimgekommen waren, hieß es, sie seien sehr zuversichtlich während der Wahlwoche gewesen; und eine Anzahl anderer, die nicht in Saginaw gewesen waren, hatte man im Büro auf der Hauptstraße gesehen, wo sie erklärten, dass sie sich noch nicht entschieden hätten, wen sie bei der Wahl zur Landkreisversammlung unterstützen würden, und dass etwa zwanzig ihrer Freunde noch ebenso unentschieden seien.

Ihre Unentschiedenheit hatte sich allerdings auf geheimnisvolle Weise in Begeisterung verwandelt, und der Kandidat der Demokraten, der in der Prozession am St. Patrickstag Der Heilige Patrick, ein irischer Bischof des 5. Jh., ist der irische Nationalheilige; der Patrickstag, dessen symbolische Farbe grün ist, wird am 17. März begangen. einen grünen Anzug trug, musste feststellen, dass sein ganzes Einschmeicheln nutzlos gewesen war, und erklärte niedergeschlagen, dass »das Spiel aus« sei. Als dieser Gentleman sich einen der führenden Hibernier wegen seiner Verräterei vorknöpfte, bemerkte der rücksichtslos:

»Se könn' mit Sirup mehr Flieg'n fang' als mit Essig.«

Nachdem dies gebührend kommentiert worden war, deutete man es dahingehend, dass Horace Larkin die Patrioten von der smaragdgrünen Insel bestochen habe. Von keinem von ihnen war jedoch das Eingeständnis einer solchen Beeinflussung heraus zu holen.

»Nich' 'mal mit'm Lastkran könn' Se 'n Dollar aus dem 'raus hol'n,« versicherte einer der Besucher im Büro.

»V'leich' mit'm Kork'nzieh'r,« schlug ein anderer vor.

»Nee, beim Schorsch! Der steht so fest auf sein' Füß'n und hat immer noch seine Zunge 'm Zaum, wenn er besoff'n is', wie ich noch kein' geseh'n hab'.«

»Ah, schieß dir nich' in die Backe! Der is' nie besoff'n, niemals. Der lässt nur 'n bisschen den Vornehmen 'raushäng', wenn de besoffen bist. Der hat die ganze Zeit so'n kühl'n Kopp wie 'ne frische Gurke.«

Es wird aus diesen Bemerkungen zu ersehen sein, dass Horace die schwierige Aufgabe gemeistert hatte, das Vertrauen »des arbeitenden Mannes« zu erwerben. Er hatte, wie andere Kandidaten für das Amt, Kneipen besucht, dem Haufen dort einen ausgegeben, Fünfdollarscheine auf den Tresen geknallt und das Wechselgeld zurückgewiesen (denn solche Praktiken wurden für einen Politiker als ziemlich anständig angesehen); aber etwas Ernsteres konnte ihm nicht nachgewiesen werden. Das war jedenfalls nicht verantwortlich für seine außergewöhnliche Mehrheit oder das große Übergewicht, das er sofort bei politischen Beratungen gewann. Er war seither eine Macht, mit der man rechnen musste.

   

Am Abend nach dem Wahltag, während all diese Gerüchte um seine Ohren summten, begab sich Horace zum Pfarrhaus, um die Glückwünsche seiner fiancée entgegenzunehmen. Er hatte sie notgedrungen etwas vernachlässigt während der Mühen und Aufregungen der Wahlkampagne, und er glaubte, dass die krampfhafte Miene, mit sie ihn grüßte, diesem Umstand geschuldet sei.

Ihr Vater, der sich auch in dem Raum befand, empfing ihn mit eher überflüssiger Förmlichkeit, und Horace begriff rasch, dass etwas Ungewöhnliches in der Luft lag. Er war sich in seinem Selbstwertgefühl zu sicher, um sich von irgend jemandes Missbilligung beunruhigen zu lassen; er setzte sich in seiner üblichen Sofahaltung zurecht und verzog sein Gesicht zu seinem trägen, überlegenen Lächeln, während er darauf wartete, dass der Pastor ihm wegen seiner Vergehen die Leviten las.

Über dem Tisch hing eine beschattete Doppellampe, deren weiches gelbliches Licht sich in den Raum verteilte. Die Wände bedeckten niedrige Buchregale, deren Bretter vorn mit kastanienbraunem Leder verkleidet waren; sie enthielten theologische Werke, ganz in schwarz gebunden, sowie die Werke von Dichtern und Romanschriftstellern, in braunem Kalbsleder mit Baummusterprägung oder in Maroquinleder. Die Ausstattung schuf eine Atmosphäre üppiger Annehmlichkeit und Verfeinerung, die ihren Eindruck auf Horace, so oft er diesen Raum betrat, nie verfehlte.

Mr. Robbins, der sich bei solchen Anlässen nach einigen liebenswürdigen Bemerkungen über das Wetter zu absentieren pflegte, zeigte heute keine Neigung, diesem rücksichtsvollen Brauch zu entsprechen. Er legte sein Buch auf den Tisch, räusperte sich mit nach unten geneigtem Gesicht ein paar Mal und wirkte äußerst unbehaglich.

Wo sollte er – ein gutmütiger älterer Herr – den Mut her holen, um diesen respekteinflößenden jungen Mann, mit seinem kolossalen Selbstvertrauen und seinem dickhäutigen Gewissen, zurecht zu weisen? Wäre er nur ein echter Priester Gottes mit dessen Autorität, seufzte er, wie schon so oft – wie würde er dann sprechen, und wie würden die Hindernisse schwinden, die sich jetzt auf seinem Pfad türmten! Sein Pflichtgefühl würde ihm freilich nicht gestatten, schweigend zu verharren, wo seines Kindes Glück auf dem Spiel stand. Sie hatte ihn so kläglich gebeten, die Sache ohne Beachtung vorüber gehen zu lassen; sie hatte geweint, ihn beschworen und liebkost; aber je mehr er über die Angelegenheit nachdachte, desto schlimmer sah sie aus, und um so zwingender erschien seine Pflicht zu sprechen.

»Wie man hört, wurden Sie gewählt, Mr. Larkin,« fing er mit einiger Mühe an.

»Ja,« sagte Horace höflich; »ich bin ganz zufrieden.«

»Und sind Sie sicher, dass Sie mit sich selbst wunschlos glücklich sind, wenn Sie – wie soll ich mich ausdrücken? – wenn Sie Ihre Handlungsweise im Lichte des Wortes Gottes und ihres eigenen Gewissens überprüfen?«

Bella, die neben ihrem Vater saß, konnte ihre Nervosität nicht mehr unterdrücken; sie stand auf und ließ sich auf einem Fußstühlchen nahe dem von Horace besetzten Sessel nieder. Es war, als wünschte sie, ihr Schicksal an seines zu ketten – ihre Treuepflicht zu kennzeichnen und die Wirkung der Worte ihres Vaters zu entschärfen.

»Mit fünfhundertachtundvierzig Stimmen jenseits der Liste kann man sich mit einer ganzen Menge Dinge versöhnen,« sagte Horace ruhig.

Diese Antwort reizte Mr. Robbins irgendwie.

»Versöhnt Sie das auch mit Ihrer ewigen Verdammnis?« rief er mit blitzenden Augen.

»Oh, Papa, was sagst du da?« schrie Bella erschreckt auf und rückte noch enger zu Horace, stützte sich auf die Lehne seines Sessels und streichelte seine Hand.

»Warten Sie 'mal, Pfarrer,« stieß letzterer lachend hervor. »Ewige Verdammnis? Ist das nicht ziemlich übers Knie gebrochen?«

»Sie wissen ganz gut, was ich meine,« entgegnete Mr. Robbins in ruhigerem Ton; »Sie haben bei dieser Kampagne Dinge getan, die niemand tun darf, ohne sein Seelenheil zu gefährden.«

»Nun, das Risiko gehe ich ein,« sagte Horace mit einem Nachdruck, als spreche er sein letztes Wort und wünsche das Thema abzuschließen.

»Großer Gott, Mann! Wenn Sie wüssten, wie blasphemisch Sie daher reden!« schrie der Pfarrer mit plötzlicher Heftigkeit.

Der junge Mann straffte sich in seinem Sessel, beugte sich vor und starrte den Geistlichen mit kampflustigem Leuchten in seinen grauen Augen an.

»Könnte ich dich nicht vernichten – könnte ich dich nicht zu Staub zermahlen, wenn ich es für wert hielte?!« schien dieser Blick zu besagen. Aber sein Verhalten blieb ohne jede Spur von Erregung, als er fragte:

»Pfarrer, haben Sie das Gleichnis vom ungerechten Hauswalter Siehe Anm. 14. gelesen?«

Die Frage kam so unerwartet, dass Mr. Robbins kaum wusste, was er hätte antworten sollen.

»Ich geh' 'mal davon aus,« fuhr Horace fort; »und Sie erinnern sich, wie Christus ihn dafür lobte, dass er seinen Herrn betrog und dessen Schuldnern einen ruinösen Preisnachlass zumutete.«

»Das bedeutet nicht, dass Christus dem Hauswalter zustimmte,« protestierte Mr. Robbins.

»Was bedeutet es dann?«

»Es bedeutet, dass Gott, der Herr, den Kindern des Lichts die Notwendigkeit einzuprägen wünschte, auf die guten Taten ebenso viel Energie und Genialität zu verwenden, wie die Kinder der Dunkelheit auf die bösen Taten.« Siehe dazu die in Anm. 14 wiedergegebene heutige theologische Deutung des Gleichnisses.

»Das ist meiner Meinung nach eine ziemlich weit hergeholte Deutung. Der Kern des Gleichnisses ist in diesen Worten enthalten: ›Schließt darum Freundschaft mit dem ungerechten Mammon.‹«

»Und damit wollen Sie sagen, dass die Bibel Ihnen die Befugnis erteilt, in ordinäre Kneipen zu gehen, mit allen möglichen Rüpeln zu trinken, Zehndollarscheine auf die Theke zu schmeißen und das Wechselgeld abzulehnen?«

»Wirklich, Papa: wie kannst du so mit Horace sprechen?« brach es aus Bella ungestüm heraus. »Ich bin sicher, dass er nie dergleichen getan hat.«

Horace schoss ihr einen Seitenblick zu, in dem Mitgefühl aufleuchtete.

»Sei da nicht zu sicher!« sagte er.

»Da! Hörst Du?« schrie Mr. Robbins eifrig; »er schämt sich nicht für das, was er getan hat. Er ist stolz darauf.«

»Oh, ja,« sagte der Delinquent gedehnt, »er ist kein bisschen reumütig.«

»Und Sie halten es für ehrenwert, wenn ein Mann Ihrer Stellung sich auf solche Praktiken einlässt? Haben Sie bedacht, dass der Name, den Sie tragen, in Kürze der meiner Tochter sein wird, und dass es sich um eine Sache von einiger Bedeutung handelt, sowohl für mich wie für sie, wenn Sie sich entscheiden, ihn zu beflecken?«

Es herrschte eine ängstliche Stille im Raum, unterbrochen nur vom leisen Summen der Lampe und dem Stakkato von Bellas Atmen. Horace' Gesicht verhärtete sich, und seine Augen bekamen etwas kalt Verkniffenes.

»Mr. Robbins,« sagte er mit rauher, schneidender Stimme, »Sie haben sich mehr Autorität über mich angemaßt, als ich Ihnen wohl zugestehen darf. Wenn meine Handlungen Sie und Ihre Tochter in Misskredit bringen, ist es nur anständig, wenn ich Sie beide von Ihren Verpflichtungen mir gegenüber befreie. Guten Abend!«

Er war mit fest geschlossenen Lippen aufgestanden und knöpfte seinen Mantel mit einer Miene trotziger Entschlossenheit zu. Da klang ein leises Wimmern, gefolgt von krampfhaftem Schluchzen, vom Teppich empor, wo Bella auf dem Fußstühlchen hockte.

»Oh, Horace, verlass mich nicht, geh nicht fort!« jammerte sie, umschlang seine Füße und klammerte sich an sie.

»Meine Liebe,« sagte er, indem er sich bückte und sich von ihrer leidenschaftlichen Umklammerung befreite; »es tut mir leid, dich zu verletzen, aber wir müssen uns trennen. Da ist nichts zu machen.«

Er ging durch die Tür hinaus, hörte aber noch mit unbändigem Herzweh, wie sie seinen Namen mit anrührend unvernünftiger Beharrlichkeit rief, wie sie in der Wundheit ihres gebrochenen Herzens schluchzte und wie ihres Vaters Stimme sie zu besänftigen suchte. Er blieb eine Weile auf dem Bürgersteig stehen und hörte hin; und jedes Mal, wenn er seinen Namen in diesem grellen Kreischen, diesem kläglichen Ton hörte (wie von einer Stimme, die sich durch Weinen längst erschöpft hatte), erhielt seine Entschlossenheit einen Schock, und er konnte sich kaum davon abhalten, zurück zu gehen und Buße zu tun. Das freundliche warm-gelbe Licht strömte hinaus durch die Spalten der Rolladen und schien ihn zurück zu locken.

Er hatte dies getan; er hatte diesen grausamen Schmerz bereitet; und trotz des sehr gelegenen kommenden Vorwandes: er hatte es vorsätzlich getan. Er war jetzt nicht stolz auf sich, doch inmitten seiner Selbstvorwürfe sagte ihm sein Unterbewusstsein, dass das Ziel dieses Opfer wert war. Er war ein Raubtier und sicherte sein Überlebensrecht, mehr nicht. Wenn er sich dem Gefühl unterwarf (und es ist weit leichter, sich ihm zu unterwerfen als ihm zu widerstehen), dann würde er sich lediglich selbst aus der Schlacht ums Dasein als nennenswerte, mächtige Kraft aussondern. Und er spürte in jeder Fiber seines Wesens, dass er zur Führerschaft geboren war.

Er schlenderte langsam durch die feuchte, wolkige Novembernacht und grübelte über das tiefe Problem des Daseins.



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