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XXVIII.
Ein demoralisierender Gummischuh.

Das erste Ergebnis von Alecks Abreise bestand in der Entfernung des Schildes über der Bürotür, welche in goldenen Großbuchstaben die Aufschrift trug:

GEBRÜDER LARKIN,
ANWÄLTE UND RECHTSBERATER,

und der Anbringung eines neuen, kleineren, auf der das Unternehmen reduziert war auf:

HORACE LARKIN,
ANWALT UND RECHTSBERATER.

Zu Oktoberbeginn fand der Parteitag der Republikaner statt, und der für die Landkreisversammlung vorgesehene Gentleman wurde erwartungsgemäß nominiert. Er hatte keine engagierte Kampagne geplant, da es nicht um große Streitpunkte ging, und er fühlte sich einigermaßen zuversichtlich im Hinblick auf seine Wahl.

Nichtsdestoweniger wurde gegen Mitte des Monats in › Tappan's Opera House‹ eine Ratifizierungsversammlung einberufen, und Horace wurde zu einer Rede verdonnert. Es war eine große, begeisterte Zusammenkunft, die Bestürzung in den Reihen der Demokraten verursacht hätte, wäre da nicht etwas vorgefallen, das von der Oppositionszeitung stark aufgebauscht wurde und Material für endloses Gequake bot.

Horace war ziemlich gut mit seiner Beredsamkeit vom Stapel gelaufen und gab ein bewegendes Bild der beklagenswerten Situation der armen Neger in den Südstaaten, die nicht wählen dürften und deren Leben insgesamt zu traurig sei, um ohne Tränen betrachtet zu werden, als plötzlich ein Gummischuh in Richtung des Redners durch die Luft flog, die Gaslampe traf und zwei Glaskolben auf die Köpfe zweier ehrenwerter glatzköpfiger Bürger niedergehen ließ. Einer von ihnen, ein reizbarer Mann, ergriff das Wurfgeschoss, schleuderte es aufs Geradewohl in die Richtung, aus der es gekommen war, und traf Professor Dowd mit solcher Kraft auf die Nase, dass er seinen Stuhl umwarf und rückwärts in den Schoß eines alten Farmers fiel. Einige Studenten, die wahrscheinlich verantwortlich waren für den ersten Flug des Gummischuhs, sorgten dafür, dass dieser in Bewegung blieb, und während der Redner, der so tat, als habe er die Störung übersehen, sich gerade in einer gigantischen Tirade gegen die rebellischen Brigaden erging, traf ihn das feucht schwabbelnde Ding in seiner unverhersehbaren Rotation am Mund und haute ihn fast vom Podium.

Es war das erste Mal in seinem Leben, dass Horace die Fassung verlor.

»Der verdammte Dummkopf, der diesen Gummischuh geworfen hat,« schrie er, weiß vor Wut im Gesicht, »ist – ist …« Aber dann fiel ihm plötzlich ein, dass er sich an die Wähler richtete, denen er auf Gedeih oder Verderb ausgeliefert war, und mit abrupter Mäßigung des Tones schloss er: »ist kein Gentleman.«

Die unbeabsichtigte Komik dieses Ausrufs traf auf die Zuschauer mit unwiderstehlicher Gewalt. Lautes Wiehern in schrillem jugendlichem Diskant und in alten heiseren Bässen übertönte die Stimme des Redners, als er fortzufahren versuchte; und jedes Mal, wenn er den Mund öffnete, brach eine neue Welle von Gelächter los und schwappte über die Menge, bis die Fensterscheiben wackelten und die Gasleuchten zitterten.

Horace war klar, dass gegen Gelächter nicht zu streiten war, und zog sich umgehend vom Podium zurück, gefolgt von Mr. Dallas, dessen unterstützende Worte unerwartet kühl ausfielen, weil er in diesem Gummischuh-Zwischenfall und dem darauf folgenden Gelächter ein Hinweis sah, dass er vielleicht Horace' Popularität überschätzt hatte. Horace brauchte nicht lange, um diesen Unterton in den Bemerkungen des Parteiführers zu erfassen, und erkannte zugleich, dass er durch eben diesen unglückseligen Gummischuh aus dem Rennen geworfen werden könnte. Er musste wieder zu sich kommen, das war offensichtlich, oder sein Prestige wäre dahin.

Und so trat Horace, nachdem Mr. Dallas seine Bemerkungen über die republikanische »Paartei« Siehe Anm. 11. beendet und sich in gewaltige Erregung hinein gearbeitet hatte, lächelnd vor und bat um Erlaubnis, eine Geschichte zu erzählen. Der Vorsitzende hatte gute Lust, ihm dieses Recht zu verweigern, gab jedoch nach reiflichem Überlegen widerwillig seine Zustimmung.

»Dieser Gummischuh, der meinen Mund für einen Augenblick verschloss,« begann er im leichten Unterhaltungston, »erinnert mich an einen Vorfall, der sich während des Sezessionskrieges ereignete. Ein magerer, rheumatischer Yankee, ziemlich in den Vierzigern, hatte sich im ersten Begeisterungssturm für die Sache der Union als Freiwilliger gemeldet. Er nahm an der ersten Schlacht am Bull Run Die erste Schlacht am Bull Run, die erste größere kriegerische Auseinandersetzung des Sezessionskrieges, fand am 21. Juli 1861 nördlich von Manassas im Staat Virginia statt; sie endete mit einer Niederlage der Unionstruppen und deren ungeordnetem Rückzug. teil und verausgabte sich während der Gewaltmärsche in der fürchterlichen Julihitze ganz und gar. Um die Sache noch schlimmer zu machen, hatten seine Stiefel, die sowieso schon schlecht saßen, ein großes Stück von einem der Absätze eingebüßt, und er hätte mit seiner Kompanie nicht weiter Schritt halten können, wenn nicht eine wohltätige Seele ihm einen alten Gummischuh geschenkt hätte. So humpelte er mit, so gut er konnte; aber nach einer Weile fiel er wieder zurück.

›Auf mit dir, Alter,‹ schrie der Sergeant ihn an; ›keine Zeit zum Faulenzen!‹

Der Alte hoppelte mit äußerster Anstrengung weiter, fiel aber erneut zurück.

›Pass auf, altes Haus,‹ schrie der Sergeant, ihn in den Hintern tretend, ›wenn du dich nicht auf die Socken machst, kommt du ins Loch.‹

Der arme Kerl wandte sein bleiches Gesicht geduldig leidend seinem Captain zu (von dem ich übrigens die Geschichte habe) und sagte: ›Cap'n, ich will verdammt sein, wenn meine Liebe jemals einem andern Land gehört.‹

Nun, meine Mitbürger, das ist genau mein Fall. Dieser Mann sprach mir aus dem Herzen – und aus dem Herzen jedes loyalen Amerikaners. Wenn ich auch nie eine so strenge Prüfung zu bestehen hatte wie er, so rufe ich doch mit ihm: ›Ich will verdammt sein, wenn meine Liebe jemals einem andern Land gehört.‹«

Der Übergang zu einer zündenden patriotischen Suada und einer beleidigenden Anklage der Demokraten, die, wie der Sprecher behauptete, nicht eine vereinigtes, sondern ein uneiniges Land wollten, war ziemlich leicht zu erzielen. Horace selbst war sich darüber im Klaren, dass er die Bedeutung und die Pointe seiner Anekdote ins Gegenteil verkehrt hatte, denn der Soldat, von dem er gesprochen hatte, wollte offensichtlich andeuten, dass die Liebe zu seinem Land ihm miese Fußbekleidung eingebracht habe; aber gegenwärtig war keiner der Anwesenden feinsinnig genug, einen solchen Unterschied zu machen.

Ohnehin ließ ihnen Horace gar keine Zeit zu kritischer Nachfrage; da er spürte, dass seine Karriere auf dem Spiel stand, übertraf er sich vielmehr selbst in mitreißend leidenschaftlicher Rhetorik. Er riss die Leute von den Stühlen und brachte sie außer Rand und Band vor kämpferischer Begeisterung. Als er sich nach einer halben Stunde lächelnd und schwitzend hinsetzte, umdrängten ihn die Parteiführer und drückten unterwürfig seine Hände; die Menge ließ ihn hochleben, stampfte mit den Füßen und trommelte mit Stöcken und Schirmen auf den Fußboden. Es war tatsächlich ein Triumph, trotz des demoralisierenden Gummischuhs.

   

Das zweite Ergebnis von Alecks Abreise war kaum weniger bedeutsam. Gertrude, die ihm ja nun den Schmerz zugefügt hatte, den sie ihm eigentlich hatte ersparen wollen, sah keinen Grund mehr, ihre Verlobung geheim zu halten. Sie erließ dem Doktor daher sein Versprechen und riet ihm, ein offizielles Gespräch mit ihrem Vater zu führen.

Der Doktor bekundete große Befriedigung über diese Regelung, war gleichwohl nicht ganz so erfreut, wie er zu erscheinen wünschte. Tatsache war: er hatte nicht den Mumm zu einem Gespräch mit dem alten Herrn. Er wusste, dass dem Ehrenwerten Obed jegliches höfliche Drumherumreden fremd war. Mr. Larkin fiel nie aus der Rolle, konnte aber ohne die geringste Erregung hart zuschlagen. Hawk schreckte vor einer Begegnung mit seiner brutalen Offenheit zurück und entschied sich, zuerst Horace vorsichtig sein Geheimnis zu enthüllen, um dessen Gesinnung ihm gegenüber zu prüfen. Der Vorfall mit dem Testament war ihm peinlich und machte ihn verlegen, denn natürlich wusste er, dass Horace seinem Werben unwürdige Motive unterstellen und ihm geradewegs ins Gesicht sagen würde, dass er ein mutmaßlicher Glücksjäger, wenn nicht noch etwas Schlimmeres, sei.

Am Tag nach der Ratifizierungsversammlung schaute er im Büro auf der Hauptstraße vorbei, wo er Horace dabei antraf, wie er in Hemdsärmeln seinem Angestellten Briefe diktierte. Er blickte fragend auf, als der Doktor eintrat, und erwiderte seinen Gruß mit einem achtlosen Nicken.

»Gibt es irgend etwas, das ich für Sie tun kann, Doktor?« fragte er kühl.

»Oh, nein, ich wüsste nicht, was,« entgegnete Hawk in kameradschaftlichem Ton, »aber ich sag' Ihnen 'was, alter Junge: das war eine großartige Rede, die Sie da gestern abend gehalten haben. Sie haben den richtigen Ton getroffen. Es hat mich total mitgerissen. Ich dachte, ich schau 'mal 'rein und gratuliere Ihnen zu Ihrem Sieg.«

Er war ziemlich überschwänglich und bestand trotz der Unempfänglichkeit des Anwalts darauf, seine Hand zu ergreifen.

»Gut,« sagte dieser ernst, »kommen wir auf den Punkt. Was wollen Sie wirklich? Wollen Sie Geld borgen?«

Hawk, der eigentlich beleidigt war, lächelte schwach über diesen grimmigen Scherz und rief mit forcierter Heiterkeit:

»Sie sind ein unverbesserlicher Witzbold; aber tatsächlich wollte ich Sie wegen etwas anderem sprechen, obwohl es sich nicht um Geld handelt.«

Er fühlte sich in Gegenwart dieses Mannes immer im Nachteil; dessen kühle Unverfrorenheit ärgerte und entrüstete ihn. Was er auch sagte, im Moment des Aussprechens schien es ihm albern; und um es zu berichtigen, verfiel er nur auf etwas, das noch alberner war. Er befand sich in der Rolle eines Schauspielers, der nur vor einem mitfühlenden Publikum gut spielte. Aber er konnte es sich nicht leisten, seinen Groll zu zeigen, wenn so viel auf dem Spiel stand, und darum verbarg er seine Missgelauntheit unter dem Mantel demonstrativer Kameradschaftlichkeit.

»Sie können zum Essen gehen, Lawson,« sagte Horace zu seinem Angestellten; »seien Sie in einer Stunde zurück.«

Der Angestellte schob seine Papiere zusammen und verschwand.

»Also, Doktor,« bemerkte der Anwalt, sich an den Schreibtisch setzend und seine Briefe durchstöbernd, »geht es um eine Scheidung oder nur um den Bruch eines Eheversprechens?«

»Weder noch,« erwiderte Hawk mit unbehaglichem Lachen, »es geht genau um das Gegenteil.«

»Dann gehen Sie besser zum Pfarrer, ich bin zwar auch Friedensrichter, habe jedoch nie das eheliche Band geknüpft.«

»Jetzt machen Sie es einem Kumpel doch nicht so verteufelt schwer. Sie haben vielleicht bemerkt – oder vielleicht auch nicht – dass ich Ihrer Cousine, Miss Gertrude, sehr ergeben bin.«

»Oh, ja, ich habe bemerkt, dass Sie da etwas am Laufen hatten, seit Sie meines Onkels Testament beglaubigten.«

»Das ist jetzt entschieden mehr, als ich ertragen kann, Mr. Larkin. Ich versichere Ihnen, dass ich sie schon seit Jahren liebe …«

»Ja, aber Sie haben es erst herausgefunden, nachdem Sie diesen Blick auf das Testament geworfen hatten. Ich tadle Sie trotzdem nicht. Ein paar Hundertausend machen ein Mädchen schon besonders liebenswert.«

Der Doktor biss sich auf die Lippe und wurde rot vor Wut. Horace saß unerschütterlich mit dem Rücken zu ihm und kramte in seinen Papieren. Nach einer Weile strich er an seiner Stiefelsohle ein Zündholz an und entzündete eine seiner starken schwarzen Stengel.

»Sie scheinen mir nicht gratulieren zu wollen,« fing Hawk nach einer Pause wieder an; »ich finde, Sie könnten etwas freundlicher zu mir sein, wenn Sie bedenken, dass wir miteinander verwandt sein werden.«

Horace rauchte einige Minuten schweigend. Dann drehte er sich mit seinem Stuhl herum und sagte in rauhem Ton: »Sie sollten sich gratulieren, dass ich Sie nicht 'raus schmeiße.«

Danach gab es nichts mehr zu sagen; und der geschlagene Doktor bewegte sich mit einem kränklichen Lächeln, das selbstmitleidige Überlegenheit ausdrücken sollte, auf die Tür zu, stolperte über einen Spucknapf und machte sich davon.

»Tja, in puncto kaltschnäuziger Schamlosigkeit,« knurrte Horace, »schlägt er die Holländer Anspielung auf New York, wo die Niederländer ursprünglich die größte Bevölkerungsgruppe stellten.

Hawks Verhalten war ihm derart verhasst, dass er sich mit Fluchen kaum zurückhalten konnte, wenn er in Gedanken wieder darauf stieß. Aber wahrhaftig: wir sind furchtbar und wundervoll geschaffen – es kam Horace nicht in den Sinne, dass er selbst in einem ganz ähnlichen Unternehmen begriffen war.



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