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VI.
Seltsame Beichte eines Vaters.

Reverend Arthur Robbins, so schätzenswert und hilfsbereit er auch sein mochte, gehörte nicht zu der Sorte Männer, bei denen man in Stunden der Trübsal von sich aus Zuflucht suchte. Er gab zu Zeiten einen milden Seelsorger ab, aber priesterlich war er nie. Wenn sich trotz alledem Alexander Larkin nach einem Tag heftigen Kummers am Abend zum Pfarramt begab, geschah dies hauptsächlich deshalb, weil ihn ein akutes Bedürfnis nach Sympathie befallen hatte, und Mr. Robbins war als Sprecher wie als Zuhörer gleichermaßen annehmbar. Er war immer erfreut, einen zu sehen, gab einem das Gefühl, als erweise man ihm mit seinem Besuch eine Ehre, bot einem seine besten Zigarren an und segnete alles ab, was man sagte und tat, solange es nicht in offensichtlichem Widerspruch zu den zehn Geboten stand. Er vermochte sogar, wenn der Humor ihn ereilte, mit gedämpfter Stimme und feinem Sinn für ihre Verrufenheit, leicht unanständige Anekdoten zu erzählen, wobei er etwas ängstlich zur Tür schaute, die sein Arbeitszimmer vom jungfräulichen Gemach seiner Töchter trennte. Es gab da jene Geschichte von dem Geistlichen, der bei der Bestattung eines Junggesellen für die bekümmerten Kinder betete, und ein halbes Dutzend weitere desselben Kalibers. Geistliche und Diakone waren ausnahmslos deren Helden.

Diese sanft tröstende Unterhaltung war es, derer Aleck bedurfte, um die Wunden zu heilen, die seines Bruders gnadenlose Worte ihm geschlagen hatten. Seit seiner Rückkehr von den Wahlen hatte er den Vormittag in seinem Zimmer verbracht und sich mit Zweifeln und Selbstbetrachtung gemartert. Er hatte eine Entdeckungsreise in die unbetretenen Regionen seines Herzens unternommen und war über das, was er gesehen hatte, sehr bestürzt. Ohne Mr. Robbins zum unmittelbaren Mitwisser machen zu wollen, hätte er jetzt gerne gehört, dass seine schmachvollen Schlussfolgerungen alle verfehlt seien, dass er in Wirklichkeit ein guter, schätzenswerter Bursche sei.

Der Geistliche hatte gerade eilig seinen Morgenmantel abgestreift und richtete den Kragen seiner Jacke, als sein Besucher ins Arbeitszimmer geführt wurde.

»Ah, mein lieber Mr. Larkin, ich freue mich, Sie zu sehen,« sagte er, eine weiche, warme Hand Aleck entgegen streckend; »setzen Sie sich doch – hier, dieser Sessel ist bequemer – und welche Sorte Zigarren kann ich Ihnen anbieten? Mild, medium oder stark? hier, treffen Sie Ihre Wahl. Wenn Sie mir einen Rat gestatten: ich empfehle diese Almansor; sie haben den echten Geschmack, der die Seele erfreut.«

Es gehörte zu Mr. Robbins Gewohnheiten, jemanden, den er mochte, gleichsam im Sturm zu nehmen – ihn mit Herzlichkeit zu überschütten, während er in demselben Grade die Fähigkeit besaß, jenen, die er nicht leiden konnte, Kälte bis ins Knochenmark einzuflößen.

Als Geistlicher einer kleinen Landstadt hätte er natürlich letzterem Luxus nicht frönen können, falls er finanziell von seiner Gemeinde abhängig gewesen wäre. Es verhielt sich jedoch so, dass Mr. Robbins in seinen unreifen Tagen eine reiche, aber außergewöhnlich häusliche Frau geheiratet hatte, die, nachdem sie ihm fünf Töchter geschenkt – vier von ihnen hatten ihr fehlendes Kinn geerbt –, sich in jenes Reich begeben hatte, wo ein fehlendes Kinn mit Glückseligkeit nicht unvereinbar ist. Während ihrer irdischen Laufbahn allerdings hatten eine ausschweifende Nase und der oben erwähnte Mangel ihr Leben zum Martyrium gemacht. Sie gierte in hoffnungsloser, doch unermüdlicher Leidenschaft nach der Bewunderung ihres Ehemannes, wusste aber, obwohl er es zu verbergen suchte, dass er ihren Anblick nicht leiden konnte. Er war eine Art Epikuräer mit schöngeistigen Vorlieben und neigte zu luxuriösen Gewohnheiten. Derselbe Instinkt, der ihn veranlasst hatte, sie zu umwerben, hinderte ihn daran, sie zu lieben.

Die in rascher Folge sich einstellenden Geburten von vier Töchtern, die man ihren Profilen nach in die Klasse der Nagetiere hätte einordnen können, wurde von ihrem Vater als kasteiende Strafe hingenommen, beziehungsweise als Mahnung der Vorsehung, dass die unwürdigen Motive seiner Eheschließung noch unvergessen seien. Als aber Nr. 5 kam und sich ihr Gesicht als gut geschnitten und wohl proportioniert erwies, vergab er ihr ihr Geschlecht und schloss sie in sein Herz. Obwohl seine mutmaßlichen Differenzen mit dem Himmel ihn nie sonderlich bekümmert hatten, erschien die Aussöhnung mit ihm, die sich in den Zügen dieses Kindes ausdrückte, als ein großartiges, bedeutsames Ereignis, das es zu feiern galt.

Nachdem er verschiedene Möglichkeiten, es zu begehen, erwogen hatte, ließ sich Mr. Robbins aus New York eine Kiste feinen alten Madeiras und ein Dutzend Schachteln Almansor-Zigarren schicken. Er verwahrte diese Schätze strengstens nur zum Eigengebrauch, weil er wusste, dass es in Torryville weder Gaumen noch Nüstern gab, die sie zu würdigen gewusst hätten. Bei Aleck machte er eine Ausnahme, zuerst weil er ihn mochte, und zweitens, weil er insgeheim vorhatte, ihn zu seinem Schwiegersohn zu machen, und zum dritten, weil sein Gesicht und seine Sprache ihm zeigten, dass er ein Mensch von feineren Sinnen war.

Die unübersehbare Bevorzugung seiner hübschen Tochter auf Kosten seiner unattraktiven verursachte in seiner Gemeinde einiges Gerede, und mehr als nur eine der Schwestern hatte versucht, ihm einen Fingerzeig in Bezug auf die Missbilligung zu geben, mit der sein unväterliches Benehmen betrachtet wurde.

Hier aber offenbarte sich der Vorteil eines wohlgefüllten Bankkontos. Mit dessen moralischer Unterstützung stumpfte Mr. Robbins' Verständnis ab, er wurde eiskalt und geradezu unangenehm höflich; so wurde es seinen Tadlerinnen unbehaglich, und sie wünschten sich jenseits der Tür.

Wenn bisweilen unzufriedenes Murren in seiner Kirche herrschte, verfolgte er um so strikter seinen Weg und ließ sich nicht irritieren. Wäre er arm gewesen, wären ihm natürlich Vorhaltungen gemacht worden, und man hätte ihn vielleicht sogar aufgefordert abzutreten. Aber ein Pastor, der selbst der eigenen Kirche Geld spendete, konnte nicht so kurzer Hand abgetan werden; und wenn man alles bedachte, war er doch ein ein guter und beredter Mann, vielleicht nicht ganz ohne Tadel im Hinblick auf jenseitigen Lohn, aber sonst sehr annehmbar.

Seine Predigten hatten zeitweise ebenfalls eine gefährliche Laschheit in sonstigen Glaubensätzen bezeigt, und monatelang schien er Sonntag für Sonntag immer weiter zu allen möglichen modernen Ketzereien und ›liberalen‹ Interpretationen abzutreiben. Aber gerade wenn er an dem Punkt war, den verhängnisvollen Kopfsprung zu tun, bremste er plötzlich ab, so wie man ein durchgegangenes Pferd anhält, und kehrte am folgenden Sonntag zum blauäugigsten, wildesten Calvinismus zurück. Die Flammen des Höllenfeuers loderten mit ihren Schwefeldünsten durch diese Reden, und die »alten Leute« waren beruhigt.

In Wirklichkeit brachte bloß die Angst vor den Folgen, auf die es ihn zugetrieben hatte, Mr. Robbins zum Einhalt in jener schwungvollen Manier. Als seine Furcht sich gelegt hatte, ließ er sich erneut treiben und predigte über sieben geologische Perioden, die offensichtlich die sieben Schöpfungstage bedeuten sollten, und verwickelte sich in alle möglichen zwecklosen Scharfsinnigkeiten, um zu beweisen, dass die Bibel alle wissenschaftlichen Entdeckungen vorweg genommen habe. Seit dem Tod seiner Gattin vor neun Jahren warf man ihm häufiger seinen ›Liberalismus‹ vor, vielleicht weil er, nachdem ihre unheimliche Anwesenheit ihn zuvor seinem Leben entfremdet hatte, er nun ein größeres Vertrauen in das grundsätzliche Wohlwollen der Vorsehung setzte.

Mit dem Hochschulgründer stand er im Ganzen auf gutem Fuß; er hielt ihn für eine ziemlich verdienstvolle Persönlichkeit und fraglos – bezogen auf Männer seines Schlages – moralisch wie intellektuell für überdurchschnittlich.

Sogar seine vier ›Nagetiere‹ waren ihm nicht mehr der Kummer von einst; er war jetzt ohne große Anstrengung in der Lage, sie freundlich zu behandeln. Sie nahmen augenscheinlich ihr Schicksal stoisch als in der unergründlichen Natur der Dinge liegend hin, betrachteten ihren Vater mit Respekt aus ihren Knopfaugen und erregten ihm zeitweise das bange Gefühl, dass alle möglichen eigenartigen Dinge im Innern dieser Köpfe vor sich gingen, von denen er nicht den Schimmer eines Begriffs hatte. Die Wachsamkeit ihrer schwarzen, sich nie fluchtartig abwendenden Augen, ihre wunderlichen stummen Unterredungen, wenn sie mit ihm zu Tisch saßen, und ihr rätselhaftes unterdrücktes Gekicher, wenn nichts geschehen war, das jemand anderem lächerlich erschien, bestärkte ihn im Eindruck ihrer Fremdartigkeit – als seien sie eher Gäste in seinem Haus als seine eigenen Kinder.

   

»Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer,« sagte Alexander, als er sich bequem in seinem Lehnstuhl zurück setzte, »aber sind nicht diese Cigarren hier ziemlich ungewöhnlich für einen Geistlichen?«

»Sie wollen damit sagen,« erwiderte sein Gastgeber, »dass ein Geistlicher nur zur Abtötung seines Fleisches rauchen sollte?«

»Oh, ich will damit keine Meinung zum Ausdruck bringen, was ein Geistlicher tun oder lassen sollte,« versetzte der junge Mann; »und auf jeden Fall sind die Zeiten, wo Ketzer verbrannt werden, vorbei.«

»Ja; nun rauchen sie, anstatt selbst zu brennen. Aber ich hoffe, Sie wollen damit nicht sagen, dass Sie mich für einen Ketzer halten?«

»Nein; mir ist klar, dass dies eine Ihrer orthodoxen Wochen ist.«

»Pst, mein lieber Junge, was sagen Sie da?«

»Oh, ich will Sie nicht zur Rede stellen. Ich mag Ihre ketzerischen Predigten lieber als die orthodoxen.«

Robbins lachte leise, als er sichtlich genussvoll den Zigarrenrauch zur großen Tischlampe hin ausblies.

»Sie sind ein Schlitzohr,« sagte er, »aber ich ich gebe zu, es liegt ein Körnchen Wahrheit in ihrer Anspielung. In der Tat zeigen sich die alten Leute in der Kirche gelegentlich aufgeschreckt von meinen fortschrittlichen Ansichten, und ich bin dann hin und wieder verpflichtet, sie im Hinblick auf meine Rechtgläubigkeit ruhig zu stellen.«

Aleck verlangte nicht danach, das Thema weiter zu bemühen, weil er heikle Untiefen in ihm vermutete.

»Mr. Robbins,« begann er nach einer Pause, »ich bin gekommen, um Sie um einen Gefallen zu bitten.«

»Mein lieber Junge, es wird mir eine Freude sein, wenn ich Ihnen einen Dienst erweisen kann.«

»Ich möchte, dass Sie mir meine Selbstachtung stärken. Ich bin in einer unbehaglich demütigen Stimmung.«

»Was ist geschehen?«

»Ich habe mich selbst zum Narren gemacht, das ist alles.«

»Wie das?«

Aleck erzählte ihm die Geschichte seiner Bemühungen zur Wiederwahl von Richter Wolf und die entmutigenden Kommentare seines Bruders.

»Ich kann nur erkennen, dass Sie genau das Richtige getan haben,« sagte Mr. Robbins, als Aleck fertig war; »Sie haben versucht, einen würdigen, aufrechten Mann davor zu bewahren, dass er für seine Aufrichtigkeit bestraft wird, und ob Sie Erfolg hatten oder nicht: Sie verdienen Anerkennung, sich darum bemüht zu haben. Wenn wir unseres Bestes gegeben haben, können wir das Ergebnis nur der Vorsehung überlassen.«

»Ah, nein, Mr. Robbins! Wer überlässt jemals etwas dieser Art der Vorsehung, ohne sich selbst aufzugeben? Die Vorsehung steht in der Politik auf der Seite der schlauesten Intriganten, oder wie Napoleon sagte: ›auf der Seite der schwersten Geschütze‹.«

»Der Sieg des Bösen ist in sich selbst eine Strafe,« sagte der Pastor mit professioneller Lehrhaftigkeit.

»Dann würde es mir nichts ausmachen, auf diese Art bestraft zu werden. Ich dürste nach Erfolg – in irgend etwas. Ich habe kein Talent dazu, im Dunkel zu bleiben. Sie haben mir so lange Rechtschaffenheit gepredigt, dass ich allmählich anfange, gegen die ihr innewohnenden Begrenzungen zu rebellieren. War es nicht Christus selbst, der uns gesagt hat, wir sollten mit dem ›ungerechten Mammon‹ Freundschaft schließen? Lukas 16, 9; Gleichnis vom ungerechten Hauswalter. – Die Stuttgarter Erklärungsbibel (2. Auflage 1992) gibt folgende Deutung: »Der Verwalter ist auch in den Augen Jesu ein Betrüger. Durch das klare Erkennen der eigenen Situation und das daraus folgende Handeln wird er jedoch zum Vorbild. Das Lob des Verhaltens des Verwalters erfolgt um dieser Eigenschaften willen. Im Schlusssatz kommt der Wunsch Jesu zum Ausdruck, dass auch seine Anhänger die Situation so klar erkennen und entsprechend handeln. Das Gleichnis fordert gerade durch seinen provozierenden Inhalt zur Umkehr angesichts der kommenden Gottesherrschaft auf. Die Aufforderung an die Zuhörer wird im folgenden Vers konkretisiert (›Und ich sage euch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit, wenn er zu Ende geht, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.‹ Lk 16, 9). Der eigene Besitz soll an die Armen verteilt werden, um sich so bei ihnen, die als erste Teilhabe am Reich Gottes haben sollen (vgl. Lk 16, 9), Freunde zu schaffen.««

Ein jäh erzitternder Seelenschrei äußerte sich in diesen verwegenen Worten, die ihren Eindruck auf den Geistlichen nicht verfehlten. Er legte seine Zigarre weg, lehnte sich vor und sah mit Sympathie auf seinen jungen Freund.

»Alexander,« sagte er, »ich habe bis jetzt nicht gewusst, dass Sie es ernst meinen.«

»Ich kannte mich kaum selbst, Mr. Robbins, aber ich bin wirklich ziemlich bekümmert. Ich fühle mich verwundet und zutiefst erniedrigt. Ich habe versucht, konsequent zu leben – in Übereinstimmung mit meinen Überzeugungen – und das einzige, was dabei heraus kommt, ist, dass ich alles hoffnungslos vermassle und gar nichts erreiche. Und wenn ich mich über meine eigene Unbeständigkeit und Unfähigkeit ärgere, kommt auch noch Horace und erzählt mir mit schneidendem Sarkasmus, was ich selbst fürchtete, aber mir nicht zu sagen wagte. Und das alles reißt mich auseinander und macht mich fertig.«

Der heftige jugendliche Schmerz, der sich in unbewusstem emotionalen Schwelgen äußerte, sprach des Pastors Zartgefühl an und machte ihn für einen Moment sogar beinahe neidisch. Es hatte eine Zeit gegeben, als er auch so empfunden hatte – ach, wie lange war das her! Er warf einen Blick in den Spiegel auf sein eisengraues Haar und seufzte. Welch fein gestimmtes Instrument die menschliche Seele doch sein musste, um von solchen Sehnsüchten durchbebt zu werden! Er dürstete nach Erfolg – er hatte kein Talent für die Dunkelheit!

Der Pastor lächelte. Er erinnerte sich der Tage, da auch er unter einem ähnlichen Widerwillen gelitten hatte. Als ihm aber der rechte Weg zu hohem Ansehen als zu mühselig erschien, war er zur Abkürzung eine Geldheirat eingegangen, um es zu erreichen. Und wie die meisten Abkürzungen zum Ruhm hatte das in eine ganz andere Richtung geführt. Er war so angetan von diesem jungen Mann, dass er ihn möglichst von ähnlichen Irrtümern bewahren wollte.

»Wenn meine Macht Ihnen zu helfen so groß wäre wie ich wünschte,« sagte er, »würde ich Sie auf keinen Fall ungetröstet ziehen lassen. Aber es sieht so aus, als ob ein gewisses Herumstümpern, Umherstolpern und Verpfuschen in der Jugend nicht nur unvermeidlich, sondern in gewissen Grenzen sogar eine absolute Gnade wäre. Ein junger Mann ohne Fehler ist entweder ein selbstgerechter Pedant oder ein Dummkopf. Ein Jüngling, der in der reichlichen Unruhe seines Blutes Fehler begeht und sie wieder bereut, ist mir viel sympathischer. In ihm gibt es Wachstum, das dem anderen fehlt. Niemand wird im Licht geboren. Nur durch das Zwielicht können wir unseren Weg zur Klarheit ertasten. Nur durch Zweifel können wir Gewissheit erreichen. Das Licht wird, so weit es das einzelne Individuum betrifft, nie als eine kostenlose Gabe von oben kommen: es muss erkämpft werden, und man muss darum beten. Eine Gewissheit, die niemals Zweifel gekannt hat, ist wertlos, wie eine Festung, die nie einer feindlichen Belagerung ausgesetzt war. Stärke, die nicht aus dem Kampf hervorgeht, ist ohne Kraft und nichts als anmaßende Schwäche. Es ist unvermeidlich, dass Sie jetzt ihre Schlachten schlagen und Niederlagen einstecken, wenn Ihr Mannesalter das Versprechen Ihrer Jugend einlösen soll; und sogar wenn Ihre Pläne scheitern, wird Ihnen das für die Lebenspraxis Gewinn abwerfen.«

»Ah, aber, lieber Mr. Robbins,« rief Aleck leidenschaftlich, »das ist es ja gerade, was mich schmerzt: Die Lektion, dass diese Erfahrungen mich belehren, steht ganz im Widerspruch zu dem, was Sie mich früher gelehrt haben. Das heißt, dass man, um Erfolg zu haben, seine Überzeugungen aufgeben muss, dass man seinen Idealen untreu wird und dass man am Montag ein ganzes anderes Sittengesetz befolgt als das am Sonntag beschworene. Wo jetzt das Problem klar ist: was soll man wählen – was würden Sie tun? Den Erfolg aufgeben oder die Überzeugungen fahren lassen?«

»Aber ich kann nicht zugeben, dass eine solche Alternative, außer in sehr seltenen Fällen, wirklich unumgänglich ist; und dann können Sie nicht bezweifeln, was ich Ihnen raten würde.«

»Wenn Sie entschuldigen: das zeigt nur, dass Ihre eigenen Erfahrungen begrenzt sind. Sie schauen von diesem friedvollen Arbeitszimmer hinab auf den schmalen Strom des Leben, der bei Ihnen vorbei fließt. Und daraus leiten Sie Ihr Urteil ab. Das ist, glaube ich, der Nachteil bei Geistlichen: Sie müssen Menschen durch Gewässer lotsen, mit denen sie nur unvollkommen vertraut sind. Sie wissen zwar, wohin es gehen soll, aber sie haben keine verlässliche Karte, nach der sie den Kurs steuern könnten. Das Licht an ihrem Mast strahlt mehr nach hinten als nach vorne und beleuchtet die unbekannten Gewässer vor dem Bug nur schwach.«

Es war spät geworden, während der Pastor und sein Freund diese ernsten Probleme besprochen hatten, und Aleck war bei seiner Anklage gegen die Geistlichkeit durch den Eintritt eines Zimmermädchens unterbrochen worden, das ein Bündel Briefe und Zeitungen auf den Tisch legte. Zur selben Zeit erklang die Türglocke; das Mädchen verschwand und kündigte bei ihrer Rückkehr Mr. Horace Larkin an. Mr. Robbins, keineswegs angenehm überrascht, zwang dennoch seine Züge zu einem konventionellen Lächeln und drückte Horace' Hand mit gebührender Herzlichkeit.

»Ich bin sehr glücklich, Sie zu sehen, Mr. Larkin,« sagte er, »wollen Sie bitte Platz nehmen.«

»Ich bin eigentlich gekommen, um meinen Bruder zu treffen, Mr. Robbins,« antwortete Horace ohne höfliche Umschweife; »man sagte mir, er sei hier. Ich hab' ihn heute morgen so rauh angefahren, dass es nur anständig ist, wenn ich ihm als erster sage, dass sein Mann ohne Zweifel gewählt worden ist. Es sind zwar noch nicht alle Stimmen abgegeben, aber trotz einiger Schrammen ist er auf dem besten Weg, das Rennen zu machen.«

»Na also,« rief der Pfarrer erfreut; »hab ich's nicht gesagt? Die Gerechtigkeit hat triumphiert.«

»Nein,« versetzte Aleck trostlos, »gewiefte Einschüchterung und kostenlose Buggyfahrten haben triumphiert. Horace ist der Sieger, nicht ich.«

»Nun, wie auch immer: ich gedenke diesen Sieg zu feiern,« sagte Robbins und zog ein Schlüsselbund aus seiner Tasche; »ich habe alten 58er Madeira, der gut gegen Trübsal ist. Sie wissen ja, es ist nicht recht, neuen Wein in alte Fässer wie Sie und mich zu füllen, Mr. Larkin,« fuhr er an Horace gewandt fort. »Sie wissen, was die Heilige Schrift dazu sagt?« Anspielung auf das Gleichnis vom alten Wein in neuen Schläuchen (Matthäus 9,14-17, Markus 2,21-22, und Lukas 5,33–39): »Auch füllt man nicht neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißen die Schläuche, und der Wein wird verschüttet, und die Schläuche verderben; sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche, und beide bleiben zusammen erhalten.« (Matthäus 9,17). Horace kann natürlich im Folgenden einer respektlosen Travestie nicht widerstehen.

»Oh, ja,« erwiderte letzterer prompt. »Es ist unbillig, neuen Wein in alte Fässer zu füllen, damit – damit sie nicht explodieren und einen in Stücke reißen.«

Der Pfarrer lachte gedämpft und schuldbewusst, schaute aber im nächsten Augenblick seine Besucher in mildem Tadel an, während in seiner Miene noch ein vergnügter Funke glomm. Er öffnete einen kleinen, reichgeschnitzten Teakholzschrank, der an der Wand über den niedrigen Buchregalen hing, und brachte drei elegante Weingläser und eine gelb versiegelte Flasche zum Vorschein, deren Staub sorgfältig bewahrt worden war.

Während er den Korken zog, erzählte er den alten Scherz jener zehn Bischöfe, die bei einer gesellschaftlichen Zusammenkunft in einen Disput über eine Bibelstelle gerieten; aber keiner von ihnen hatte ein Neues Testament oder ein Gebetbuch zur Hand, um den Wortlaut zu überprüfen. Als jedoch zufällig um einen Korkenzieher gebeten wurde, griff jeder der zwanzig in seine Tasche und holte das verlangte Gerät hervor.

»Sie würden das nicht für einen Kandidaten der Prohibitionsliste tun, Herr Pfarrer,« sagte Horace, als er ohne sichtliche Regung die kostbare Flüssigkeit hinabstürzte.

Mr. Robbins zuckte ob solcher Barbarei ordentlich zusammen und dachte: »Beim nächsten Mal werde ich keine Perlen mehr vor die Säue werfen.«

»Nein, Mr. Larkin,« sagte er laut; »ich billige guten Wein und lehne schlechten ab.«

»Ist das nicht ein ziemlich heidnisches Bekenntnis für einen Geistlichen?« erkundigte sich Horace scherzhaft.

Den Pastor zwickte diese Bemerkung ein wenig, aber er unterdrückte seine Verärgerung und antwortete sachlich:

»Das Leben muss für mich einen gewissen Glanz haben, sonst ist es dessen nicht wert. Man kann nicht für alle Menschen dieselben Maßstäbe geltend machen. Muffige evangelische Armut wäre nichts für mich; ich würde in Hoffnungslosigkeit und Lethargie versinken. Ich wäre nicht mehr von Nutzen, weil ich meine Selbstachtung verlieren würde.«

Horace war glücklicherweise der Notwendigkeit einer Antwort enthoben, da sich die Tür öffnete und ein pikanter blonder Kopf zwischen den Falten des schweren, kastanienbraunen Vorhangs erschien.

»Was für ein grässlicher Haufen ihr seid!« sagte der blonde Kopf, als er mit hübschem Schmollen jedem der Besucher zunickte; »hier sitzt ihr und lasst es euch gut gehen, während ich vor Einsamkeit umkomme.«

»Komm 'rein, Liebling, komm 'rein, wenn du den Zigarrenrauch aushältst,« sagte Mr. Robbins und streckte seine Arme nach seiner Lieblingstochter aus. Er hatte vielleicht einen Verdacht, wessen Stimme ihr das Alleinsein unerträglich gemacht hatte; aber sein nachgiebiges Herz war unfähig, ihr ein Vergnügen zu versagen.

»Oh, der Rauch macht mir nichts aus,« stieß das Mädchen hervor, tänzelte leichtfüßig über den Teppich und setzte sich auf ein Fußbänkchen zu seiten ihres Vaters.

»Haben Sie bei Papa die Beichte abgelegt, Mr. Larkin?« sagte sie, mit durchsichtiger List ihr schmachtendes Gesicht zu Horace erhebend, denn sie wusste sehr wohl, dass er eben gerade erst angekommen war.

»Nein, er hat mir gebeichtet,« erwiderte er, »dass nämlich heidnischer Luxus ihm mehr zusagt als evangelische Armut.«

»Das hat er gebeichtet? Oh, dann hatten Sie mehr Erfolg, sein Vertrauen zu gewinnen, als ich. Ich habe ihn immer wegen dieser Sache angeklagt, ihn aber nie dazu bringen können, es einzugestehen.«

»Das liegt daran, dass er fürchtete, Sie würden ihm eine zu heftige Buße aufbrummen – in Form von Hüten und Sachen,« antwortete Horace.

»Hüte und Sachen! Sie sind doch schrecklich! Sie glauben anscheinend, dass Mädchen an nichts anderes denken als Hüte und Sachen!«

»Vielleicht nicht. Aber dann wissen Sie, dass Sachen alles mögliche umfassen kann. Es könnte Flirts, Heirat, Romane und Moralphilosophie enthalten. Oder was meinen Sie, Mr. Robbins? Sind Sie für die höhere Bildung der Frau mit Griechisch, Astronomie und deutscher Philosophie? Mögen Sie sie hochfliegend oder – oder …«

»Warum sagen Sie nicht langweilig?« Das reimende Wortspiel » soaring« – » boring« ist leider unübertragbar.

»Also gut,« warf Arabella ein, »langweilig, wenn du willst.«

»Oh, ich bin altmodisch,« gab Mr. Robbins lustlos zurück; »und halte nichts davon, bei irgend 'was zu weit zu gehen. Aber wenn man Mädchen-Erziehung so einrichten könnte, dass sie die Gedanken von Frauen erhöbe – etwas, das jenseits von Rüschen und anderen Belanglosigkeiten läge …«

»Ach, Papa, was sagst du da?« unterbrach seine Tochter. »Begreifst Du nicht, dass Du auf meiner Seite stehen musst, gegen Mr. Larkin …«

»Oh, muss ich das? Na, dann also – ich glaube – ich glaube an … woran auch immer meine Tochter glaubt – was es auch sei.«

»Das ist ja noch schlimmer! Wissen Sie, meine Herren, was ich tun würde, wenn ich klug genug wäre? Ich habe oft daran gedacht, hatte aber irgendwie nie den Mut, damit anzufangen. Ich wollte ein Stück schreiben, das diese Fragen, über die heute niemand schreibt, aus der Sicht von Frauen betrachtet. Ich möchte ein junges Ehepaar hineinbringen, das sich sehr lieb hat …«

»Oh, das würde niemals klappen. Das wäre zu spektakulär,« sagte Horace.

»Also, Mr. Larkin, ich wünschte, Sie würden sich einfach 'mal benehmen,« protestierte Arabella in quengelndem Staccato, das mehr Koketterie als Zurechtweisung enthielt. Das verwöhnte Kind war in all ihren Posen sichtbar und ebenso hörbar in ihren Tonlagen, die sie sprunghaft wie bei einer appoggiatura Langer Vorschlag, der Hauptnote zur Verzierung vorausgeschickter Nebenton.in der Musik wechselte.

»Nun, so nehmen wir 'mal der Diskussion halber an, sie hätten einander sehr lieb,« sagte Horace lachend. »Was täten sie sonst noch?«

»Nichts.«

»Aber es muss sie außer der Liebe doch noch 'was andres beschäftigen?«

»Nein, sonst nichts.«

Sie war nun tatsächlich schon ziemlich beleidigt, saß ohne aufzuschauen da und spielte mit ihres Vaters Fingern, die auf der Lehne des mit Leder überzogenen Sessels ruhten.

»Dann würden sie nicht viel aus ihrem Leben gemacht haben,« bemerkte Horace trocken; »denn Liebe allein, es sei denn, man liebt einen reichen Erben, hat noch nie Gewinn abgeworfen.«

»Passen Sie auf, Sir,« rief Mädchen, während ein Lächeln ihre Verärgerung überwand; »ich werde meine Gedanken nicht mehr an Sie verschwenden. Ich werde mit Ihrem Bruder reden. Er ist bedeutend liebenswürdiger.«

Sie erhob sich von ihrem Fußbänkchen, stolzierte in Alecks Richtung und setzte sich mit ostentativer Freundlichkeit in einen Sessel, den sie nahe an dessen Seite geschoben hatte.

»Also, lieber Mr. Aleck,« fing sie theatralisch an und beobachtete dabei, wie ihr Manöver auf Horace wirkte, »finden Sie nicht, dass Ihr Bruder ein bisschen – schrecklich ist?«

»Ein ganz schönes Bisschen, sollte ich meinen,« erwiderte Aleck mit leichtem Lächeln.

»Darauf kannst du deine Stiefel verwetten,« flocht lachend der Gegenstand ihrer Kritik ein; »wenn ein Mädchen behauptet, ein Mann sei schrecklich, meint sie das als Kompliment. Ich stelle fest: an mir gibt es 'was, das mit Geld nicht zu bezahlen ist.«

»Was für ein glücklicher Mann müssen Sie sein, wenn Sie sich Ihrer Vorzüge so sicher sein können!« rief Bella, die trotz ihrer Ankündigung all ihre Bemerkungen an Horace richtete.

»Nun, ich kann nicht klagen; obwohl ich als Präsident der Vereinigten Staaten noch glücklicher wäre.«

»Sie sind keiner von denen, die lieber den rechten Weg gehen, als Präsident zu werden,« merkte Mr. Robbins an.

»Kaum. Es ist ganz hübsch, den rechten Weg zu gehen; aber es ist meiner Meinung nach amüsanter, Präsident zu sein.«

»Das sehe ich anders,« antwortete Aleck seinem Bruder; »du hast beides noch nicht probiert.«

Die Antwort war natürlich als Spaß gemeint, ermangelte aber des Takts und Feingefühls, was oft unbeabsichtigt verletzt. Für diese Art Scherz war die Gelegenheit schlecht gewählt, da Aleck durch Enttäuschung gekränkt und von Sorgen niedergedrückt war, die Horace' rauhere Natur nicht zu erfassen vermochte.

»Noch eine Zigarre, meine Herren?« sagte Mr. Robbins, eine wohlriechende Schachtel herumreichend, auf deren Deckel eine kubanische Señorita mit Schläfenlöckchen neckisch lächelte.

»Nein, danke,« antworteten beide und standen auf, um sich zu empfehlen.

»Ach, nur keine Eile,« protestierte der Pastor schwach; »ich wollte Sie nicht vertreiben.«

»Das tun Sie nicht. Wir entziehen uns freiwillig der Welt, dem Fleische und dem Pfarrer. Gute Nacht.«



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