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XII.
»Tomaten-Ketchup.«

Der Ehrenwerte Obed Larkin trug infolge seiner strategischen Operationen an den Ufern des Nils eine ernste Erkältung davon, die sich zu einer Lungentzündung zu entwickeln drohte. Instinktiv fühlte er, dass die Stadt über ihn lachte, und da er sich daran gewöhnt hatte, sich selbst als eine erlauchte Persönlichkeit zu betrachten, ertrug er den Gedanken nicht, seinen Namen den Lästerzungen preisgegeben zu sehen.

Er war weder auf seine Geburt noch auf sein Blut stolz, posierte aber gerne ein wenig als repräsentativer Amerikaner – als Emporkömmling, der alles seinen eigenen Fähigkeiten und Anstrengungen verdankte; und er hielt sich selbst in dieser Eigenschaft für einen eindrucksvollen, Achtung gebietenden Charakter. Seine Mitbürger hatten in ihm diese Einbildung so lange gefördert, bis sie schließlich Teil seines Wesens geworden war. Und um sich nun vor ihrer Mitverantwortung an diesem törichten Unterfangen zu drücken, machten sie ihn zu ihrem Sündenbock und lachten über ihn mit vergnügter Überheblichkeit, als ob sie den Spaß von Anfang durchschaut hätten.

Nachdem die Gefahr der Lungentzündung gebannt war, warf ein ebenfalls der unseligen Nil-Expedition geschuldeter rheumatischer Anfall Mr. Larkin wiederum für eine Woche danieder. Die Absicht, mit den Studenten abzurechnen, war zu diesem Zeitpunkt schon zu einer fixen Idee bei ihm geworden; und wie der gottesfürchtige Æneas wälzte er in seinen schlaflosen Nächten eine Menge gottloser Vorhaben in seinem Kopf. Schließlich wies er Horace an, sich von Pinkerton Die von dem Schotten Allan Pinkerton 1850 in den USA gegründete Detektiv-Agentur war die erste ihrer Art und bekannt durch aufsehenerregende Erfolge. zwei erfahrene Detektive schicken zu lassen, die als verdeckte Ermittler in der Hochschule das Vertrauen der Studenten gewinnen und Beweismittel zur Überführung der schuldigen Beteiligten beschaffen sollten. Es kostete Horace eine Woche ausgeklügelter Argumentation und Überredung, seinen Onkel zur Aufgabe dieses unwürdigen Projekts zu bringen; in späteren Jahren pflegte er zu sagen, dass er nie vor igendeinem Gerichtshof einen schwierigeren Fall zu verhandeln gehabt hätte. Dass Aleck sich den Überredungsversuchen seines Bruders anschloss, hatte bei dem alten Herrn wenig Gewicht, weil er Alecks Urteil in praktischen Dingen für zu leicht befand.

Die Hochschule hatte unterdessen mit Mr. Larkins Zustimmung die Angelegenheit aufgegriffen und ein Verfahren eröffnet, das rasch in eine ausgedehnte Posse ausartete. Zu Tage kam dabei eine Unmenge Beweismaterials, das freilich in seiner Widersprüchlichkeit aufs Höchste verblüffte und auch den scharfsinnigsten Richter der Christenheit in Verzweiflung gestürzt hätte.

Ein ländlich wirkender Student des zweiten Studienjahres, dessen Verstand ebenso borniert wie sein Vokabular begrenzt schien, bezeugte, dass er häufig Kälber getötet habe und wisse, wie es gemacht werde, bestritt jedoch, etwas vom gegenwärtigen Fall zu wissen. Als er nach seinem Ansehen und seiner Stellung in der Hochschule gefragt wurde, antwortete er, dass sein Ansehen als ›zügellos‹ gelte.

Diese Freimütigkeit frappierte natürlich den Lehrkörper, und man neigte zu dem Glauben, dass man am Ende einen der Übeltäter gefasst habe, bis Professor Wharton auf die Idee kam, den Zeugen zu fragen, was er mit dem Ausdruck »zügellos« meine. Der junge Mann antwortete, er habe sich mehr, als er hätte tun sollen, von den Zügeln langweiliger Vorlesungen und Seminare wie denen von Professor P*** und Professor N*** durch Abwesenheit befreit.

»Ich glaub', ich hab' bei Ihn' mehr geschwänzt als bei sonst jemand,« fügte er arglos hinzu, worauf zu Professor Whartons großer Verärgerung ein wahrnehmbares Gekicher durch den Saal lief.

Als dieser junge Mann entlassen war, stritt man eine Weile, ob er so unschuldig sei, wie er scheine. Etwa dreißig weitere Zeugen wurden aufgerufen und streng verhört; doch bald wurde klar, dass sie sich verschworen hatten, ihre Ankläger zum Narren zu halten; und da diese keinerlei juristische Vollmacht besaßen und nicht ›wegen Geringschätzung‹ irgend eine Strafe verhängen konnten, waren sie nicht in der Lage zu verhindern, dass die Studenten gut davon kamen. Einige der Professoren, die mit mehr Eifer als Humor begabt waren, tappten genau in die Fallen, die man ihnen aufgestellt hatte, gerieten dann außer sich und gaben Anlass zu höchst lächerlichen Vorgängen.

Das Einzige, was durch dieses Tribunal festgestellt wurde, war die Tatsache, dass sechs Studenten, deren Namen ermittelt waren, sich am Abend vor dem vorzeitigen Ableben des Kalbes im sogenannten ›Bayerhof‹ getroffen hatten, einem Abstinenzler-Restaurant, das von einem dicken Deutschen namens Schnabel geführt wurde. Dieser Schnabel, der früher eine Bierkneipe unterhalten hatte, war ein Dorn im Fleisch der guten Abstinenzler der Stadt, weil auf ihn ein starker Verdacht fiel, dass er durch Verletzung der Steuergesetze reich geworden sei. Obwohl die Stadt bei der letzten Wahl gegen den Alkoholausschank (»Keine Lizenz!«) gestimmt hatte, stellte dieser schamlose Ausländer dem Angesicht einer aufgebrachten Gemeinde immer noch einen lustigen, auf einem Bierfass reitenden Gambrinus Ein legendärer König, der seit dem 16. Jh. als Erfinder des Bierbrauens (nicht als dessen Schutzheiliger) angesehen wurde. zur Schau. Dass Studenten diesen Ort zu nächtlichen Stunden besuchten, um sich mit Kaffee und Limonade zu versorgen, erschien etwas unglaubwürdig, obwohl Schnabel selbst mit sachlicher Miene behauptete, dies sei der Fall.

»De junge Leut', die sitze' in d'r Nacht und läse für's Egsame; un' da wer'n se hungrig – die arme' Kerl' – da komme' se ze mir un' sage': ›Mischter Schnabel, gib uns an Frankfurter Würscht'l mit Kaffee un' an Schweizerkas un' a Bretz'l.‹ Un' mei' Frau un' ich, wir müsse' dann 'nuff us'm warme' Bette un' Frankfurter Würscht'l brate' für die arme' Jungs, wenn die Nas' von dene' ihre Wirtinne' auf'm Kisse' schnarche'. Dene' ihre Wirtinne' wer'n nich' uffsteh'n un' die Jungs in d'r Nacht 'was ze Esse' gebbe, wenn die für's Egsame' schtudiere'.«

Die Ausrede, hungrigen Nachteulen ein Werk der Barmherzigkeit zu tun, hätte als hinreichend akzeptiert werden können, wäre die Kundschaft des Bayerhofs dessen würdig gewesen. Doch verdankten bekanntermaßen die jungen Herren, die Schnabel und sein Gespons aus ihrem Schlummer rissen, ihren Ruf nicht dem ruhmvollen Streben in der Gelehrsamkeit. Als demzufolge sicher gestellt war, dass sechs studentische Krakeeler sich in der Nacht von Washingtons Geburtstag in dieser Kneipe getroffen hatten, wandte sich der tugendsame Zorn der Stadt mit einem Mal von den Kalbsmördern ab und gegen Carl Schnabel, der sie, indem er ihnen Schnaps verkaufte, zu Missetaten erst angestiftet hätte.

Nach Beratungen mit Mr. Larkin riefen die Professoren Wharton und Dowd den Polizeirichter an und erreichten durch eidesstattliche Erklärung einen Haftbefehl gegen Schnabel. Das für den folgenden Tag angesetzte Tribunal war der bestimmende Gesprächsgegenstand in der Stadt und in den Hochschulkreisen. Mr. Schnabel machte einen, wenngleich aussichtslosen, Versuch, sich Horace Larkin als Verteidiger zu sichern, und musste schließlich um einen Rechtsvertreter aus Rochester telegraphieren, weil alle örtlichen Anwälte jeglichen Standes es im Hinblick auf seine Unbeliebtheit ablehnten, ihn zu verteidigen. Der Rechtsanwalt aus Rochester traf umgehend ein und beeilte sich, die Studenten zu befragen, von wessen Zeugenaussage der Fall abhänge.

Der Gerichtssaal war voll von Leuten, als Mr. Schnabel zur Aussage nach vorn gebracht wurde. Er erklärte sich natürlich für »nicht schuldig«; aber seine Augen sahen mit bekümmertem Blick auf die langen Reihen von Studenten, die von der Anklage als Zeugen gegen ihn vorgeladen waren.

Der erste von ihnen, der in den Zeugenstand gerufen wurde, befreite sich gleichwohl von seiner Angst und schwor, dass er, soweit er wisse, niemals Lagerbier in Schnabels Abstinenzler-Restaurant getrunken habe.

»Haben Sie dort irgend etwas getrunken?« fragte der Richter.

»Ja.«

»Was war das?«

»Ich bin nicht sicher.«

»Was haben Sie bestellt?« fragte der Richter geduldig.

»Tomaten-Ketchup.«

»Und bekamen Sie Tomaten-Ketchup?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wie können Sie das nicht wissen?«

»Ich könnte nicht beschwören, dass es Tomaten-Ketchup war. Ich bin kein Fachmann für Tomaten-Ketchup.«

»Sind Sie sicher, dass es nicht Bier war, was Sie tranken?«

»Nein.«

»Sie sind nicht sicher?«

»Nein. Ich bin kein Fachmann für Bier.«

»Kein Fachmann für Bier, hm! Sah es aus wie Bier?«

»Das könnte ich nicht sagen.«

»Ist es Ihre Gewohnheit, Tomaten-Ketchup zu trinken?«

»Nun, seit die Stadt für ›Keine Lizenz!‹ gestimmt hat, bin ich verpflichtet zu trinken, was ich kriegen kann.«

»Warum trinken Sie dann nicht Wasser?«

»Das bekommt mir nicht. Außerdem habe ich gehört, dass das Wasser in dieser Stadt schlecht sei.«

»Sind Sie gewillt zu beschwören, dass Sie niemals Bier in Schnabels Restaurant tranken?«

»Nein.«

»Sie sind nicht gewillt, das zu beschwören? Dann müssen gewillt sein zu beschwören, dass Sie dort Bier getrunken haben?«

»Nein.«

»Aber Sie behaupten nicht allen Ernstes, dass Sie Tomaten-Ketchup getrunken haben?«

»Ich habe Tomaten-Ketchup bestellt.«

Ein Zeuge nach dem anderen wurde nun aufgerufen und machte eine ähnliche Zeugenaussage. Einer erklärte, er habe nie etwas anderes bestellt als Oolong-Tee; und wenn er gefragt wurde, ob das, was er bekommen habe, wie Oolong-Tee geschmeckt habe, versicherte er, er sei kein Tee-Experte. Ein anderer hatte eine Dauerbestellung für »Mokka«, wann immer er kam, und ein dritter wurde stets mit »Java« bedient. Alle hatten einen solch' abgründigen Respekt vor der Heiligkeit des Schwurs, dass sie nicht Willens waren zu beschwören, dass das Erhaltene Bier gewesen sei oder nicht; sie hätten Bier nie hinreichenden Studien unterzogen, die sie zu einer Beurteilung berechtigten.

Die äußerst albernen Antworten wurden mit unerschütterlichem Ernst verabfolgt und von der Zuhörerschaft mit unkontrollierbaren Lachsalven begrüßt. Der Richter schlug vergeblich mit seinem Hammer auf den Tisch ein und drohte, den Saal räumen zu lassen, falls jemand wage, Demonstrationen zu veranstalten, die sich nicht mit der Würde eines Gerichtssaals vertrügen. Nichtsdestoweniger führte er seine Drohung nicht aus, wenn die nächste drollige Antwort einen weiteren Heiterkeitsausbruch verursachte. Er hatte rasch begriffen, dass die Stimmung der Menge sich zu Gunsten der jungen Männer gewendet hatte, und die Strenge seine Gesichtsausdrucks ließ nach. Er bezweifelte nicht, dass sie formell die Wahrheit sprachen. Jeder von Ihnen hatte sich offenbar mit Schnabel auf einen Decknamen für Bier geeinigt, der eine auf Tomaten-Ketchup, der andere auf Oolong und ein dritter auf Mokka. Die Pfiffigkeit dieses Tricks machte augenscheinlich Eindruck auf die Menge; und der Richter, der als Privatmann einen Scherz ebenso zu schätzen wusste wie jeder andere, brachte es nicht übers Herz, streng gegen sie zu sein. Er wies daher den Fall wegen Mangels an Beweisen ab, und Schnabel nahm mit einem schlauen Zwinkern seine Aktivität als Apostel der Abstinenz wieder auf.



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